Sie nannten ihn «Papst»: Das ist der Mann, der die Churer Bischofswahl platzen liess

Martin Grichting gilt als Strippenzieher hinter dem neusten Eklat im Bistum Chur. Wer ist dieser konservative Provokateur, dem der Zeitgeist ein Graus ist? Annäherung an einen Überzeugungstäter.

Marc Tribelhorn, Simon Hehli
Drucken
Keine Anbiederung an den gesellschaftlichen Mainstream: Martin Grichting.

Keine Anbiederung an den gesellschaftlichen Mainstream: Martin Grichting.

Claudio Baeggli

Unerhörtes ereignete sich unlängst am Churer Hof. Die Domherren entschieden mit hauchdünner Mehrheit, keinen der drei vom Papst vorgeschlagenen Kandidaten zum neuen Bischof zu wählen – und schickten die Liste zurück an den Absender. Ein Affront gegenüber dem Oberhirten Franziskus? Zumindest ein Akt, für den es in der langen Historie des Vatikans keinen Präzedenzfall gibt. «Roma locuta, causa finita», hiess es jeweils: Rom hat gesprochen, die Sache ist erledigt. Und nun dies.

Man könnte die Affäre als Ausdruck eidgenössischen Widerstandsgeistes deuten, als Emanzipation von Rom. Doch die Ironie dieser Geschichte ist: Die Domherren, die sich durchsetzten, sind nicht antiautoritär, sondern erzkonservativ. Sie befürchten «eine feindliche Übernahme» des Bistums durch «progressive» Kräfte. Das offenbart das Protokoll der geplatzten Bischofswahl, das den Weg in die Öffentlichkeit fand.

Als treibende Kraft tritt darin Martin Grichting auf, der Generalvikar des Bistums. «Hardliner» ist noch eine der zurückhaltenden Beschreibungen, die sich in den Medien über den 53-Jährigen finden. Das Internetportal «Kath.ch» schrieb von «seinem letzten schmutzigen Spiel» und liess anonym einen Domherrn zu Wort kommen, der Grichting als «Hooligan» bezeichnete, als Radaubruder. Das Narrativ ist nicht neu. Der «Tages-Anzeiger» sah in Grichting auch schon den «Christoph Mörgeli der katholischen Kirche», also einen rechten Scharfmacher. Tatsächlich fliegen meist die Fetzen, wenn sich Grichting äussert – über den «Genderismus», die 68er, die Leihmutterschaft («Sklaverei 2.0»), den Islam.

Doch Grichting ist nicht nur ein Provokateur, sondern auch höchst gelehrt und rhetorisch beschlagen. Er pflegt gar eine feine Selbstironie. Als er einmal in der Satiresendung «Giacobbo/Müller» zu Gast war, nannte er sich einen «very bad cop» und setzte Pointen über den bischöflichen Prunk, Adam und Eva, das Schweizer Fernsehen.

Wer ist dieser Martin Grichting? Ein Interview sei derzeit leider nicht möglich, lässt der Bistumssprecher Giuseppe Gracia ausrichten. Der Nuntius, der päpstliche Gesandte für die Schweiz, hat für die Bischofswahl und ihre Umstände eine Informationssperre verhängt. Grichtings Werdegang und Weltbild lassen sich dennoch nachzeichnen.

«Stählerne Keule»

Geboren und aufgewachsen ist Martin Grichting nicht etwa in einer tiefkatholischen ländlichen Gegend, sondern im Zürcher Industriequartier Oerlikon. Sein Vater zog aus dem Wallis dorthin; die Familie ist religiös, aber nicht fanatisch, man betet bei Tisch, geht sonntags in die Kirche. Grichting ist, wie er später einmal festhalten wird, ein «eher schüchternes Kind», das gerne Fussball spielt und in der Schule ziemlich faul ist. Erst am Gymnasium kommt der Eifer des Lernens und – des Glaubens. Seine Mitschüler und Lehrer zeigen wenig Verständnis für Grichtings Verteidigung der Kirche im säkularen Umfeld.

Als er sich für den Besuch Johannes Pauls II. in Einsiedeln 1984 vom Unterricht dispensieren lässt, muss sich der 17-Jährige Sprüche anhören. Aber seine provokativ-kompromisslose Haltung bringt ihm auch Respekt ein, wird zu einer Art Markenzeichen. Sein Spitzname lautet «Papst». Er ist Aussenseiter, aber kein Ausgestossener – bis heute organisiert er Klassenzusammenkünfte.

Noch in der Schulzeit findet er Anschluss beim erzkonservativen Opus Dei, auch wenn er dann nicht Mitglied wird. Das Diktum des Opus-Dei-Gründers Josemaría Escrivá scheint Grichting verinnerlicht zu haben: «Sei unnachgiebig in der Lehre und in der Lebensführung, aber sei konziliant in der Form. Eine mächtige, stählerne Keule in einem gepolsterten Futteral.» Nach der Matur 1986 will Grichting Geistlicher werden und studiert in Fulda, München und Rom – auf Vermittlung des späteren Churer Bischofs Wolfgang Haas, der ihn auch zum Priester weihen wird.

Der Aufstieg von Martin Grichting ist ohne die Figur Haas nicht zu verstehen. 1990 ernennt der Papst den Liechtensteiner zum Bischof von Chur – dem zweitgrössten Bistum der Schweiz, einem Reich von Poschiavo bis nach Eglisau. Die Wahl löst Demonstrationen und einen jahrelangen erbitterten Streit aus. Haas ist für viele Katholiken im Bistum zu konservativ, zu rückwärtsgewandt, zu dogmatisch. Tatsächlich setzt der neue Hirte auf kirchliche Hierarchie und unbedingten Gehorsam. Demokratische Mitsprache und generell die «Verweltlichung» sieht er als Gefahr für die Kirche. Das duale Schweizer System, das den kantonalen Körperschaften die Hoheit über die Kirchensteuern und damit viel Macht verleiht, ist Haas und seinen Mitstreitern ein Graus.

Kreuzweg oder Sackgasse?

Martin Grichting, der Haas-Schützling, beobachtet aus der Ferne, wie die Spaltung des Bistums immer tiefer wird und wie sich die staatskirchenrechtlichen Organisationen mit einem Finanzboykott gegen den ungeliebten Bischof wehren. Der Streit ist sein kirchenpolitisches Erweckungserlebnis. Schon 1990 geisselt er in einem Leserbrief in der NZZ die «Arroganz der Macht, mit der die ‹offiziellen› Katholiken des Kantons Zürich gegen ihren Diözesanbischof revoltieren».

Der Kirchenkrach ist auch Anlass für die Themenwahl seiner Dissertation, die er an der Opus-Dei-Universität Santa Croce in Rom schreibt: eine Fundamentalkritik am schweizerischen Modell der Staatskirche. Wie ein «Trojanisches Pferd» könne so der Zeitgeist in die katholische Kirche einziehen, klagt Grichting, so dass es «den Schäfchen möglich ist, ihren Hirten zu knechten». Die Warnung, die Grichting bis heute wiederholt, ist unmissverständlich: Durch die «Gegenkirche» drohe eine Verwässerung der Lehre – wie einst bei den Protestanten, die in der Schweiz inzwischen nicht einmal mehr ein verbindliches Glaubensbekenntnis haben.

Grichtings kirchenrechtliche Mission wird belohnt. Bischof Haas macht ihn zum Leiter des Lauretanum, einer Bildungsstätte für künftige Priester in Chur. Derweil eskaliert der Streit im Bistum immer weiter, sogar die Schweizer Bischofskollegen distanzieren sich vom ungeliebten Haas. 1997 reagiert Johannes Paul II. und findet einen operettenhaften Ausweg aus der Krise: Er schafft für Bischof Haas ein neues Mini-Erzbistum Liechtenstein.

In Chur soll der gemässigte neue Bischof Amédée Grab die Wogen glätten. Die Haas-Getreuen müssen gehen, unter ihnen auch Grichting. Er wird als Pfarrer nach Surcuolm verbannt, einem Dorf in der Surselva mit hundert Einwohnern. Er hätte auch mit Haas nach Vaduz gehen können: Es ist «eine Entscheidung zwischen Kreuzweg und Sackgasse», wie damals ein Freund gegenüber Grichting witzelt. Der Intellektuelle Grichting wählt den Kreuzweg, also die Einöde von Surcuolm, wo er sich neben der Seelsorge mit einer Habilitationsschrift beschäftigt.

Graue Eminenz

Seine Rückkehr an den Churer Hof gelingt erst, als ein anderer Haas-Zögling auf der Cathedra Platz nimmt – Vitus Huonder. 2009 macht ihn Huonder zum Generalvikar der Diözese Chur. Der Bischof will Grichtings Karriere noch weiter vorantreiben, sieht ihn als Weihbischof vor und damit als potenziellen Nachfolger. Doch die Pläne zerschlagen sich, der Widerstand gegen die Person Grichtings ist zu gross, vor allem aus Zürich. Das hindert den Generalvikar nicht, seine Position im Bistum auszubauen – und damit endgültig zum Feindbild der reformwilligen Katholikinnen und Katholiken zu werden.

Bischof Huonder gilt als geistig abgehoben, wenig versiert in kirchenpolitischen Machtspielen. Es ist die graue Eminenz Grichting, die im Hintergrund die Fäden zieht und auch gegen aussen für den wenig leutseligen Bischof die Bistumsspitze repräsentiert. So im «Fall Bürglen» 2015, als der Priester Wendelin Bucheli gestraft wird, weil er in seiner Kirche ein lesbisches Paar gesegnet hat. 2019 tritt Bischof Huonder in den Ruhestand; es übernimmt als Übergangslösung ein Apostolischer Administrator. Grichting bleibt der starke Mann im Bistum Chur. Das zeigt sich darin, dass seine Gegner gegenüber Journalisten zwar gerne Kritik üben, aber aus Angst meist nur anonym zitiert werden wollen. Grichtings Position im Machtgefüge belegt aber besonders das Treffen der Domherren vom 23. November, das mit der Wahl eines neuen Bischofs hätte enden sollen.

Laut Protokoll ergreift Grichting als Erster das Wort und hält eine Art Brandrede. Die vom Vatikan vorgeschlagene Dreierliste sei darauf ausgerichtet, die bisher vom gesellschaftlichen Mainstream abweichende Stimme des Bistums Chur zum Schweigen zu bringen, kritisiert er. Und er greift die als eher fortschrittlich geltenden Bischöfe von Basel und St. Gallen sowie den Abt von Einsiedeln an, die in Rom lobbyiert hätten. «Es soll in den bekannten theologischen, disziplinären und moraltheologischen Fragen in der Kirche in der Schweiz zukünftig offenbar niemanden mehr geben, der den progressistischen Kurs der Deutschschweizer Bischöfe sowie Äbte und der Vertreter des staatskirchenrechtlichen Systems stört.»

Zehn Domherren schlagen sich auf seine Seite, was für einen knappen Nichteintretensentscheid reicht. Aber ist es ein Sieg für Grichting? Seine machiavellistischen Instinkte hätten ihn im Stich gelassen, meinen Beobachter. Denn nun, da durch das «geleakte» Protokoll publik geworden ist, dass Grichting der Hauptverantwortliche ist für die Brüskierung Roms, dürfte seine herausragende Stellung im Bistum Chur wanken. Auch seine Ambitionen, dereinst selbst Bischof zu werden, scheinen weit zurückgeworfen. Im Vatikan wird Gehorsam grossgeschrieben.

Die «reine» Lehre

Doch Grichting kann nicht anders. Er ist kein Opportunist, sein Weltbild ist festgefügt, von seinen Positionen ist er seit dem Leserbrief in der NZZ vor dreissig Jahren nicht abgerückt. Als «reaktionär» schimpfen ihn seine zahlreichen Gegner in der Schweiz. Sie werfen ihm vor, hinter die Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils in den 1960er Jahren zurück zu wollen. Das bestreitet Grichting. Klar ist indes, dass er die katholische Lehre für unverrückbar und ewig hält. Eine Religionsgemeinschaft funktioniere nicht wie eine politische Partei, die ihr Programm nach Beliebtheitswerten ausrichte. Kirchliche Einmischungen in Abstimmungskämpfe – wie gerade bei der Konzernverantwortungsinitiative – findet er grundfalsch. Jene Gläubigen, die mit dem Zeitgeist gehen und den Katholizismus nach 2000 Jahren «modernisieren» wollen, um die Kirche zu «retten»: Sie irren sich. Nicht er.

Es ist eine Frage der Perspektive. Unter den drei Millionen Schweizer Katholiken mögen Grichting und andere Strenggläubige zu einer kleinen Minderheit gehören. Sie ecken an und werden als Sektierer bezeichnet. Doch in der katholischen Weltkirche mit ihren 1,3 Milliarden Mitgliedern denken viele wie Grichting, gerade in Lateinamerika oder Afrika. Auch Papst Franziskus, in den die Reformkräfte grosse Hoffnungen setzten, hat daran bisher kaum etwas geändert. Dass nichtgeweihte, verheiratete Theologen oder sogar Frauen an die Stelle von Priestern treten könnten, bleibt für die Konservativen undenkbar. Ebenso, dass sich die Kirche für sexuelle Verhütung aussprechen oder gleichgeschlechtliche Beziehungen akzeptieren könnte. Der Churer Weihbischof Marian Eleganti, ein Bruder im Geiste Grichtings, behauptet denn auch: «Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass seine Positionen lehramtlich unanfechtbar sind.»

Im Streit um Martin Grichting manifestiert sich beispielhaft der Gegensatz zwischen weltumspannender Kirchenlehre und dem Pochen auf regionale Eigenständigkeit. Grichting selbst muss sich denn auch kaum Sorgen um seine Zukunft machen, selbst wenn er bald vom Churer Hof gejagt würde. Mit den Anhängern der angeblich reinen Lehre inner- und ausserhalb Roms ist er bestens vernetzt. Als habilitierter Kirchenrechtler könnte Grichting an einer konservativen Hochschule Unterschlupf finden – oder doch noch Wolfgang Haas nach Vaduz folgen.