Der Dopingfall Flückiger zeigt: Im Schweizer Sportrecht spitzt sich eine Krise zu

Immer häufiger scheitert Swiss Sport Integrity mit Massnahmen im Doping- und Ethikbereich an der Disziplinarkammer von Swiss Olympic. Das Vertrauen unschuldiger Athleten ins System leidet.

Sebastian Bräuer 6 min
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Der Mountainbiker Mathias Flückiger darf wieder Rennen bestreiten, das Dopingverfahren ist aber noch nicht abgeschlossen.

Der Mountainbiker Mathias Flückiger darf wieder Rennen bestreiten, das Dopingverfahren ist aber noch nicht abgeschlossen.

Maxime Schmid / Keystone

Für die Schweizer Rollstuhl-Curler waren die Paralympischen Spiele 2022 zum Vergessen, das Team belegte in Peking den elften und letzten Platz. Besser hätte es nicht kommen können, denn bei einem erfolgreichen Abschneiden hätten unterlegene Gegner einen plausiblen Grund gehabt, juristisch gegen die Schweiz vorzugehen.

Wenige Wochen vor dem Turnier war die Curlerin Françoise Jaquerod positiv auf die verbotene Substanz Hydrochlorothiazid getestet worden. Swiss Sport Integrity (SSI), die Nachfolgeinstanz von Antidoping Schweiz, sprach sich für eine längere Sanktion aus. Die Disziplinarkammer von Swiss Olympic (DK) sperrte die Athletin jedoch nur für zehn Tage. Jaquerod trat in Peking an, die äusserst kurze Strafe hatte sie bis zum Beginn der Spiele bereits abgesessen.

Fälle dieser Art lassen zunehmend den Schluss zu, die Disziplinarkammer, die in der Schweiz für Dopingverfahren verantwortlich ist, gehe allzu gnädig mit Beschuldigten um. Schon ein entsprechender Eindruck ist gefährlich, denn er beschädigt das Vertrauen unschuldiger Athleten ins System. Auf Dauer kann der Spitzensport nur funktionieren, wenn die Protagonisten davon ausgehen, dass alles für möglichst faire Rahmenbedingungen getan werde.

Nachsichtige Urteile der DK beschädigen potenziell nicht nur das Image der Sportgerichtsbarkeit – sie helfen oft nicht einmal den Betroffenen. Denn die nächste Instanz, der Internationale Sportgerichtshof (TAS), kann die Urteile jederzeit revidieren. Im Fall der Curlerin Jaquerod erhöhte das TAS die Sperre nachträglich auf sechs Monate. Der SSI-Direktor Ernst König fühlte sich bestätigt, er sagt: «Wir hielten eine Dopingsperre von lediglich zehn Tagen für äusserst seltsam.»

Wieder einmal waren sich die beiden Schweizer Instanzen, SSI und DK, vor einem der wichtigsten Wettkämpfe uneins gewesen. Ähnliches passierte vor den Olympischen Sommerspielen 2021, als SSI nach einer positiven Dopingprobe den Sprinter Alex Wilson suspendierte, die DK die Sanktion jedoch wieder aufhob. Seinerzeit gab König zu Protokoll: «Mich hat der Entscheid überrascht und enttäuscht.»

Der Sprinter Alex Wilson wurde für vier Jahre gesperrt, obschon er einen prominenten Berater hatte.

Der Sprinter Alex Wilson wurde für vier Jahre gesperrt, obschon er einen prominenten Berater hatte.

Olaf Rellisch / Imago

Wäre es nach der DK gegangen, hätte Wilson in Tokio um eine Medaille sprinten können, ohne dass seine Gegner auch nur vom laufenden Dopingverfahren erfahren hätten. Die Schweizer Juristen nahmen die Wettbewerbsverzerrung zulasten der internationalen Gegner in Kauf. Das TAS verhinderte Wilsons Olympiateilnahme im letzten Moment doch noch, mittlerweile ist er für vier Jahre gesperrt.

Verfahrensfehler beim Mountainbiker Flückiger?

Im Gespräch bestreitet König grundsätzliche Unstimmigkeiten zwischen den beiden Instanzen. «Die Anfechtbarkeit von Entscheiden ist notwendig», sagt er. Dass es gelegentlich zu unterschiedlichen Einschätzungen komme, liege in der Natur der Sache. Der rege Austausch zwischen SSI und DK funktioniere gut. «In den beiden letzten Jahren ist es jedoch fallspezifisch vermehrt zu Divergenzen gekommen. Als Konsequenz müssen wir uns künftig wohl noch mehr bemühen, unsere Anträge noch besser zu begründen.»

Mit der leisen Selbstkritik bezieht sich König auch auf den Fall des Mountainbikers Mathias Flückiger. SSI hatte den Olympiazweiten im August 2022 nach einem atypischen Resultat suspendiert, die DK hob die vorläufige Sperre im Dezember wieder auf. Seitdem darf Flückiger Rennen bestreiten, obwohl das eigentliche Verfahren gegen ihn weiterhin läuft.

Der DK-Entscheid stützte sich auf einen mutmasslichen Verfahrensfehler: Flückiger hatte im August 2022 zunächst keine Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Damit verletzte SSI nach Ansicht von Flückigers Verteidigern eine Vorschrift der Welt-Antidoping-Agentur (Wada).

Zum juristischen Lager des Mountainbikers, das den Verfahrensfehler mit guten Erfolgsaussichten auch im Hauptverfahren monieren dürfte, obwohl Flückiger mittlerweile längst angehört wurde, gehört ausgerechnet Matthias Kamber. Das ist Königs Amtsvorgänger bei Antidoping Schweiz.

Kamber beteuerte im März an einer Medienkonferenz, er sei von Flückigers Unschuld überzeugt: «Ich will niemanden vertreten, der gedopt hat. Ich will jene schützen, die unschuldig sind.» Er sagte dies ungeachtet der Tatsache, dass er auch den Sprinter Wilson beraten hatte, dessen Vergehen längst als erwiesen gilt.

Um eine juristische Niederlage in Sachen Flückiger zu vermeiden, lässt sich SSI nun besonders viel Zeit. Die Instanz hat externe Fachleute beigezogen und zusätzliche Ressourcen aktiviert, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Dass der Fall vor den Weltmeisterschaften im August 2023 in Glasgow abgeschlossen ist, wird immer unwahrscheinlicher, was weder Flückiger noch seine Gegner freuen dürfte.

Die Geschwindigkeit der Entscheidfindung ist ein zentraler Faktor

Die Divergenzen zwischen den Instanzen beschränken sich unterdessen nicht mehr aufs Thema Doping. Im vergangenen Jahr beschloss SSI auch vier vorsorgliche Massnahmen wegen mutmasslicher Verfehlungen im Ethikbereich. Zwei davon wurden von der DK wieder beendet.

Ein Beispiel: Mehrere Athletinnen warfen der Cheftrainerin des Nordwestschweizerischen Kunstturn- und Trampolinzentrums vor, sie gedemütigt zu haben, die Rede war sogar von körperlicher Gewalt. Weil die DK die vorläufige Suspendierung der Trainerin, welche die Vorwürfe bestreitet, annulliert hat, ist diese weiterhin in gewohnter Position tätig.

Auch in diesem Fall zieht sich das eigentliche Verfahren in die Länge. Seit Monaten arbeitet SSI an einem Bericht, anhand dessen dereinst über mögliche Sanktionen gegen die Trainerin entschieden werden soll. Es liegt auf der Hand, dass sich SSI auch in diesem Fall viel Zeit lässt, um inhaltliche und formale Schwachstellen in der Argumentation auszuschliessen – aus der Erfahrung heraus, dass sich die DK auf jede Schwäche stürzen würde.

Markus Pfisterer, Leiter Ethikverstösse bei SSI, bemüht sich um eine diplomatische Bewertung der Situation. «Es ist wichtig, dass sämtliche Verfahrensparteien die Möglichkeit haben, Entscheide überprüfen zu lassen», sagt er. Dass dabei gelegentlich Entscheide von Swiss Sport Integrity revidiert würden, sei normal und «Teil des Systems».

Allerdings, so Pfisterer, unterscheide sich die Sportgerichtsbarkeit in einem wichtigen Punkt von anderen Rechtsbereichen: Die Geschwindigkeit der Entscheidfindung spiele eine zentrale Rolle. «Vorläufige Massnahmen im Ethikbereich können zwingend notwendig sein, um eine akute Gefährdung Dritter zu verhindern. Suspendierungen bei einem Dopingverdacht stellen die Fairness anstehender Wettkämpfe sicher. Wenn die Verfahren zu lange dauern, leidet der Sport, bis irgendwann kein Wettkampfbetrieb mehr möglich ist.»

Die Disziplinarkammer soll reformiert werden

Präsident der DK ist der Basler Rechtsanwalt Carl Gustav Mez. Dieser verwahrt sich gegen die Darstellung, seine Kammer tendiere zur Nachsichtigkeit gegenüber Beschuldigten. Er sagt: «Unser einziger Massstab hat das geltende Recht zu sein.» Dazu gehörten insbesondere der Wada-Kodex, das Dopingstatut und das Ethikstatut.

«Aspekte wie die Frage, ob es bei der Aufhebung von Suspendierungen zu Wettbewerbsverzerrungen kommen könnte, dürfen keine Rolle spielen», sagt Mez. «Auch die Möglichkeit, dass wir mit unseren Entscheiden allenfalls Verbände in Schwierigkeiten bringen könnten, haben wir nicht zu berücksichtigen.»

Der Anwalt betont, es gebe zwischen DK und SSI über die rechtliche Auslegung spezifischer Fälle hinaus keinerlei Differenzen: «Jeder Jurist weiss, dass Sachverhalte immer unterschiedlich bewertet werden können.»

Besonders energisch weist Mez den Verdacht zurück, es könnte in der täglichen Arbeit eine Rolle spielen, dass seine Kammer dem Dachverband des Schweizer Sports unterstellt ist. «Swiss Olympic ist unser Wahlkörper, wir agieren jedoch in der Entscheidungsfindung komplett unabhängig», sagt er. «Es gibt keine Absprachen und keine Versuche der Beeinflussung.»

In absehbarer Zeit dürfte die Disziplinarkammer neu aufgestellt werden. Eine Arbeitsgruppe mit Vertretern des Bundesamts für Sport, von Swiss Olympic, SSI sowie externen Experten eruiert verschiedene Optionen. Möglich ist gemäss Informationen der NZZ unter anderem, dass die DK von Swiss Olympic gelöst wird und formell unabhängig wird.

Um den Anschein von Interessenkonflikten zu vermeiden, wäre dieser Schritt konsequent – doch gefragt wäre darüber hinaus insbesondere eine pragmatischere Kooperation der Kammer mit SSI. Denn je häufiger es zwischen den beiden Instanzen zu aufwendigen juristischen Auseinandersetzungen kommt, die personelle Ressourcen binden, desto stärker leidet der Kampf gegen akute Missstände im Schweizer Sport.

Schon jetzt ist SSI vor allem in der Aufarbeitung von Verdachtsmeldungen im Ethikbereich in Verzug geraten. König bezeichnet die Situation als angespannt. Ein Grund, warum sich Ethikuntersuchungen in die Länge zögen, sei neben der dünnen Personaldecke das häufige Ausschöpfen sämtlicher Rechtsmittel durch die Verfahrensparteien.

Der DK-Präsident Mez sieht darin kein Problem, er sagt: «Mir ist bewusst, dass gerade im Ethikbereich jedem Fall mindestens ein menschliches Drama zugrunde liegt. Das darf uns jedoch nicht beeinflussen.» Auch die Rechte mutmasslicher Täter, denen Belästigung vorgeworfen werde, gelte es zu wahren. «Wir sind den Beteiligten ein sorgfältiges Vorgehen schuldig, auch wenn es viel Zeit in Anspruch nehmen kann.»

Die Zahl der Verdachtsfälle im Ethikbereich steigt unterdessen permanent. Gab es 2022 bei SSI noch etwa eine Meldung pro Werktag, ist es mittlerweile eher eine pro Tag, auch am Wochenende. In der Schweizer Sportgerichtsbarkeit spitzt sich eine Krise zu.

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