Die Nationalmannschaft thront im Verband auf einem Sockel, wird gepflegt und gehätschelt - doch wie weit darf die Sonderstellung gehen?

Vor der EM 2021 ist an der Spitze des Schweizerischen Fussballverbands fast nichts mehr so, wie es an der WM 2018 in Russland war. Die Turbulenzen um Valon Behrami, Doppeladler und Doppelbürger führten zu Zäsuren – personell und strukturell. Dabei hat der Nationaltrainer Vladimir Petkovic seine Machtbasis gestärkt.

Peter B. Birrer
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Valon Behrami und der Nationaltrainer Vladimir Petkovic im Jahr 2018 – eine nicht nur harmonische Beziehung.

Valon Behrami und der Nationaltrainer Vladimir Petkovic im Jahr 2018 – eine nicht nur harmonische Beziehung.

Laurent Gillieron / Keystone

Wenn ein Fussballturnier naht, erklingt die Sinfonie der Hoffnung. Eine EM-Endrunde setzt Wegweiser. Laurent Prince, früher Technischer Direktor im Schweizerischen Fussballverband SFV, sagt: «Alle im Verband wissen: Alles wird am Erfolg des A-Teams gemessen. Wenn es Europameister wird, ist alles supergut, Wenn es nach drei Spielen vorbei ist, ist nichts mehr gut. Der vierte Turnier-Match kann über die nächsten zwei bis vier Jahre entscheiden.»

Der vierte Match ist der Achtelfinal, den die Schweizer in der Neuzeit noch nie überstanden haben. An der WM 2018 in Russland blieben sie an Schweden hängen (0:1). Das Resultat war nicht der Stein des Anstosses, nein, es war die blutleere Art und Weise, wie es zustande kam. Das Team und der Verband waren in Turbulenzen geraten, es ging davor und danach um Doppeladler und Doppelbürger, um Energieverluste, um heikle Gesten und Äusserungen, die in die Krise und zu Zäsuren und Änderungen in der oberen Etage des Verbandes führten.

Peter Gilliéron war während Jahrzehnten im SFV tätig und 2018 dessen Präsident. Nicht nur er sagt: «Sind die Resultate gut, redet man schnell wieder über Fussball.» Der Gedanke ist verlockend, was geschehen wäre, hätten die Schweizer 2018 den WM-Viertelfinal erreicht. Doch daraus wurde nichts, weil das Team und der Verband nicht frei von Problemzonen waren. Personell und strukturell.

Die Auswahl mit Sonderstatus

Das Nationalteam hat allein deshalb Vorrang, weil der Verband ökonomisch zu 50 bis 75 Prozent von ihm abhängig ist – via TV-Vertrag, Ticketing, Sponsoring, Fifa- bzw. Uefa-Prämien. Die Euro 2016 warf 11 Millionen Euro Prämien ab, an der Euro 2021 beträgt allein die von der Uefa erhöhte Antrittsgage über 9 Millionen. Im EM-Erfolg steigen die Einnahmen in Millionen-Schritten.

Die Nationalmannschaft thront auf einem Sockel, durchleuchtet, gepflegt, gehätschelt, als Projektionsfläche überhöht. Der Verband ist auf sie angewiesen, weil sie die Förderung anderer Abteilungen ermöglicht: Frauen, Nachwuchs, Schiedsrichter. Das ist eine zentrale Prämisse.

Grosse Stars, kleiner Verband

Früher bestückte die heimische Liga das Nationalteam. Doch heutzutage sind fast alle Spieler im Ausland unter Vertrag. Damit steigen die Ansprüche in Bezug auf die Infrastruktur.

Dieser Einfluss tue primär gut, sagt Peter Gilliéron, «er zwingt den Verband, professioneller zu werden.» Professionalisierung ja, Luxus-Varianten nein. Dem SFV sind Limiten gesetzt. Gilliéron sagt: «Die Spieler wissen um die finanziellen Grenzen des Verbandes. Sie wissen, was das Nationalteam für ihre Karriere bedeuten kann. Da ist auch Dankbarkeit, vielleicht noch mehr als früher.» Sie partizipieren zu einem Drittel an den EM-Prämien, aber die sind für sie im Vergleich zum Bundesliga-Lohn vernachlässigbar.

Auf die Dankbarkeit weist auch Laurent Prince hin: «Die Auswahlen haben schon im Nachwuchs Gewicht, weil sie ein Stück Kindheit und Heimat sind. Viele sind zusammen gross geworden, das zieht sich wie mit Klassentreffen weiter.» Dennoch manifestieren sich auch immer wieder Ansprüche, weil nicht mehr die Super League, sondern die Premier League als Referenz gilt. Der SFV kann mit der Qualität der Trainingsplätze von Arsenal nicht mithalten. Spieler fordern locker Direktflüge, die einen sechsstelligen Betrag kosten und anderswo Alltag sind. Von Spannungsfeldern zeugt auch jener Spieler, der bemerkt, im Nationalteam innert Kürze so viele Interviews gegeben zu haben «wie im Klub im ganzen Jahr».

Die Auswahl als Volksgut. Das zieht Öffentlichkeitsarbeit mit sich, gegen die sich der Trainer Vladimir Petkovic bisweilen krass sträubte. Von Spielern wird die Kommunikationsabteilung dazu angehalten, «uns mehr zu schützen und weniger zu grillieren». Öffnung contra Abschottung.

Vladimir Petkovic (links) und Peter Gilliéron, der Präsident des Schweizer Fussballverbandes, vor dem Abflug zu einem WM-Qualifikationsspiel im Juni 2017.

Vladimir Petkovic (links) und Peter Gilliéron, der Präsident des Schweizer Fussballverbandes, vor dem Abflug zu einem WM-Qualifikationsspiel im Juni 2017.

Georgios Kefalas / Keystone

Der Fall Behrami

An der WM 2018 musste der SFV im Fall Valon Behrami abwägen. Der Spieler nahm sich Privilegien heraus. Einzelzimmer, Besuche im Hotel. Dass Behrami mit der Skirennfahrerin Lara Gut liiert ist, verstärkte die Kraft des Scheinwerfers. Was tun, wenn Lara Gut im Hotel auftaucht? Der frühere SFV-Generalsekretär Alex Miescher wollte Grenzen setzen. Einmal kam es in einem russischen Hotel zu einem verbalen Konflikt zwischen den beiden, bei dem sogar ein Ständer zu Boden fiel. Heute sagt Gilliéron: «Man kann in den Haufen stechen und den Konflikt annehmen. Oder man wartet und schaut, ob sich das von selbst löst. Am Ende entscheiden die Resultate, ob sich etwas entlädt oder nicht.»

Gilliéron sucht den Konsens und scheut den Konflikt. Im Fall Behrami manifestierten sich Konfliktlinien in der Verbandsführung. Miescher schritt als «bad guy» ein, Gilliéron zögerte, liess laufen, einige duckten sich, viele schwiegen. Man kann sich ausmalen, was ein Hausverbot für Lara Gut ausgelöst hätte.

Claudio Sulser war damals Delegierter des Nationalteams, also der Vorgesetzte des Nationaltrainers Vladimir Petkovic. Sulser weiss, wie sich ein Fussballer durchsetzt, wie er Vorzugsbehandlung erlangt. Sulser war in den 1980er Jahren einer der besten Schweizer Stürmer. Meistertitel mit GC, Europacup, 50 Länderspiele. Einmal wollte er vor einem wichtigen Cup-Spiel gegen den FC Basel einen Trainingsdispens. Der strenge GC-Trainer Helmuth Johannsen liess Sulser für den Kurztrip ins Tessin gehen und sagte: «Sie wissen, was Sie zu tun haben.» GC gewann gegen Basel. Sulser hat heute noch Verständnis für Behrami.

Er weiss auch, wie es ist, wenn Verletzungen das Fussballer-Leben behindern und Diskussionen einsetzen. Er litt einmal an einer Oberschenkelzerrung und musste auf ein Länderspiel verzichten. «Das verschlechterte mein Befinden, dazu trug auch die Debatte darüber in den Medien bei. Ich verlor den Fokus, war unzufrieden, genervt.» Behrami entwickelte eine Leidenskultur, rieb sich auf, rechtfertigte Privilegien nur noch punktuell und zog zu viele Diskussionen an. Das setzte der Auswahl zu.

Vladimir Petkovic (links) mit dem damaligen Delegierten der Schweizer Nationalmannschaft, Claudio Sulser.

Vladimir Petkovic (links) mit dem damaligen Delegierten der Schweizer Nationalmannschaft, Claudio Sulser.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Die Doppeladler-Affäre

Bezeichnenderweise war 2018 nicht der Achtelfinal, sondern das zweite WM-Gruppenspiel gegen Serbien (2:1) der emotionale Höhepunkt – die Tore, die Gesten mit dem Doppeladler vor dem serbischen Anhang. Mit Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri, den zwei Torschützen mit kosovarischen Wurzeln, gingen die Pferde durch. Sekundiert wurden sie vom Captain Stephan Lichtsteiner. Im SFV war schnell klar, dass das Vorgefallene heruntergespielt werden muss. Der Strategie war auch darum Erfolg beschieden, weil der Jurist Sulser als Fifa-Kenner wusste, wie er die Sachlage temperieren kann. Es gab eine Busse statt der erwarteten Spielsperren.

Die Lage verkomplizierte sich, weil die Wahrnehmung im Stadion eine andere war als diejenige in der Schweiz vor den (Gross-)Bildschirmen. Es gibt wie immer zwei Welten. Diejenige im Turnier und diejenige in der Schweiz. Dessen ist sich der Trainer Petkovic auch in anderem Zusammenhang bewusst. So ist es Usus geworden, den Spielern an Turnieren Jubel- und Massenbilder des Public Viewing in der Heimat vorzuführen.

Vom Doppeladler wurden alle überrascht, obschon die heisse Temperatur im Spiel gegen Serbien im Stadion fühlbar war. Bände spricht, dass im Rückblick Reaktionen geschildert werden, die auf die Unterschätzung des Themas hindeuten. So empfanden Personen im SFV die Gesten zuerst als «lustig» und «nicht politisch». Doch das Fernsehen und dessen x-fache Wiederholung der Bilder im Grossformat waren Brandbeschleuniger. Dem SFV gelang es, den Schaden einzudämmen. Die Argumentationslinie: Das war ein emotionaler, kein politischer Akt.

Auch hier ist Sulser wieder ganz Spieler. Er sagt: «Ein WM-Spiel ist Adrenalin. Die Spieler müssen den Match gewinnen, da kann man nicht alles verhindern.» Er erinnert sich an ein Spiel mit GC, als er im Kampf gegen den harten Stuttgarter Verteidiger Karlheinz Förster spuckend die Nerven verlor und des Feldes verwiesen wurde. «Ich hätte nie geglaubt, zu einem solchen Kontrollverlust fähig zu sein», sagt Sulser heute. Das ist die Hitze des Moments, die nicht immer kanalisiert werden kann. An einem Turnier rate niemand den Spielern allen Ernstes zur Zurückhaltung, sagt Sulser.

Aber eben: Das Ausmass der Doppeladler-Affäre steht auch für den Sonderstatus der Auswahl. Man ist nicht in der Anonymität, sondern unter dem Brennglas. Das manifestierte sich auch, als der frühere SFV-Generalsekretär Alex Miescher ausgerechnet im Nachgang zum WM-Aus ohne Absprache die Doppelnationalitäten thematisierte und mögliche Fragen im SFV öffentlich machte, wonach die Türen zu den Förderprogrammen nur für diejenigen offen sein könnten, «die auf eine Doppelnationalität verzichten». Doppeladler, Doppelbürger. Sturm.

Valon Behrami, Granit Xhaka, Stephan Lichtsteiner (vorne von links) an der WM 2018 in Russland, im Spiel gegen Serbien: Doppeladler-Gesten mit Folgen.

Valon Behrami, Granit Xhaka, Stephan Lichtsteiner (vorne von links) an der WM 2018 in Russland, im Spiel gegen Serbien: Doppeladler-Gesten mit Folgen.

Laurent Gillieron / Keystone

Der Trainer

Überrollt vom Doppeladler wurde damals auch Vladimir Petkovic, der 2014 auch wegen seines Balkan-Hintergrunds Nationaltrainer wurde. Seine Haltung war: «Ich bin für den Sport zuständig.» Die Verbandsführung blieb zu weit weg. Mit dem Doppeladler fand sich das Team aber mitten in der Politik wieder, die man zuvor auszugrenzen versucht hatte. Die Affäre zeigt, wie die Auswahl auch als Satellit mit dem SFV verbunden bleibt. Sport ja, aber da gibt’s auch Politik, mit der sich jemand befassen müsste. Petkovic schwieg. Womöglich hatte er auch vor dem Spiel zu oft geschwiegen. Wortlos verflüchtigen sich solche Reizthemen selten. Auch den Fall Behrami mussten andere lösen.

Die Sonderbehandlung der Auswahl führt zum Sonderstatus des Nationaltrainers. «Er hält den Schlüssel in den Händen», sagt Prince. «An ihm orientieren sich die Spieler, er setzt Leitplanken, und nur er», ergänzt Sulser. Dass Petkovic als einzige Führungsperson von 2018 immer noch da ist, ist auf die Resultate zurückzuführen, auf die Entwicklung und die Reaktionsfähigkeit des tendenziell überschätzten Teams. «Für diese Mannschaft ist er ideal. Er findet den Zugang», sagt Gilliéron. Da nimmt man Mängel in Kauf. Der SFV hat sich mit dem sich in der Kommunikation renitent verhaltenden Petkovic oft gerieben. Aber am Ende entscheiden nicht TV-Interviews, sondern Resultate.

Seltsam war, dass Petkovic am Tag nach dem rätselhaften WM-Ende der Medienkonferenz fernblieb und wochenlang nichts mehr von sich hören liess. Doch die Verbandsführung schritt nicht ein, und es ist umstritten, ob und wie die Kommunikationsabteilung den Coach zum Erscheinen aufforderte. Petkovic wurde zu lasch geführt, das ist aus heutiger Sicht offensichtlich. Sulser hatte den Arbeitsaufwand von Beginn weg unterschätzt, stand Petkovic nahe und konnte oder wollte nicht handeln, Gilliéron ebenso wenig; Miescher hatte zwar eine klare Linie, drängte sich aber vor und schlüpfte in eine Rolle, die andere hätten ausfüllen müssen. Da war keine Einheit, was sich negativ auf die Vertrauensbasis auswirkte. «Ich hätte mehr eingreifen müssen», wirft sich Gilliéron heute vor. Sulser spricht davon, dass «die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Gilliéron, Miescher und mir spezifischer hätten geregelt und kommuniziert werden müssen, gegen aussen, aber auch gegenüber dem Team». Das Versäumnis werfe er sich heute vor.

Das Nationalteam wird immer ein Satellit sein. Auszuloten ist, inwiefern der Kontakt zum SFV-Planeten erhalten bleiben muss. Oder auf den Trainer bezogen: inwiefern er sich abkoppeln und verselbständigen darf. Das Phänomen war bereits im letzten Drittel der Zeit mit dem Trainer Köbi Kuhn (2001–2008) und in der Ära Ottmar Hitzfeld (2008–2014) ein Dauerthema.

Der Nationalcoach braucht Resultate und weniger ein gutes Einvernehmen mit den Medien, dem Verband und dessen Nachwuchsabteilung.

Petkovics starke Hand war bis in die U-21-Auswahl spürbar und führte zu Reibungen. Es gibt Gründe, weshalb die U 21 zwischen 2011 und 2021 alle Endrunden verpasste. Einer ist, dass Petkovic U-21-Spieler wie Breel Embolo, Denis Zakaria und Nico Elvedi direkt in die A-Auswahl beorderte – wenn auch oftmals nur für die Ersatzbank. Petkovic wollte, dass sie im A-Team schnuppern. Darunter litt aber die U 21, deren Erfolg gleichzeitig für die Super League immer wichtiger wird. Eine U-21-Endrunde erhöht den Transferwert der jungen Spieler. Aber davon profitieren weder Petkovic noch der Verband, der alles für die A-Auswahl und weniger für die an sich defizitäre U 21 tat. Das blieb nicht ohne Konsequenzen.

Alles für Petkovic. Nationaltrainer sein ist auch ein Ego-Projekt.

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