«Wir wären wahrscheinlich verdurstet» – Bergsteiger-Pionier Helmut Graupner über sonderbare Lawinen und einen Pinkel-Trick in der Antarktis
Interview

«Wir wären wahrscheinlich verdurstet» – Bergsteiger-Pionier Helmut Graupner über sonderbare Lawinen und einen Pinkel-Trick in der Antarktis

Alpenverein Edelweiss

Helmut Graupner war einer der ersten westlichen Alpinisten, die alle Siebentausender der früheren Sowjetunion bestiegen. Dafür erhielt er den Schneeleopard-Orden. Der heute 82-jährige Österreicher galt als Spezialist für Touren bei sehr tiefen Temperaturen. Um sich abzuhärten, duschte er 25 Minuten lang mit eiskaltem Wasser.

Marco Ackermann, Tullnerbach 9 min
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Der Schneeleopard-Orden ist eine der höchsten Auszeichnungen im Bergsteigen, in Russland hoch angesehen, in der westlichen Welt weniger bekannt. Den Orden erhält, wer die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion liegenden Siebentausender erklommen hat.

Laut der Datenbank russianclimb.com wurde der Orden in den letzten sechzig Jahren an rund 700 Personen verliehen. Als einem der Ersten aus dem deutschsprachigen Raum wurde die Ehre Helmut Graupner zuteil. Der Österreicher hatte zunächst die erforderlichen Gipfel im Pamir-Gebirge bestiegen: 1981 den 7134 Meter hohen Pik Lenin, 1982 den 7495 Meter hohen Pik Kommunismus (heute Ismoil Somoni) und 1984 den 7105 Meter hohen Pik Korschenewskaja.

Seine vierte und letzte Aufgabe war die komplizierteste, weil Nichtsowjets lange kaum Zugang hatten zum Tienschan-Gebirge, wo der 7010 Meter hohe Khan Tengri liegt, der nördlichste Siebentausender der Erde, der mit seiner Pyramidenform dem Matterhorn ähnelt. Auf diesem Berg stand Graupner 1989 – seither darf er sich als Schneeleopard bezeichnen.

Unterdessen wird für den Orden verlangt, auch den 7439 Meter hohen Pik Pobeda (heute Dschengisch Tschokusu) bezwungen zu haben. An diesem Berg schaffte es Graupner laut eigener Aussage 1992 nicht zum Zentral-, aber allein zum Westgipfel.

Graupner war ein Spezialist für Berge, an denen sehr tiefe Temperaturen herrschen. Er gehörte auch einer Expedition an, die im Jahr 2000 zum Mount Vinson lief, der höchsten Erhebung der Antarktis (4892 m ü. M.).

Heute ist Graupner 82-jährig und noch immer regelmässig in den Bergen unterwegs, auch als Tourenführer. Die NZZ hat ihn zu Hause in Tullnerbach bei Wien (350 m ü. M.) zum Interview getroffen.


Herr Graupner, wie war es für Sie, der aus dem Westen kam und in der Sowjetunion auf die höchsten Berge wollte?

Im Pamir-Gebirge gab es kein Problem. Da empfing die russische Bergsteiger-Nationalmannschaft immer wieder ausländische Gäste. Und mir half, dass es die österreichisch-sowjetische Gesellschaft gab, einen Verein, der sich für die Vernetzung der beiden Länder einsetzte. Aber im Tienschan-Gebirge war es schon etwas umständlicher.

Weshalb?

Es gab diesen Grenzkonflikt zwischen der Sowjetunion und China. Auf russischen Landkarten waren Teile des Tienschan auf russischem Boden eingezeichnet, während auf chinesischen Karten dasselbe Territorium zu China gehörte. Selbst für Sowjets konnte es zu jener Zeit heikel sein, sich im Tienschan vorzuwagen, weil China die Grenzen streng bewachte. Jene, die trotzdem da waren, berichteten von geheimnisvollen Bergen, die stark vergletschert seien. Als sich der Grenzkonflikt 1989 entschärfte, zog ich los. Wie nahe dort China ist, bekam ich dann auf sonderbare Weise zu spüren.

Erzählen Sie.

Als ich 1992 auf dem Abstieg vom Pik Pobeda war, lösten sich an der 3000 Meter hohen Nordwand plötzlich vier Lawinen. Die Schneemasse raste mit derart hohem Tempo durch den Talkessel, dass sie am gegenüberliegenden Hang 500 Meter in die Höhe schoss. Mein Glück war, dass ich davor sehr erschöpft gewesen war und an einer geschützten Stelle in einer Schneehöhle länger als geplant geschlafen hatte. Als die Lawinen kamen, war ich beim Frühstück und konnte erst noch eine schöne Fotoserie von dem Naturschauspiel machen.

Die Logistik war auf vielen von Helmut Graupners Touren eine Herausforderung.

Die Logistik war auf vielen von Helmut Graupners Touren eine Herausforderung.

Alpenverein Edelweiss / Privatarchiv
Helmut Graupner mit Sack und Pack – er war an so abgelegenen Orten, wo es keine Leute hatte, die er hätte als Helfer oder Träger anheuern können.

Helmut Graupner mit Sack und Pack – er war an so abgelegenen Orten, wo es keine Leute hatte, die er hätte als Helfer oder Träger anheuern können.

Alpenverein Edelweiss / Privatarchiv

Wo lag der Haken?

Als es vorbei war, erinnerte ich mich, wie ich kurz vor den Lawinen ein Grollen im Berg gehört hatte. Und mir wurde später bestätigt, dass die Chinesen am Südfuss des Gipfels unterirdisch wissenschaftliche Versuche durchgeführt hatten, bei denen es zu Explosionen kam. Diese müssen jene seismischen Wellen erzeugt haben, welche die Lawinen auslösten. Als Bergsteiger rechnest du mit vielem, jedoch nicht mit so etwas.

Aber es gibt doch auch viele normale Lawinen im Tienschan?

Schon, ja. Das hat mit der Lage des Gebirges und der Thermik zu tun. Von Norden kommen die kalten Winde, im Süden liegt die Taklamakan, die zweitgrösste Sandwüste der Erde. Das Gletscherwasser fliesst bis zu 7600 Meter in die Tiefe, verdampft in der Wüste und steigt in der heissen Luft wieder zu den Bergen auf. Dadurch kommt es oben häufig zu Niederschlägen. Manchmal sind die Berge wochenlang von Wolken umhüllt. Und weil es sehr kalt ist, kann sich eine Schneedecke bilden, die aussieht, als lägen lauter Styroporkugeln aufeinander. Kommt dann eine Lawine, fällt die Temperatur noch einmal um 15 Grad. Umso gefährlicher erscheinen mir Winterbesteigungen. Ich war im Sommer da, es war da schon kalt genug.

Von den Bergen, die für den Schneeleopard-Orden massgebend sind, heisst es, der Pik Lenin sei von den technischen Anforderungen her der leichteste und der Pik Pobeda der schwierigste. Können Sie das bestätigen?

Auf dieser Höhe gibt es keine einfachen Berge. Am Pik Lenin, an einer Stelle, wo ich biwakiert hatte, ereignete sich Jahre später das schwerste Unglück in der Geschichte des sowjetischen Bergsteigens. Nach einem Gletscherabbruch kamen 43 Menschen ums Leben. Was ich mit Sicherheit sagen kann: Der Pik Pobeda hat sich am tiefsten in meine Erinnerung eingeprägt.

Warum?

Weil ich am Pobeda bei widrigsten Bedingungen eine Woche lang allein in meinem Zelt auf 6500 Metern ausgeharrt hatte, bis ich endlich zum Westgipfel aufbrechen konnte. Die anderen Alpinisten waren alle schon umgekehrt, zum Teil mit Erfrierungen. Aber ich wollte den Berg nicht aufgeben. Und diese Einsamkeit weckte in mir Instinkte, die in unserem überzivilisierten Alltag verschüttet sind. Plötzlich waren meine Sinne viel schärfer. Ich hatte da oben ja nur mich, einen Bleistift, mein Tagebuch, kein Funkgerät, dafür aber diesen Satz, der mich ständig begleitete: «Kein Berg ist es wert, darauf zu verrecken.» Ich kam quasi in einen meditativen Zustand. Und war den Menschen, zu denen ich eine enge Verbindung hatte, so nahe wie selten.

Hat Ihnen dieses Bewusstsein das Leben gerettet?

Möglicherweise. Eines Morgens war der Himmel stahlblau, nachdem ich fast eine Woche lang nur hatte kochen, essen, trinken, schlafen und warten können. Die Chance, endlich zum Gipfel zu gelangen, erschien ideal. Doch als ich um die erste Felskante bog, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Der Wind hatte eine eigenartige Melodie, vor allem einen so lauten Unterton. Und ich sagte mir: «Helmut, irgendetwas passt heute nicht.»

Wie reagierten Sie darauf?

Ich kehrte in mein Zelt zurück und kochte einen Tee. Drei Stunden später tobte ein Schneesturm, den ich kaum überlebt hätte. Tags darauf war der Himmel wieder stahlblau, jedoch fehlte der laute Ton im Wind – und ich schaffte es zum Gipfel. Diese Tour dauerte 19 Tage, so lange, dass mich Freunde unten bereits aufgegeben hatten.

Sind die Sowjets im Bergsteigen tatsächlich so unsentimental, wie es auch schon dargestellt wurde?

Ich habe es anders wahrgenommen. An gewissen Bergen wurde für jeden Russen, der da verstorben war, ein Steinmännchen aufgebaut. Und als ich 1983 ein erstes Mal zum Pik Korschenewskaja wollte, kam in der Nähe ein Freund von mir ums Leben. Vielfach kommen Tote am Berg einfach in die nächste Gletscherspalte. Aber die russische Bergsteiger-Nationalmannschaft sorgte dafür, dass er zurück in die Zivilisation kam und eingeäschert werden konnte. Obwohl es riskant war, mit der Leiche vom Berg abzusteigen. Um sie besser transportieren zu können, hatten sie eine Plastiktonne aufgeschnitten, die dann als Schlitten für meinen Freund diente. Zum Dank wollten wir den Sowjets moderne Ausrüstungsgegenstände schenken.

Helmut Graupner erreichte im Jahr 2000 den Mount Vinson, den höchsten Punkt der Antarktis.

Helmut Graupner erreichte im Jahr 2000 den Mount Vinson, den höchsten Punkt der Antarktis.

Alpenverein Edelweiss / Privatarchiv

Und, haben sie diese angenommen?

Nein, obwohl sie diese wirklich hätten gebrauchen können. Stattdessen legten sie Zigarettenschachteln neben unsere Eispickel und Steigeisen, um eine Grössenvorstellung von unserer Ausrüstung zu haben, und fotografierten dies ab. Womöglich, um unser Material nachzubilden. Ein paar von ihnen waren in Flugzeugfabriken beschäftigt und hatten wohl Zugang zu hochwertigen Baustoffen.

Wie schätzen Sie die Schwierigkeiten an den sowjetischen Siebentausendern ein, zum Beispiel im Vergleich mit jenen an den Achttausendern im Himalaja?

Ich war nie auf einem Achttausender, deshalb bin ich vorsichtig. Was ich weiss: Der Khan Tengri und der Pobeda liegen ähnlich weit nördlich zum Mount Everest wie die Alpen zur Sahara. Und diese Lage macht diese Berge besonders kalt. Die Luft fühlt sich da oben an, als stündest du auf einem höheren Gipfel, weshalb für den Khan Tengri und für den Pobeda auch Achttausender-Erfahrung empfohlen wird.

Gibt es noch andere Unterschiede?

Die sowjetischen Berge sind sicher touristisch noch weniger erschlossen, die Infrastruktur ist weniger fortschrittlich. Als ich in den achtziger Jahren da kletterte, hatte es nur wenige Fixseile, und einige waren vom Steinschlag zerfressen. Und weil diese Berge so abgelegen sind, hatten wir dort keine Leute gefunden, die wir als Helfer oder Träger hätten anheuern können.

Wie kommt es, dass Sie nie auf einem Achttausender standen?

Ich arbeitete im Aussendienst einer Firma, bei der immer Hochkonjunktur herrschte, wenn die Bedingungen für eine Achttausender-Besteigung günstig gewesen wären. Als ich mit 60 in Pension ging, nahm ich mir zwar noch einmal eine grosse Tour vor. Doch da kam diese Chance, mich der Expedition zum Mount Vinson anzuschliessen, dem höchsten Punkt der Antarktis. Ein Angebot, das ich als Spezialist für Polarberge nicht ausschlagen konnte. Obwohl sie mich ein Vermögen kostete.

Wie haben Sie sich abgehärtet, um den minus 60 Grad in der Antarktis zu trotzen?

In den Wochen vor der Reise hatte ich regelmässig mit eiskaltem Wasser geduscht; zuerst 3 Minuten lang, dann 5 Minuten, am Ende 25 Minuten. Und wenn ich jeweils auf Skitour ging, nahm ich Schneebälle in meine ungeschützten Hände.

Wie muss man sich Ihre Bekleidung in der Antarktis vorstellen?

Eine Neoprenmaske fürs Gesicht. Dreischalige Schuhe, die bis zu den Knien reichen. Und mindestens drei Paar Handschuhe. Zuerst zog ich die seidenen an, dann die Windstopper, am Schluss die Daunenfäustlinge. Bei den Fäustlingen wendete ich einen Trick an. Ich verband sie über Schnüre mit meinem Körper, wie man es von Babys kennt. Damit sie nicht weggeblasen werden konnten, wenn ich am Pinkeln war. Einen Handschuh zu verlieren, wäre sehr gefährlich gewesen.

Konnte Sie in der Antarktis noch irgendetwas überraschen?

O doch. Auf dem Weg zum Gipfel beschlug meine Brille. Sie sah aus wie ein Fenster voller Eisblumen. Und weil es mir mit den Ersatzgläsern gleich erging, musste ich ohne Brille vom Berg absteigen. Ich hatte nur einen minimalen Spalt, um zu schauen, wo der nächste Tritt ist. Meine Wimpern froren im Gegenwind ein. Und ich bekam so grosse Bedenken, dass ich meinen Zeltgenossen, einen Augenarzt, fragte: «Werde ich schneeblind?» Er hatte noch so viel Humor, um mir zu antworten: «Das werden wir schon sehen.»

Sie waren zu viert unterwegs, andere Expeditionsteilnehmer waren davor schon mit Ski am Nordpol gewesen. War Ihre Gruppe perfekt zusammengestellt?

Ein Team aus vier Personen bietet sich sicher an. Mehr Leute hätten das Risiko erhöht, aber nicht die Sicherheit verstärkt. Und weniger Leute sind schlecht für den Fall, dass ein Verletzter Hilfe benötigt.

1982 bezwang Helmut Graupner den 7495 Meter hohen Pik Kommunismus (heute Ismoil Somoni).

1982 bezwang Helmut Graupner den 7495 Meter hohen Pik Kommunismus (heute Ismoil Somoni).

Alpenverein Edelweiss / Privatarchiv
Helmut Graupner (links) in Begleitung in seinen geliebten Bergen.

Helmut Graupner (links) in Begleitung in seinen geliebten Bergen.

Alpenverein Edelweiss / Privatarchiv

Aber trotz dem geballten Know-how gerieten Sie in brenzlige Situationen.

Ja, und einmal wurde es gar lebensbedrohlich. Wir hatten zwei Benzinkocher dabei, um Feuer zu machen für Essen und Trinken. Doch schon nach kurzer Zeit ging keiner mehr. Wir waren davon ausgegangen, dass mindestens einer immer funktioniert. Unser Essen war tiefgefroren. Und, noch schlimmer, wir konnten so nichts mehr schmelzen, was wir uns als flüssige Nahrung hätten zuführen können. Wir wären also wahrscheinlich verdurstet. Denn wir hatten keine Möglichkeit, Hilfe anzufordern, weil wir keinen Kontakt nach aussen hatten. Der Pilot hatte uns abgesetzt und gesagt, er komme in zwei bis drei Wochen wieder – falls es das Wetter zulasse. Zum Glück hat der Augenarzt den einen Kocher nach drei Stunden wieder zum Laufen gebracht.

Haben Sie alles erreicht, was Sie sich vorgenommen hatten?

Durchaus. Ich hielt Vorträge, um die Berge des Schneeleopard-Ordens im Westen bekannter zu machen, und konnte damit etwas zur Völkerverständigung beitragen. Ich habe noch alle meine zwanzig Zehen und Finger. Und es geht mir mit 82 derart gut, dass ich davon träumen darf, noch einmal diese exsowjetischen Gebirge zu bereisen.

Sind Sie einem echten Schneeleoparden überhaupt je begegnet?

Als ich einmal an einem zentralasiatischen Gipfel übernachtete, hatte es am anderen Tag neben meinem Zelt Spuren im Schnee, die auf einen Schneeleoparden hindeuteten. Er stattete mir einen Verwandtschaftsbesuch ab. Aber zu Gesicht bekommen habe ich den König des Hochgebirges nie. Denn nur jemand zeigt sich dem Menschen noch seltener als er: der Yeti.

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