Interview

Der EWR-Beitritt ist vor 25 Jahren gescheitert. Christoph Blocher und Jakob Kellenberger über die Folgen

1992 stimmte die Schweizer Bevölkerung mit 50,3 Prozent gegen einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). 25 Jahre danach streiten SVP-Chefstratege Christoph Blocher und der ehemalige Staatssekretär und IKRK-Präsident Jakob Kellenberger über die Folgen des Entscheids.

Marc Tribelhorn und Michael Schoenenberger 12 min
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Wiedertreffen zweier zentraler Akteure der Schweizer Europapolitik: Christoph Blocher und Jakob Kellenberger. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Wiedertreffen zweier zentraler Akteure der Schweizer Europapolitik: Christoph Blocher und Jakob Kellenberger. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Das EWR-Nein vor 25 Jahren war für Politik und Wirtschaft ein Schock. Von einem «schwarzen Sonntag» sprach Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz, die Wirtschaft befürchtete massive Nachteile beim Marktzugang. Waren die Reaktionen aus heutiger Sicht nicht ziemlich übertrieben?

Christoph Blocher: Der Bundesrat hatte eine wirtschaftliche Katastrophe prophezeit, wenn die Schweiz dem EWR nicht beitrete. Ich erinnere mich noch genau, wie Staatssekretär Franz Blankart vor dem Gewerbeverband warnend sagte, dass wir bei einem Nein in fünf Jahren völlig verarmt bei der EU um eine Aufnahme betteln müssten. Eine Fehlprognose par excellence! Und Herr Delamuraz bedauerte am Abstimmungsabend die Schweizer Jugend, die bald unter hoher Arbeitslosigkeit leiden werde, während in der EU Vollbeschäftigung herrsche. Ein Vierteljahrhundert später lässt sich Bilanz ziehen. Es ist genau umgekehrt!

Jakob Kellenberger: Die Untergangsprophezeiungen von damals haben sich in keiner Weise bewahrheitet. Die Schweiz geriet zwar nach der Abstimmung in verschiedenen Bereichen ins Hintertreffen. Dank den bilateralen Verträgen konnten wir das aber wieder wettmachen. Herr Blocher war übrigens auch nicht gerade zimperlich in den Voraussagen für den Fall, dass wir dem EWR beitreten . . .

Blocher: Aber meine Prognosen haben sich wenigstens erfüllt (lacht).

Wie beurteilen Sie den EWR-Vertrag, über den damals abgestimmt wurde?

Kellenberger: Ich habe grosse Probleme, wenn heute Nostalgie aufkommt. Die Politiker, die wieder davon schwärmen, wissen meist nicht, was ein Ja bedeutet hätte. Von seinem wirtschaftlichen Gehalt wäre der EWR eine gute Plattform gewesen, aber die politisch-institutionellen Bedingungen waren viel zu weit entfernt von unserem ursprünglichen Verhandlungsmandat. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass der EWR für mich nur eine Übergangslösung auf dem Weg zum EU-Beitritt hätte sein können.

Blocher: Herr Kellenberger war einer der wenigen, die immer klar dazu gestanden sind, dass der Beitritt zum EWR die schlechtere Variante sei als der Beitritt zur EU. Das war auch meine Meinung. Ein Kolonialvertrag ist schlimmer als eine Fusion! Das hat auch der Bundesrat gesehen. Wenn wir beim EWR ein Vetorecht gegenüber fremden Gesetzen gehabt hätten, wäre ich dafür gewesen. Doch das war am Schluss nicht mehr Teil des Abkommens.

Das sind ganz neue Töne, Herr Blocher: Sie bekämpften den EWR ja vor allem mit dem Argument des drohenden EU-Beitritts.

Blocher: Die Schweiz muss sowohl einen Kolonialvertrag als auch einen EU-Beitritt ablehnen. Schliesslich stand in der bundesrätlichen Botschaft unmissverständlich: Der Beitritt zum EWR könne nicht mehr als dauerhafte Lösung angesehen werden, sondern nur noch als Teil einer Strategie, die den EU-Beitritt zum Ziel habe. Die Politik und die Medien haben das in dieser Klarheit gerne unterschlagen.

Ihr Parteikollege Adolf Ogi sprach politisch ungeschickt vom EWR als einem «Trainingslager» . . .

Blocher: Er popularisierte damit nur, was der Gesamtbundesrat im Beamtenjargon in der Botschaft geschrieben hatte. Das Einreichen des EU-Beitritts-Gesuchs im Mai 1992 war die logische Konsequenz.

Laut dem EWR-Chefunterhändler Franz Blankart war es nicht Christoph Blochers Einsatz im Abstimmungskampf, sondern das übereilt eingereichte Beitrittsgesuch des Bundesrats, was dem EWR den Todesstoss versetzte. Wie sehen Sie das, Herr Kellenberger?

Kellenberger: Das ist reine Spekulation. Ich kann nur nochmals betonen: Wir starteten mit einem Verhandlungsmandat, das eine Mitsprache bei der Verabschiedung von EWR-Recht vorsah. Wir bekamen stattdessen ein informelles Konsultationsrecht. Wir hätten als Schweiz nicht einmal unsere eigenen Interessen vertreten können, weil die EU bestimmt hat, dass die Efta-Staaten mit einer Stimme sprechen mussten. Das war für mich und viele andere völlig inakzeptabel. Davon spricht heute niemand mehr.

Wir hätten nicht das bekommen, was wir haben wollten. Weshalb haben Sie die Verhandlungen nicht einfach abgebrochen?

Kellenberger: Es gab durchaus Stimmen, die das forderten. Doch ein Abbruch von solchen multilateralen Verhandlungen ist schwerwiegend.

Blocher: Das ist genau das Gefährliche an internationalen Verhandlungen! Wer sich früh hinauslehnt, kann danach fast nicht mehr abbrechen, weil sonst der Verhandlungspartner düpiert wird. Das ist in der Wirtschaft nicht anders.

Kellenberger: Im Fall des EWR haben Staaten wie Schweden, Finnland und Österreich später die Konsequenzen aus der unbefriedigenden institutionellen Lösung gezogen und sind der EU beigetreten. Die Schweiz musste eine eigene Lösung finden.

Also erklärten die Bundesräte Delamuraz und Felber nach einem Verhandlungsmarathon in Luxemburg und einigen Flaschen Wein mitten in der Nacht, der EU-Beitritt sei «per sofort» das «strategische Ziel» der Schweiz?

Kellenberger: Ich war bei diesen Verhandlungen vom Oktober 1991 in Luxemburg dabei. Die Bundesräte wollten nicht einfach ein Wirtschaftsabkommen, sondern wirkungsvolle Mitentscheidungsrechte und ein zukunftsfähiges politisch-institutionelles Abkommen für die Schweiz. Von daher war es folgerichtig, mittelfristig den EU-Beitritt anzustreben.

Blocher: Beides wäre schädlich für die Schweiz gewesen! Beim EU-Beitritt hätten wir alles EU-Recht übernehmen müssen, dafür hätten wir ein bisschen mitsprechen können.

Kellenberger: Sie sollten das nicht immer kleinreden! Wir hätten in der EU voll mitentscheiden können. Damals waren übrigens die Stimmen noch nach Wirtschaftsleistung gewichtet, was uns einige Macht gegeben hätte. Aus heutiger Sicht ist aber klar: Im Vergleich zum EWR sind die Bilateralen die viel bessere Lösung gewesen.

Blocher: Im EWR-Abstimmungskampf haben alle Bundesräte ausser dem knorrigen Sozialdemokraten Stich behauptet, bilaterale Verträge seien völlig ausgeschlossen. Auch dort vergaloppierte sich die Classe politique!

Kellenberger: Ich habe nie behauptet, bilaterale Verträge seien nicht möglich. Das war politische Rhetorik und hatte wenig mit Diplomatie zu tun. Ich kann Ihnen aber versichern, dass es nach dem EWR-Nein ziemlich lange dauerte, bis die EU mit uns an den Tisch gesessen ist. Und zwar nur, weil wir das unbedingt wollten. Die ersten Gesuche hatten wir schon 1993 eingereicht, erst zwei Jahre später begannen die Verhandlungen.

Blocher: Aber die Schweiz wollte weder die verhängnisvolle Personenfreizügigkeit noch die Guillotineklausel!

Kellenberger: Sie wissen genau, dass es in Verträgen immer Dinge gibt, die der einen Seite passen und der anderen weniger. Die Personenfreizügigkeit war ein Gegenstand, den die EU unbedingt haben wollte. Bei der Guillotineklausel ging es um eine Absicherung, dass die Schweiz nicht später Unliebsames kündigt. Wir brachten dafür das Luftverkehrsabkommen oder die technischen Handelshemmnisse ein. Das Personenabkommen hat übrigens auch Vorteile für die Schweiz.

Nach dramatischen Wochen und Monaten sagte das Schweizer Stimmvolk am 6. Dezember 1992 Nein zu einem Beitritt des Landes zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Bild: Plakat der EWR-Befürworter, Dezember 1992. (Bild: Keystone)
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Die Nationalräte Christoph Blocher (l.) und Peter Bodenmann während der Sondersession zum EWR-Abkommen am 26. August 1992 im Parlament in Bern. Die EWR-Frage polarisierte die Schweiz damals stark, entsprechend knapp fiel am 6. Dezember die Abstimmung aus. Das Nein kam mit einem Unterschied von 23 000 Stimmen zustande, allerdings bei einem deutlichen Ständemehr (16 Kantone). (Bild: Keystone)
Zahlreiche Vertreter der Wirtschaft machen am 2. Dezember 1992 vor dem Bundeshaus in Bern Stimmung für ein Ja zum Beitritt und stellen ein «Manifest der Schweizer Wirtschaft für den EWR» vor. (Bild: Keystone)
Passanten marschieren über eine grosse Europakarte an einer Veranstaltung zur EWR-Abstimmung in Basel, Dezember 1992. Immobilienkrise, Rezession, Staatsverschuldung: Die Aussichten waren trüb. So wurde die Abschottung bzw. Öffnung des Binnenmarkts zur Glaubensfrage. (Bild: Keystone / Str)
Die Stimmbeteiligung war am 6. Dezember 1992 mit über 78 Prozent so hoch wie seit der Abstimmung über die Einführung der AHV 1947 nicht mehr. Das hatte auch mit solchen Plakaten zu tun, die im Abstimmungskampf vor allem die Emotionen bedienten. (Bild: Keystone / Str)
Die Gegner des EWR schürten Ängste und malten den Untergang der freien Schweiz an die Wand. Das Bild zeigt einen pensionierten Waffenhändler, der am 2. Dezember 1992 an der Zürcher Bahnhofstrasse gegen den EWR-Beitritt der Schweiz Stimmung macht. (Bild: Keystone / Str)
Dieses Bild wurde zum Sinnbild der Europa-Skeptiker. Es zeigt den SVP-Politiker und Grossunternehmer Christoph Blocher mit Treicheln an einer Kundgebung gegen den EWR im November 1992. (Bild: Keystone / Str)
Andere EWR-Gegner versuchten mittels Aktionen wie eines Strassentheaters Aufmerksamkeit zu erregen. Das Bild zeigt eine Demonstration vom November 1992 in Bern gegen den EWR-Beitritt. (Bild: Keystone / Str)
Je näher der Abstimmungstermin rückte, desto ernster wurden die Befürworter, weil sich ein knapper Ausgang des Urnengangs abzeichnete. Bild: Die Bundesräte Arnold Koller, rechts, und Adolf Ogi, links, sehen sich an einer vom Schweizer Fernsehen übertragenen Veranstaltung zum EWR kritischen Voten gegenüber; aufgenommen am 20. November 1992 im Bundesbriefarchiv in Schwyz. (Bild: Keystone)
Draussen vor dem Bundesbriefarchiv in Schwyz demonstrieren EWR-Gegner lautstark gegen den Beitritt, während im Innern des Archivs Arnold Koller und Adolf Ogi eine vom Schweizer Fernsehen übertragene Kampagne für den EWR-Beitritt abhalten. (Bild: Keystone)
Christoph Blocher engagierte sich 1992 vehement für den Alleingang der Schweiz; hier, am 19. November 1992, ist er in einer TV-Debatte zu sehen. Wegen seiner Kampagne gegen den EWR stellte ihn die Schweizerische Bankgesellschaft 1991 nicht mehr zur Wiederwahl als Verwaltungsrat auf. (Bild: Keystone / Str)
Am Abstimmungssonntag (6. 12. 1992) strömen deutlich mehr Stimmberechtigte in die Wahllokale als sonst (total 78,73 Prozent). Das Bild zeigt Hans-Ueli Blöchliger, ehemaliger Chefredaktor der Bildagentur Keystone, als Wilhelm Tell. Er steht vor einem Stimmlokal in Zürich und macht in letzter Minute Stimmung gegen den EWR. (Bild: Walter Bieri / Keystone)
Gut gelaunt und zuversichtlich wirft Bundespräsident René Felber am 6. Dezember 1992 in seiner Wohngemeinde Saint-Aubin bei Neuenburg seinen Stimmzettel in die Urne. Felber war von 1987 bis 1993 Bundesrat; wie die grosse Mehrzahl der Romands und der Bundesrat als Ganzes befürwortete er den EWR. (Bild: Keystone)
In einem Wahllokal am Hauptbahnhof von Bern werfen diese Stimmberechtigten kurz vor der Schliessung der Stimmlokale ihre Stimmzettel zum EWR-Beitritt in die Urnen. Im Verlauf des Nachmittags liegt die Schlussauszählung vor: 1 762 872 Bürger sagen Ja, 1 786 708 Nein zum EWR, womit der Beitritt äusserst knapp, mit 50,3 Prozent der Stimmen, abgelehnt wird. (Bild: Keystone)
Die Bundesräte Jean-Pascal Delamuraz, René Felber, Arnold Koller (v. l. n. r.) und Vizekanzler Achille Casanova kommentieren das Nein zum EWR am 6. Dezember 1992 in Bern. «Wir müssen im Innern alles tun, damit die Schweiz wettbewerbsfähig bleibt», ergänzte Bundesrat Kaspar Villiger noch am Abend der Abstimmung. (Bild: Rolf Schertenleib / Keystone)
Jean-Pascal Delamuraz, links, erklärt gegenüber den Medien: «Dies ist ein schwarzer Sonntag, für die Wirtschaft, für die Arbeitsplätze und für die Jugend.» (Bild: Rolf Schertenleib / Keystone)
Gross ist die Enttäuschung in den Westschweizer Medien am 7. Dezember 1992. Das Ständemehr verpasste die Vorlage deutlich: Nur 6 Kantone, vor allem solche in der Romandie, und 2 Halbkantone sagten Ja, 14 Stände und 4 Halbkantone Nein. Wie in manchen Abstimmungen zuvor fühlten sich die Romands jenseits des «Röstigrabens» von der Deutschschweizer Mehrheit ausgehebelt. (Bild: Keystone / Str)
Die NZZ schrieb am 7. Dezember 1992: «Wenn wir im Wettbewerb bestehen wollen, kommt nun die Zeit der oft schmerzlichen autonomen Anpassung an europäische Gegebenheiten.» (Bild: NZZ-Archiv)
Nach der verlorenen EWR-Abstimmung demonstrieren diese Europa-Befürworter für einen erneuten Anlauf in Richtung europäischer Mitgliedschaft. Sie hoffen auf einen Aufschwung durch den freien Verkehr für Personen, Güter, Dienstleistungen und Kapital. (Bild: Keystone / Str)
Ein Graffiti in Payerne im Kanton Waadt, 1993. In der Romandie löste das Nein zum EWR eine Identitätskrise aus. Wenige Wochen nach der Abstimmung wurde der Bundesrat in Brüssel vorstellig, um die bilateralen Verhandlungen aufzunehmen. (Bild: Keystone / Str)
Gegen 6000 Menschen demonstrieren am 19. Dezember 1992 auf dem Bundesplatz in Bern «für eine solidarische Schweiz in Europa». Sie fordern den Bundesrat auf, nach dem Nein zum EWR mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) den Vollbeitritt auszuhandeln. (Bild: Lukas Lehmann / Keystone) Zum Artikel

Nach dramatischen Wochen und Monaten sagte das Schweizer Stimmvolk am 6. Dezember 1992 Nein zu einem Beitritt des Landes zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Bild: Plakat der EWR-Befürworter, Dezember 1992. (Bild: Keystone)

War die EU zu mehr Konzessionen bereit, weil der Bundesrat bereits ein Beitrittsgesuch deponiert hatte?

Kellenberger: Das kann sein. In der Diplomatie gilt das Prinzip, dass man in Verhandlungen nur erfolgreich sein kann, wenn ein Klima des Wohlwollens herrscht. Eine konkrete Rolle hat das Gesuch in den Verhandlungen aber nie gespielt.

Blocher: Innenpolitisch war der Fall ja ohnehin klar: Der Beitritt war vom Bundesrat als Ziel deklariert. Die Sozialdemokraten wollten als gute Internationalisten schon immer in die EU. Und auch der Freisinn und die CVP beschlossen Mitte der 1990er Jahre den Beitritt. Bei den Zentralisten in Brüssel wurde das natürlich freudig registriert.

Dort wurde sicher auch registriert, dass Sie und die SVP unentwegt gegen die EU gepoltert haben . . .

Kellenberger: Das hat das Verhandlungsklima bei den Bilateralen sicher nicht verbessert. Herr Blocher kennt die EU bestens, umso unverständlicher sind mir seine polemischen Attacken. Trotz einigen Defiziten ist die EU als Friedensprojekt die wohl grösste Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Und sie hat den ehemaligen Ostblockstaaten eine Perspektive eröffnet. Ich habe als Präsident des IKRK gesehen, was Krieg und Elend bedeuten. Mir ist der Frieden wichtiger als eine misslungene technische Verordnung über Bananen.

Blocher: Diese Leistung anerkenne ich natürlich. Niemand hat Mühe mit dem Motiv Friedensförderung. Aber die EU ist und bleibt eine intellektuelle Fehlkonstruktion, weil sie die Unterschiede der Mitgliedsstaaten zu wenig berücksichtigt und von Brüssel her alles vereinheitlichen und einebnen will. Deshalb wird sie auch nie funktionieren.

Sind Sie Herrn Kellenberger zumindest dankbar, dass er mit dem Aushandeln der Bilateralen I für die Schweiz die Kastanien aus dem Feuer geholt hat?

Blocher: Im Gegensatz zu Ihnen glaube ich nicht an die überschätzte Bedeutung dieser Verträge. Wenn die EU Wert darauf legt, dass zwischen Hamburg und Genua eine gute Verkehrsverbindung besteht, bin ich natürlich nicht dagegen, obwohl es im Interesse der EU ist. Aber die Bilateralen I als Rettung der Schweizer Wirtschaft zu bezeichnen, ist dummes Zeugs! Das Palaver vom «Königsweg» ist lächerlich.

Kellenberger: Man kann bei der Beurteilung der bilateralen Verträge unterschiedlicher Meinung sein. Tatsache ist aber: Sie wurden vom Stimmvolk mit 67 Prozent angenommen. Und dass sie einen wichtigen Beitrag für die Prosperität der Schweiz geleistet haben, scheint mir unbestreitbar.

Blocher: Der Aufschwung der Schweiz hatte nichts mit den Bilateralen zu tun, sondern mit dem Ende der Rezession, die nachweisbar von 1990 bis 1997 dauerte. Sie ist nicht wegen des EWR-Neins eingetreten und endete nicht mit den bilateralen Verträgen, die ja erst 2002 in Kraft traten.

Kellenberger: Ich zweifelte nie an der Wettbewerbsstärke unserer Wirtschaft. Aber auch wenn Sie es bestreiten, Herr Blocher: Es besteht kein Zweifel, dass die Bilateralen den Standort Schweiz aufgewertet haben. Dank ihnen haben wir fast überall den gleichen Zugang zu unserem weitaus grössten Markt! Noch immer gehen 50 Prozent des Exports in die EU.

Blocher: Das Wichtigste ist noch heute der Freihandelsvertrag von 1972. Mit ihm allein hätten wir auch keinen Souveränitätsverlust und könnten die Zuwanderung selber steuern.

Kellenberger: Mit grossen Worten wie «Souveränitätsverlust» habe ich meine Mühe. Ich sehe überhaupt keinen Souveränitätsverlust, wenn man aus eigenem Willen völkerrechtliche Verträge abschliesst. Besonders auch, weil wir ja die Freiheit haben, die Verträge wieder zu kündigen.

Blocher: Wir werden politisch und rechtlich eingeschränkt. Gerade wegen der Guillotineklausel, die Sie ausgehandelt haben, ist eine Kündigung, etwa des schädlichen Personenfreizügigkeitsabkommens, so schwer. Und das Bundesgericht stellt heute nicht mehr nur das zwingende Völkerrecht, sondern generell das internationale Recht über das nationale. Das ist ein bedeutender Souveränitätsverlust.

Mit der sogenannten Begrenzungsinitiative nimmt die SVP in Kauf, dass die gesamten bilateralen Verträge wegfallen.

Blocher: Rechtlich ist es nur für die restlichen sechs Verträge der Bilateralen I so. Aber die Personenfreizügigkeit hat so gravierende Nachteile für unser Land, dass wir dies in Kauf nehmen müssen. Ich glaube jedoch, dass die EU die anderen Verträge im eigenen Interesse unverzüglich neu verhandeln würde.

Kellenberger: Da kann ich nur sagen: good luck!

Blocher: Am Abend der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wurde Angela Merkel gefragt, ob die EU nun die übrigen bilateralen Verträge fallenlassen würde. Sie sagte: «Wir lassen doch nicht Verträge fallen, die wir in unserem Interesse abgeschlossen haben.»

Kellenberger: Wir reden jetzt im Kern über die Guillotineklausel. Auch mir gefällt nicht, dass bei Kündigung eines Vertrags alle Verträge automatisch wegfallen. Wir haben uns damals dagegen gewehrt, die EU hat darauf bestanden. Der entscheidende Punkt ist aber: Die EU würde auch ohne Guillotineklausel die übrigen Verträge kündigen können, wenn die Schweiz das Personenfreizügigkeitsabkommen aufkündigte.

Blocher: Ohnehin kann sie jederzeit kündigen, wenn sie will. Die Schweiz auch.

Ist es nicht scheinheilig, wenn die SVP behauptet, sie stehe hinter dem bilateralen Weg, gleichzeitig aber das Abkommen über die Personenfreizügigkeit kündigen will?

Kellenberger: Ohne die Personenfreizügigkeit gibt es einfach den Rest nicht. Und es ist zweifelhaft, ob es ohne die Freizügigkeit überhaupt eine Weiterentwicklung gäbe bei weiteren Abkommen, die den gleichwertigen Zugang zum Binnenmarkt zum Ziel haben. Die Freizügigkeit ist für die EU ein absolutes Kernelement des Binnenmarktes. Und wir haben heute weitestgehend den gleichen Zugang zum EU-Binnenmarkt wie ein EU-Mitgliedsland.

Blocher: Die Schweiz will nicht Mitglied des Binnenmarktes sein, sonst muss sie alles übernehmen. Wir wollen nur den gegenseitigen Marktzugang. Nun zu Ihrer Frage: Nein, es ist nicht scheinheilig, für den bilateralen Weg zu sein, aber nur sinnvolle bilaterale Verträge zu akzeptieren und schlechte abzulehnen. Das Schweizervolk hat beschlossen, die Personenfreizügigkeit aufzugeben. Dafür gibt es Verhandlungs- und Kündigungsklauseln.

Kellenberger: Sie vermischen da einiges! Die eine Frage ist, ob wir Zugang haben zum Binnenmarkt. Und die andere Frage ist, ob wir einen gleichwertigen Zugang haben zum Binnenmarkt wie die EU-Mitgliedstaaten. Das Ziel der binnenmarktrelevanten bilateralen Abkommen war immer, gleich lange Spiesse zu haben, also den gleichen Zugang zu haben wie die EU-Mitgliedsstaaten selbst. Und genau das hat natürlich Konsequenzen: Wir müssen dann halt das relevante EU-Recht übernehmen, weil das die Rechtsgrundlage dieses Binnenmarktes ist.

Weil die EU ihre Mitgliedsstaaten nicht schlechterstellen will als die Schweiz, verlangt sie ein Rahmenabkommen für die bilateralen Verträge, das eine systematische Übernahme von neuem EU-Recht und eine Kontrolle der Umsetzung durch supranationale Behörden mit sich brächte. Muss die Schweiz sich fügen?

Kellenberger: Der Begriff «Rahmenabkommen» ist missverständlich, weil es ja nur die fünf bestehenden Marktzutrittsabkommen und mögliche künftige betrifft.

Blocher: Seit Jean-Claude Junckers Besuch in Bern heisst es ja Freundschaftsabkommen (lacht).

Kellenberger: Wie auch immer (schmunzelt). Ich bin mir nicht sicher, wer eigentlich den Vorschlag für ein solches institutionelles Abkommen gemacht hat. Die Schweiz oder die EU? Und viel entscheidender: Brauchen wir es?

Das klingt nach Skepsis . . .

Kellenberger: Wir müssen uns fragen, was der Mehrwert ist. Die Streitfälle in den bestehenden Verträgen kann man problemlos in den gemischten Ausschüssen behandeln. Kurzum: Ich bin nicht überzeugt von der Notwendigkeit eines solchen institutionellen Abkommens.

Ist ein institutionelles Abkommen, wie es heute zur Debatte steht, vergleichbar mit einem «EWR light»?

Blocher: Die institutionelle Bindung, die darin besteht, dass wir Dinge übernehmen müssen, ohne dass wir mitentscheiden dürfen, ist vergleichbar. Darum ist ein solches Abkommen ja so verhängnisvoll, weil es die genau gleichen fundamentalen institutionellen Nachteile mit sich brächte.

Kellenberger: Im Unterschied zum EWR können wir mit einem institutionellen Abkommen unsere Interessen in der Konsultation mit eigener Stimme vertreten. Wir müssen also nicht unsere Position zuerst mit anderen Efta-Staaten abgleichen und sozusagen Konzessionen auf zwei Stufen machen wie beim EWR. Wenn wir aber mitentscheiden wollen beim binnenmarktrelevantem Recht, das wir übernehmen, dann gibt es nur etwas: den EU-Beitritt.

Blocher: Wir wollen weder das eine noch das andere, sondern Unabhängigkeit.

Der EU-Beitritt ist innenpolitisch ein Tabuthema geworden. Müsste die Schweiz nicht wieder einmal grundlegend über das Verhältnis zur EU debattieren?

Kellenberger: Ich respektiere die politische Realität in der Schweiz. Und ich würde unter den gegenwärtigen Umständen den Beitritt nicht empfehlen, weil Wichtiges unsicher ist in der EU. Von einer grundsätzlichen Debatte verspreche ich mir nicht viel, denn sie würde im Wesentlichen gleich verlaufen wie die bisherigen. Wir sollten uns mit den konkreten Problemen befassen, aber bitte seriös.

Blocher: Die FDP-Präsidentin Petra Gössi will zum Beispiel der Kohäsionsmilliarde nur zustimmen, wenn die EU auf die Guillotineklausel verzichtet. Ich hätte mich nie getraut, diesen Vorschlag zu machen. Ich gratuliere und verspreche volle Unterstützung.

Kellenberger: Ich staunte, als ich diese komplett verschiedenen Themen miteinander verknüpft sah. Der Vorschlag zeigt, dass man Fragen der europäischen Integration hierzulande vertiefter studieren sollte.

Das haben Sie jetzt sehr diplomatisch ausgedrückt.

Kellenberger: Wenn wir nicht bereit sind, jährlich etwas mehr als 100 Millionen Franken für wirtschaftlich zurückgebliebene EU-Staaten zu zahlen, würden wir ein sehr schlechtes Signal aussenden. Und wir sollten die Relationen sehen: Der niederländische Nettobeitrag an das EU-Budget 2016 ist 20 Mal so hoch wie unsere jährlichen Kohäsionszahlungen.

Blocher: Im Gegensatz zu den Niederlanden sind wir nicht EU-Mitglied!

Kellenberger: Richtig, aber wir haben – wie die Niederländer – einen vergleichbaren Zugang zum EU-Binnenmarkt. Es wäre integrationspolitisch und für unsere Verhandlungsposition sehr nachteilig, den Betrag zu verweigern.

Apropos Verhandlungsposition: Grossbritannien verlässt die EU. Ist das eine Chance für die Schweiz?

Blocher: Der Austritt zeigt, dass nicht alle Länder zufrieden sind mit den Zuständen in der EU. Aber es ist für die Schweiz keine Erleichterung. Die EU muss jetzt doppelt aufpassen, welche Zugeständnisse sie uns macht. Man sollte deshalb während der Brexit-Phase eigentlich gar nicht mit der EU verhandeln.

Kellenberger: Der Brexit ist für unser Land nicht besonders relevant. Wir haben es mit zwei total verschiedenen Situationen zu tun. Die Briten wollen keine binnenmarktrelevanten Verträge mehr mit der EU, wir schon.

Blocher: Grossbritannien steht vor viel grösseren Herausforderungen: Das Austreten ist ungleich komplizierter als das Nicht-Beitreten.

Inwiefern wird die EU durch den Brexit geschwächt?

Kellenberger: Der Brexit ist für Grossbritannien ein grosses Problem, für die EU weniger. Die EU wird 60 Millionen Einwohner weniger haben, bleibt aber die zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt. Grossbritannien war zudem nie eine progressive Kraft bei der Entwicklung der EU. Von daher ist der Brexit eine Chance für jene EU-Länder, welche die Beziehungen weiter vertiefen wollen.

Blocher: Finanziell ist es ein grosses Problem für die EU. Grossbritannien ist einer der grossen Beitragszahler.

Wenn es ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten und Einbindungen gäbe, würde das neue Perspektiven für die Schweiz eröffnen?

Kellenberger: Ich glaube nicht, dass dies die politischen Haltungen in der Schweiz gegenüber der EU entscheidend ändern würde.

Blocher: Ein wesentlicher Grund, weshalb die Schweiz nicht beitreten will, ist ja die direkte Demokratie. Bei jeder Art von Beitritt würde die Macht vom Schweizer Bürger auf das Brüsseler Rathaus übergehen. In den anderen Ländern verlagert sich die Macht lediglich vom einen Rathaus zum nächsten.

Kellenberger: Da bin ich anderer Meinung. Unsere staatliche Ordnung, der Föderalismus, aber auch die direkte Demokratie würden durch einen EU-Beitritt nicht grundsätzlich infrage gestellt. Es gäbe gewisse Referenden auf Bundesebene, die nicht mehr möglich wären, dafür könnten wir auf europäischer Ebene mitentscheiden. Auf kantonaler und kommunaler Ebene würde sich fast nichts ändern.

Blocher: Es ist nicht unwesentlich, ob zum Beispiel die EU unseren Mehrwertsteuersatz von heute 8 auf 15 Prozent festsetzt.

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