«Wir müssen fähig sein zu kooperieren» – die Schweizer Luftwaffe übt im britischen Nato-Gebiet den Nachtflug

In der Schweiz darf die Luftwaffe in der Dunkelheit kaum Übungsflüge durchführen, weshalb sie in den hohen Norden Englands ausweicht. Der Schweizer Luftwaffenchef hält die Kooperation mit dem resoluten Nato-Land Grossbritannien für neutralitätspolitisch unproblematisch – trotz veränderter Sicherheitslage in Europa.

Niklaus Nuspliger, Northallerton
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Die Basis im britischen Leeming dient heute nur noch zu Ausbildungszwecken: Auch ausländische Streitkräfte trainiern dort: Hier zum Beispiel ein F/A-18-Jet der Schweizer Luftwaffe.

Die Basis im britischen Leeming dient heute nur noch zu Ausbildungszwecken: Auch ausländische Streitkräfte trainiern dort: Hier zum Beispiel ein F/A-18-Jet der Schweizer Luftwaffe.

Julien Grindat / Keystone

Die Luftwaffenbasis RAF Leeming in Northallerton in der nordenglischen Grafschaft North Yorkshire erinnert an eine Kleinstadt. Rund 3000 Personen wohnen in den grauen Häuschen auf dem weitläufigen Gelände zwischen Hangars und Flugpisten. Es gibt eine Kinderkrippe, eine Zahnarztpraxis, eine Bar sowie ein Fitnesszentrum. Im Schnellimbiss neben dem Supermarkt kaut an diesem kühlen Nachmittag eine Gruppe von Soldaten gelangweilt an ihren Hamburgern.

Im Zweiten Weltkrieg war RAF Leeming ein wichtiger Stützpunkt der Royal Air Force und der Canadian Royal Air Force. Von hier aus stiegen etwa Bomber vom Typ Handley Page Halifax in den Himmel. Heute dient die Basis der britischen Luftwaffe nur noch Ausbildungszwecken. Stationiert sind verschiedene Geschwader sowie Funker und Rettungstruppen – aber auch Gäste aus dem Ausland.

Ein helvetisches Dorf

Zwischen abgelegenen Hangars befindet sich eine Schweizer Kolonie, die wie ein helvetisches Dorf inmitten der britischen Kleinstadt wirkt. Vor den Baracken weht die rote Flagge mit weissem Kreuz, im Innern ist auf einmal nicht mehr Englisch, sondern Schweizerdeutsch und Französisch zu hören.

Rund 80 Militärangehörige haben den Weg in den hohen englischen Norden gefunden, wo die Schweizer Luftwaffe während vier Wochen im November und Dezember in zwei Rotationen den Nachtflug übt. Die bis zum 9. Dezember dauernde Kampagne heisst «Yorknite» und kommt einem logistischen Grosseinsatz gleich. Neben acht F/A-18-Kampfjets und den Piloten mussten auch mehrere Lastwagenladungen an Material sowie Informatiker und Mechaniker in den Nato-Staat verlegt werden.

Das Training absolviert auch ein 27-jähriger Berufsmilitär aus dem Seeland. Er ist von der Kommunikationsabteilung der Luftwaffe für ein Interview ausgewählt worden, möchte aber anonym bleiben. Für den jungen Mann ist der Einsatz in England der Abschluss seiner sechsjährigen Ausbildung zum Kampfpiloten. Der Nachtflug sei die letzte Qualifikationsstufe, erzählt er. Danach werde er befähigt sein, im Rahmen des Luftpolizeidienstes die Sicherheit des Schweizer Luftraums zu gewährleisten.

Ohne Sicht auf den Horizont

Der Nachtflug ist eine spezielle Herausforderung. «Bei der Annäherung an ein anderes Flugzeug ist die Geschwindigkeit viel schwieriger einzuschätzen als am Tag», erklärt der Pilot. «Und in ganz dunklen Nächten sieht man keinen Horizont, um sich zu orientieren, weshalb man umso mehr auf die Instrumente angewiesen ist.» Meistens trainieren die Schweizer untereinander, manchmal gibt es aber auch gemeinsame Trainings mit den britischen Piloten.

Anfang Dezember geht die Sonne in North Yorkshire um zirka 15 Uhr 45 unter. Kurz vor der Dämmerung setzt die erste Welle der Piloten zur Übung an. Mit blinkenden Positionslichtern stehen die Jets auf dem Vorfeld. Dann geben sie Schub, der Pistenraum füllt sich mit heisser Luft, und ein Flugzeug nach dem anderen steigt steil in den nordenglischen Himmel hinauf.

Die Übung «Yorknite» 2022 auf der Luftwaffenbasis RAF Leeming.

Military Aviation Channel

Zwei weitere Wellen fliegen jeweils am Abend bei völliger Dunkelheit los. Dank den täglichen Übungen kommt der junge Pilot aus dem Seeland in England auf rund 16 nächtliche Flugstunden. In der dichtbesiedelten Schweiz kann die Luftwaffe in den Wintermonaten nur einmal pro Woche den Nachtflug üben, ohne die Toleranz der Bevölkerung zu strapazieren. Zwar gibt es auch in Nordengland Lärmklagen, die im zentralistischen britischen Politsystem allerdings wirkungslos verpuffen.

Luftwaffe kooperiert grenzüberschreitend

Auch wenn sich die geografischen Gegebenheiten auf der britischen Insel von jenen in der alpinen Schweiz grundlegend unterscheiden: Der Schweizer Luftwaffenkommandant, Divisionär Peter Merz, der für einen kurzen Truppenbesuch angereist ist, bezeichnet die Übungsmöglichkeit auf RAF Leeming als Glücksfall. Er deutet mit der Hand auf das grosszügige Gelände und auf die gedeckten Hangars, in denen die Mechaniker die Kampfjets bei Licht und im Trockenen warten können. Zudem betont der Luftwaffenchef, North Yorkshire liege für die Anreise aus der Schweiz näher als frühere Trainingsorte in Schottland und Norwegen.

Die Luftwaffe hat deutlich mehr Erfahrung in internationaler Kooperation als die Schweizer Bodentruppen – auch weil der kleine helvetische Luftraum nur begrenzte Trainingsmöglichkeiten bietet. Laut Merz hat sich die traditionelle Zusammenarbeit mit Partnerländern seit der Anschaffung der F/A-18 weiter intensiviert, zumal sich auch Englisch als Arbeitssprache durchgesetzt habe.

Das vier Wochen dauernde Training der Schweizer Luftwaffe in Grossbritannien heisst «Yorknite» und kommt einem logistischen Grosseinsatz gleich.

Das vier Wochen dauernde Training der Schweizer Luftwaffe in Grossbritannien heisst «Yorknite» und kommt einem logistischen Grosseinsatz gleich.

Julien Grindat / Keystone

Doch der russische Angriff auf die Ukraine hat die Sicherheitslage in Europa grundlegend verändert. Die Nato unterstützt die Ukraine mit Waffenlieferungen und hat zur Eindämmung Russlands ihre Ostflanke gestärkt. Die Atommacht Grossbritannien gehört zu jenen Alliierten, die gegenüber Putin einen besonders harten Kurs fahren. Am russischen Staatsfernsehen sind daher auch schon atomare Drohungen gegen die Briten laut geworden. Zudem wurden dieses Jahr russische Bomber vom Typ TU-95 Bear registriert, die gefährlich nahe an den nördlichen britischen Luftraum heranflogen.

Neutralität setzt Limiten

Dennoch hält der Schweizer Luftwaffenchef die Kooperation mit dem Nato-Land Grossbritannien für neutralitätspolitisch unproblematisch. Einerseits handele es sich bloss um einen Trainingseinsatz, andererseits habe die Schweiz klare Limiten, betont Merz. So führe sie keine scharfen Waffen mit und gebe den Briten keine Geheimnisse zu ihren Waffensystemen und ihrer Taktik preis. Da die Schweizer Luftwaffe bloss als Gast im von den Briten gesicherten Luftraum operiere, bestehe auch keinerlei Gefahr, in einen möglichen Konflikt hineingezogen zu werden.

Laut Merz sind die geübten Szenarien eher handwerklicher denn taktischer Natur. Im Vordergrund steht der Luftpolizeidienst. Dabei simuliert ein Kampfjet ein Linienflugzeug, das von einem anderen Kampfjet abgefangen und kontrolliert werden muss. Allerdings gibt es auch gemeinsame Übungen mit den Briten, und mitunter wird der Luftkampf zwischen zwei einzelnen Jets geübt.

«Wir sind auf Autonomie, Neutralität und Landesverteidigung ausgerichtet», sagt Merz. «Aber wir müssen fähig sein zu kooperieren.» Denn falls die Schweiz einmal angegriffen werden sollte, könne es sein, dass die Politik die Neutralität über Bord werfe und die Zusammenarbeit mit westlichen Partnerländern beschliesse. Auf diese Möglichkeit müsse sich die Luftwaffe technisch und verfahrensmässig vorbereiten.

Britische «soft power»

Für die Royal Air Force gehört internationale Kooperation zum Alltag. Oberst Gareth Prendergast, der Kommandant der RAF Leeming, hat in den letzten Monaten nicht nur Militärpiloten aus Nato-Ländern wie den USA, den Niederlanden oder Italien in Nordengland willkommen geheissen. Zu Gast ist auch die Luftwaffe Qatars, die hier junge Piloten ausbildet und zusammen mit der Royal Air Force ein gemeinsames Trainingsgeschwader mit Hawk-Kampfjets stellt.

Für London ist die kostenlos zur Verfügung gestellte militärische Gastfreundschaft ein Pfeiler britischer «soft power», die das Land ausstrahlen will. Laut Prendergast sind die Schweizer für die Briten attraktive Gäste: Einerseits sei es interessant zu beobachten, wie die Luftwaffe eines neutralen Landes operiere. Andererseits verfüge die Royal Air Force über keine F/A-18 und sammle dank den Übungen mit den Schweizern Kenntnisse über diesen Flugzeugtyp.

Die Zusammenarbeit mit Grossbritannien könnte sich noch vertiefen: Auch Grossbritannien setzt auf einen Typ des F-35.

Die Zusammenarbeit mit Grossbritannien könnte sich noch vertiefen: Auch Grossbritannien setzt auf einen Typ des F-35.

Julien Grindat / Keystone

Die Zusammenarbeit könnte sich vertiefen, sobald die Schweizer Luftwaffe den F-35-Jet beschafft hat. Auch die Briten setzen auf den F-35, wenn auch auf die B-Variante, die leichter auf kleinen Flugpisten oder auf Deck von Flugzeugträgern starten und landen kann. Laut Prendergast könnte der gemeinsame Flugzeugtyp die Nutzung von Synergien erlauben – möglich wäre gar, dass britische Mechaniker die Schweizer Kampfjets warten und reparieren. Prendergast hofft jedenfalls, dass sich die Kooperation auf der RAF Leeming langfristig etabliert. «Die Schweizer sind überaus respektvoll», meint er anerkennend. «Die besten Gäste, die man sich vorstellen kann».

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