Das Debakel des FC Messi: Nach der historischen Niederlage gegen Liverpool kulminieren die europäischen Verirrungen im FC Barcelona

Der FC Barcelona war im Champions-League-Halbfinal in Liverpool planlos. Trotz dem Gewinn der spanischen Meisterschaft ist diese Seite des FC Barcelona nicht neu. Das Team hat in den letzten zwei Jahren schon andere Debakel in der Champions League erlebt. Der Höhepunkt wurde aber an der Anfield Road erreicht.

Florian Haupt, Barcelona
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Lionel Messi braucht nach der 0:4-Niederlage an der Anfield Road nichts zu sagen - sein Gesicht spricht Bände. (Bild: Peter Powell / EPA)

Lionel Messi braucht nach der 0:4-Niederlage an der Anfield Road nichts zu sagen - sein Gesicht spricht Bände. (Bild: Peter Powell / EPA)

Am Tag nach der grossen Niederlage sind die Titelseiten der Sportpresse schwarz. Die Stimmen sind leiser, die Gesichter ernster, die Chats leerer, und selbst die Touristen am Flughafen von Barcelona kommentieren verächtlich ein Werbeplakat: «Barça-Getafe, well . . .»

Am Sonntag steigt Barcelonas letztes Heimspiel der Saison. Es könnte zum Tribunal werden. Wenn überhaupt noch jemand hingeht aus einer Stadt, in deren Smog sich zuletzt die Sirenen eines möglichen Triples gemischt hatten. Die aber jetzt das fatale 0:4 von Liverpool zu beklagen hat und wohl das Ende einer Ära.

«Es gibt keine Entschuldigung», sagte Ernesto Valverde, der Trainer. «Es gibt keine Erklärung», sagte Josep Maria Bar­­tomeu, der Präsident. Und der Kapitän? Der sagte gar nichts, aber sein Gesicht sagte alles. Der Blick von Lionel Messi beim Verlassen des Rasens liess sich irgendwo zwischen indigniert und apathisch einordnen.

Wie für Messi die Autobahn zum Weltfussballer des Jahres, so schien für Barça nach dem 3:0-Hinspielsieg diejenige zum Champions-League-Finale planiert. Dieser Eindruck drängte sich aufgrund der Arithmetik auf. Doch es verrät einiges über «das schwärzeste Kapitel der Geschichte» («Sport»), dass intern schon vorher manche Zweifel herrschten. «Hoffentlich müssen wir daran nicht noch einmal zurückdenken», sagte der Sportdirektor Guillermo Amor nach dem Hinspiel. Er meinte die verschluderte Grosschance von Ousmane Dembélé zu einem möglichen 4:0 Sekunden vor Schluss. Messi äusserte sich ähnlich, dazu warnte er vor dem Mythos Anfield Road. Und wer am Vorabend des Rückspiels genau hinhörte, konnte sich nur wundern. Man dürfe nicht die Spielkontrolle verlieren, sagte der Stürmer Luis Suárez. An die Spielkontrolle zu denken, wäre ein Fehler, sagte Valverde.

Planlos wie schon mehrfach

Dieses Team hatte schon in den K.-o.-Runden der letzten zwei Jahre mit 0:4 in Paris, 0:3 in Turin und 0:3 in Rom verloren, und auch wenn solche Debakel immer gern an der Einstellung festgemacht werden: Barça war in Liverpool nicht sorglos. Es war planlos, wie seit geraumer Zeit auswärts gegen Rivalen, die powern mit Physis und Jugend. Als Liverpool das zweite Tor schoss, wurde aus Verunsicherung Panik. Auf das dritte Tor zwei Minuten später folgte die Paralyse: das 0:4 durch einen Eckentrick der Engländer, ein «Tor aus dem Kinderfussball», wie Luis Suárez zürnte.

Camp Nou 3, Anfield Road 4 – und eine Wahrheit wie ein Tempel: Die Liverpooler hatten in ihrem Auswärtsspiel mutig versucht, die Elemente des Europacups zu zähmen; am Ende wurden sie über Gebühr geschlagen. Barça hingegen hatte in seinem Auswärtsspiel kein fussballerisches Gegenmittel, sondern nur die Hoffnung, dass es schon irgendwie gutgehen würde. Paris, Turin, Rom – Liverpool. Natürlich, es war ein Wunder. Aber es war auch die Chronik eines angekündigten Todes.

Die Geschichte dieses Klubs hat vergleichbare Spielsituationen gekannt. Auf dem Weg zum ersten Champions-League-Sieg 1992 blickte man beim Stand von 0:3 in Kaiserslautern dem Ausscheiden ins Gesicht, als in der 89. Minute ein Kopfball des kleingewachsenen José Mari Bakero die Erlösung brachte. Auf dem Weg zum ersten Titel unter Josep Guardiola 2009 rettete ein mythisches Last-Minute-Tor von Andrés Iniesta in Unterzahl das Weiterkommen bei Chelsea. In Liverpool aber fehlte Kraft, Glaube, alles. Das Team hat einen langen Zyklus hinter sich, Spieler wie Messi, Busquets oder Piqué waren schon 2009 dabei. Jetzt geht es dem Ende entgegen, die Aussicht auf ein nationales Double kann daran nichts ändern. Messi hatte seit dem Sommer die Champions League als Mass aller Dinge ausgegeben. Nun muss er sich daran messen lassen.

Der Kontrast mit Sieger Liverpool illustriert den Nihilismus Barcelonas. Wo Jürgen Klopps Team auch unabhängig von Ergebnissen begeistert, ist bei den einstigen Schönspielern das Resultat zum Götzen geworden. «Wenn wir nur eine Chance genutzt hätten, stünden wir im Finale», klagte der Trainer nach Spielschluss, als ob Liverpool nicht den Eindruck erweckt hätte, notfalls auch fünf Treffer erzielen zu können. Valverdes Denken hat sich als sehr klein für die Champions League erwiesen, seine Zukunft ist jetzt ungewiss. Doch die Erkenntnisse gehen über den Coach hinaus. Wo es für Liverpool so unwahrscheinliche Helden wie Divock Origi und Georginio Wijnaldum richteten, bedeutet Anfield nicht zuletzt auch ein Desaster für den FC Messi.

Herrscher über den Verein

Es reicht eben doch nicht immer, alles Talent hervorragender Fussballer in den Dienst eines noch hervorragenderen Fussballers zu stellen und diesen nicht nur zum Gott zu erhöhen, sondern auch zum eigentlichen Herrscher über den ganzen Verein. 100 Millionen Euro brutto jährlich für den Superstar, dazu ein paar Transfers – das ersetzt eine Vision nur, solange man gewinnt. Wo Barça einst den Verlust seines stilbildenden Trainers Josep Guardiola mit dem Einkauf von Superstar Neymar beantwortete, reagierte es auf die Abwerbung von Neymar durch Paris St-Germain mit denselben Mitteln wie die neureichen Franzosen: Geld und ein aggressives Transfermarkt-Gebaren. Philippe Coutinho etwa wurde so lange der Kopf verdreht, bis er Liverpool verlassen durfte. Nun passte der Brasilianer in einer entscheidenden Szene aus exzellenter Schussposition lieber weiter zu Messi. Gegen seinen Ex-Verein war Coutinho einer der schwächsten Spieler im gesamten Vergleich, was wieder einmal zeigt, dass der Fussball seine Urteile nicht nur gern in grossen Nächten spricht. Sondern auch durch maliziöse Symbolik.

Eine «profunde Reflexion» hat Präsident Bartomeu angekündigt. Messi, Suárez, Piqué, Busquets, Jordi Alba – alle sind über 30 Jahre alt. Es ist insofern vorgesorgt, als mit dem bereits verpflichteten Frenkie de Jong von Ajax und wahrscheinlich auch seinem Vereinskollegen Matthijs de Ligt die Säulen der nächsten Epoche bereitstehen. Barça bleibt zu hoffen, dass sie nicht nur die Jugend zurückbringen. Sondern auch die Kraft der kollektiven Verführung.

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