Ronaldo aus dem Computer: Wie die künstliche Intelligenz den Fussball revolutioniert

Immer mehr Spitzenklubs suchen mithilfe einer Digital-Plattform nach den besten Spielern auf dem Transfermarkt – mit zum Teil verblüffendem Erfolg. Doch die Technologie kann noch mehr.

Sven Haist 9 min
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Maja Siebrecht NZZ am Sonntag / Getty (2)

Beinahe wäre die Geschäftsinnovation von Jan Wendt direkt zu Beginn gescheitert. Carsten Wehlmann, der ehemalige Fussballdirektor des SV Darmstadt 98, sei «richtig sauer» gewesen, erzählt Wendt im Gespräch mit der «NZZ am Sonntag». Er habe gesagt: «Ich habe keine Lust, mit euch zusammenzuarbeiten, wenn ich so etwas auf den Tisch bekomme.»

Im Sommer 2020 kontaktierte Wendt Wehlmann, um ihm die Digitalplattform Plaier als deren Mitgründer und Geschäftsführer vorzustellen. Beide hatten eine gemeinsame berufliche Vergangenheit, Wendt arbeitete lange im Sportmarketing mit dem Fokus auf Motorsport. Der Projektname ist eine Kreuzung aus «Player» und «AI», der Abkürzung für Artificial Intelligence (engl. für künstliche Intelligenz).

Auf Grundlage einer selbst programmierten KI-Software, deren Prognosen zur Fähigkeit von Fussballern ausschliesslich auf Daten basiert, glaubt Wendt, die Spielersichtung und Kaderzusammenstellung der Profivereine in Zukunft nachhaltig zu verändern – und somit das Transfergeschäft. Er sah den damaligen Bundesliga-Zweitligisten Darmstadt als «dankbaren Klub» für einen Testlauf an, weil dort noch «Luft nach oben» gewesen sei.

Zum Qualitätscheck überreichte ihm Wehlmann eine Liste mit 18-jährigen Talenten, an denen der Verein interessiert war. Das Plaier-Ergebnis: Darmstadt sollte fast keinen von ihnen verpflichten. Wehlmanns Unmut über das Resultat sei ihm nahegegangen, gibt Wendt zu, weil er überzeugt gewesen sei, ein «tolles Produkt» auf den Markt gebracht zu haben.

Die Kritik drängte Wendt zur Überprüfung des eigenen Vorgehens. Plaier ermittelte aus dem vorhandenen Datenmaterial der vergangenen anderthalb Jahrzehnte die durchschnittliche Einsatzzahl aller 18-jährigen Spieler in den europäischen Spitzenligen. Die untere Hälfte jener Profis kam im Mittel nur auf knapp zwei Matches pro Saison – wobei alle Vertragsspieler, die überhaupt nicht zum Einsatz gekommen waren, in der Statistik nicht erfasst wurden.

Aus dem Ergebnis schloss der 56-Jährige, dass viele Sichtungsentscheidungen in dieser Altersklasse irrtümlich seien – und die eigene Prognose doch stimmen könnte. Tatsächlich konnte sich keiner der von Darmstadt erwähnten Nachwuchsspieler in der anstehenden Saison bewähren.

Die Bestätigung der eigenen Arbeit habe das Verhältnis zu Wehlmann «deutlich verbessert», sagt Wendt, aber erst im nächsten Jahr. Denn das Problem sei, dass es im Fussball eine «lange Wahrheitskurve» gebe und «kein paralleler Handlungsstrang zur Realität» existiere.

Mittlerweile, knapp vier Jahre nach dem ersten Anlauf, scheint sich die Verwendung von künstlicher Intelligenz im Profifussball zunehmend zu etablieren. Etwa 30 Klubs aus den führenden Profiligen arbeiten derzeit mit Plaier zusammen, darunter drei aus der ersten Bundesliga und zwei aus der Premier League. Manche Vereine investieren bereits Millionensummen in die neuesten maschinenbasierten Technologien.

Angaben über 250 000 Fussballer aus über 200 Ländern

Plaier ist Marktführer in diesem Gebiet und wirbt mit der weltweit umfangreichsten Datenbank. Sie beinhaltet gemäss Firmenangaben über 250 000 Fussballer aus über 200 Ländern. Zurzeit beschäftigt Plaier rund 15 Mitarbeiter. Die Grundelemente der Software werden auch anderweitig eingesetzt, wie bei der Umsatzprognose von Restaurants. Wendt beziffert den Marktvorsprung auf ein Jahr.

Seine Idee geht auf einen Casino-Besuch in Las Vegas zurück. Am Abend vor dem Rückflug war Wendt als Letzter seiner Geschäftskollegen am Spieltisch gewesen, er hatte zehn Dollar übrig und wollte eigentlich ebenfalls aufbrechen. Aber die Hintergrundmusik habe ihn zum Bleiben motiviert, erzählt er. So kaufte er sich noch einen Drink und verspielte die restlichen zehn Dollar.

Auf dem Weg ins Hotelzimmer sei ihm bewusst geworden, dass die Musik «sein gesamtes Handeln beeinflusst» habe, sagt Wendt. Den Zusammenhang liess er sich in den USA patentieren – und übertrug ihn auf den Fussball, in dem Personalentscheidungen für sein Dafürhalten «hochgradig intuitiv gefärbt» seien.

Die Spieleranalyse im Fussball ist quasi so alt wie das Spiel selbst. Zunächst bestand sie ausschliesslich aus Live-Besichtigungen und wurde dann durch das Studium von Kassetten- und Video-Aufzeichnungen erweitert. Zu Beginn dieses Jahrhunderts veränderte sich das analoge Scouting durch die Einführung des sogenannten Trackings. Das Spielerverhalten konnte nun während der Matches detailliert erfasst und durch Computerprogramme ausgewertet werden.

Um die Erkenntnisse zur Verbesserung der eigenen Mannschaft zu nutzen, setzte zum Beispiel der Liverpool FC frühzeitig auf eine hochentwickelte Datenabteilung, auf die zahlreiche erfolgreiche Transfers des Klubs zurückgehen. Dafür wurde unter anderem 2012 der Physiker Ian Graham eingestellt.

Die Einbindung von Daten im Scouting bildete in gewisser Weise die Vorstufe für den gegenwärtigen Einsatz von künstlicher Intelligenz. Das Plaier-Tool überfliegt Unmengen an Statistiken wie eine Drohne und sucht nach sich wiederholenden Mustern – entsprechend dem vorprogrammiertem Algorithmus. Das Prinzip ähnelt den auf Kundenbewertungen basierenden Restaurantvorschlägen im Internet: Je nach individueller Präferenz können Suchkategorien wie Kulinarik, Qualität und Preis einzeln angepasst werden.

Im Fussball ist der KI-Rechner in der Lage, den Spielermarkt zu sondieren und passende Spieler für einen Klub zur Optimierung des Kaders vorzuschlagen. Das System schätzt ab, inwieweit jemand eine Mannschaft verstärken könnte, wie sich der Einfluss des potenziellen Zugangs auf das Saisonresultat auswirken würde – und welche Ablösesumme angesichts dessen angebracht erscheint. Es zeichnet den potenziellen Karriereverlauf des Spielers, aus dem sich entnehmen lässt, wann jemand seinen Zenit erreicht und wie lange er seine Leistung wahrscheinlich halten kann.

So prophezeite Plaier, dass der Mittelfeldspieler Jude Bellingham, der seit Sommer für Real Madrid spielt, gerade das grösste Potenzial besitzt und sich in den nächsten vier Jahren nochmals weiterentwickeln wird – im Gegensatz zu hoch gehandelten Jungprofis wie Bayerns Jamal Musiala und Manchester Uniteds Marcus Rashford, die auf absehbare Zeit stagnieren würden.

Vor der Saison gab das System an, der 100-Millionen-Euro-Stürmer Harry Kane werde in dieser Saison keinen nennenswerten Einfluss auf das Torverhältnis des FC Bayern im Vergleich zur vergangenen Spielzeit haben, was sich bis jetzt bewahrheitete.

Trotz zahlreichen Treffern ist Harry Kanes bisherige Bilanz bei den Bayern durchwachsen: Das Team durchlebt eine schwierige Saison. Die KI sagte es voraus.

Trotz zahlreichen Treffern ist Harry Kanes bisherige Bilanz bei den Bayern durchwachsen: Das Team durchlebt eine schwierige Saison. Die KI sagte es voraus.

Laci Perenyi / Imago

Zudem behauptet Plaier, bei ausreichendem Datenmaterial schon im Jugendbereich voraussagen zu können, welcher Spieler das Potenzial zum späteren Ausnahmekönner besitzt. Die höchste Genauigkeit hat das System angeblich bei Spielerwechseln zwischen 22 und 26 Jahren, die Trefferwahrscheinlichkeit liegt hier bei 87 Prozent. Die Fehlertoleranz ergibt sich überwiegend aus nichtvorhersehbaren Verletzungen der Spieler.

Auch Feststellungen zur vermeintlich erfolgversprechendsten Startformation und strategischen Herangehensweise vor Matches lassen sich treffen. Und selbst während des Spiels können Trainer mit personellen und spieltaktischen Eingriffsvarianten unterstützt werden. Plaier ermittelte, dass Bundesliga-Aufsteiger in der ersten Saison mehr laufen müssten, um die Liga zu halten. In der Folgesaison käme es dann hauptsächlich auf spielerische Akzente an. Beide Prognosen sind im Fall von Werder Bremen, das den Aufstieg im Sommer 2022 bewerkstelligt hatte, bisher erstaunlich akkurat eingetreten.

Aufgrund der Komplexität des Systems stellen die Profivereine immer mehr Spezialisten ein, die mit der KI vertraut sind. Diese entwerfen die Such-Schablonen, filtern die Informationen und koordinieren anschliessend die Abläufe der manuellen Talentsichter bis hin zu den Entscheidungsprozessen innerhalb des Vereins.

Kürzlich warb der Premier-League-Klub West Ham mit Maximilian Hahn einen der führenden deutschen Analysten auf diesem Gebiet von Werder Bremen ab. Der 28-Jährige hatte sich zuvor in Darmstadt in die Plaier-Belange eingearbeitet. In Zukunft dürfte die Wertigkeit der Kader- und Datenbeauftragten im Fussball weiter ansteigen. Bisher fokussiert sich die Branche vor allem auf Spieler und Trainer, für die bisweilen hohe Ablösesummen gezahlt werden.

Trotz den objektiven Vorzügen der KI-Funktionsweise hat das Modell jedoch noch Einschränkungen. Es integriert zwar mögliche Leistungsveränderungen von Spielern bei wechselnden Spielständen, indem deren Aktivitätskurve in den Spielabschnitten berücksichtigt wird. Aber die psychologische Konstitution des Spielers sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen und gruppendynamischen Prozesse innerhalb einer Mannschaft und eines Vereins sind bis jetzt nicht wirklich identifizierbar.

Bei Union Berlin stösst die Technik an Grenzen

Aus diesem Grund würde sich Wendt mit seiner Plaier-KI bei Klubs wie den Bundesligisten Union Berlin und dem FC Heidenheim eher zurückhalten, weil diese über viele Jahre eine ganz eigene Identität entwickelt hätten.

Am meisten eigne sich das System also für Klubs mit ständigen Trainer- und Sportdirektoren-Wechseln, findet Wendt. Und für Vereine, die auf einem soliden Fundament stehen und einen speziellen Akzent setzen möchten. Dabei betont er, dass man bei seiner Unternehmung als Kunde «den Fehler immer mitbezahle»: Die Einzelvorhersage sei falsch, die Massenvorhersage müsse stimmen.

Er vergleicht die Hochrechnungen mit einem Würfelspiel, bei dem es passieren könne, dass sechs Mal hintereinander die Sechs gewürfelt werde. Dies würde allerdings nichts daran ändern, dass auf lange Sicht alle Zahlen irgendwann ungefähr gleich oft erscheinen.

Das Vertrauen und die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Einsatz von künstlicher Intelligenz scheint bisher in der Premier League ausgeprägter zu sein als in der Bundesliga, mutmasslich wegen der hochkapitalistischen Eigentümerstrukturen. In Deutschland überwiege stattdessen mehr die Angst vor Fehlern, findet Wendt, weil die Klubs zu sehr an der vorhandenen Arbeitsweise festhielten. Aus seiner Sicht sei Transparenz nicht immer unbedingt gefragt, sie könne nämlich auch eine schmerzhafte Bestandsaufnahme sein.

Dem Fussball steht diese wohl noch bevor: Mit den KI-Analysen als Basis könnten Klubfunktionäre die Arbeit von Trainern und Sportdirektoren in Zukunft weitaus empirischer als bisher durchleuchten und gegebenenfalls intervenieren. So ähnlich wie im Motorsport, wo die Qualität der Fahrerleistung aus den Renndaten-Aufzeichnungen beispielsweise ziemlich detailliert bewertet werden kann.

Das langfristige Ziel von Jan Wendt besteht darin, die Plaier-KI zur Standardlösung im Fussballgeschäft zu machen. Sie soll nach Möglichkeit bald «bei jeder Transferentscheidung mit involviert» sein. Erste Erfolge haben sich bereits eingestellt: Nach der Zusammenkunft mit Wendt vertraute Carsten Wehlmann fortan auf die Plaier-KI und entwickelte sie mit seinen Anforderungen weiter. Darmstadt setzte in den nachfolgenden Transferphasen massgeblich auf das System und suchte mehrere Spieler danach aus. In der Vorsaison stieg der Klub in die erste Bundesliga auf.

«Wie künstliche Intelligenz den Fussball verändern kann»: Podcast der Zeitung «Kurier».


Welche Vereine ihr Potenzial ausschöpfen – und welche nicht

Die Geschäftsbilanzen von Profiklubs besitzen im Fussball mittlerweile eine ähnliche Tradition wie die sportlichen Abschlusstabellen. Der Finanzdienstleister Deloitte veröffentlicht seit Jahren in jeder Saison den Report «Annual Review of Football Finance», in dem die aussagekräftigsten wirtschaftlichen Kennzahlen der Vereine durchleuchtet werden: der Umsatz und die Aufteilung auf die einzelnen Ertragskategorien, das Eigenkapital, der Personaletat sowie der Gewinn und der Verlust. Die Analyse schafft eine finanzielle Vergleichbarkeit, sowohl national als auch international.

Basierend auf diesem Prinzip entsteht nun eine Studie, die in gleicher Art die sportliche Qualität der Ligen und Klubs ins Verhältnis und zugleich in Relation zu ihrer Wirtschaftskraft setzen soll.

Im vergangenen Jahr schlossen sich die Universität St. Gallen und das Fussballtechnologie-Startup Plaier aus Hamburg zusammen. Federführend ist der Finanzexperte Florian Hohmann, der am Institut für Accounting, Controlling und Auditing unterrichtet und seit Jahren zur Ökonomie des Fussballs forscht. Plaier bringt seinerseits durch die Anwendung von künstlicher Intelligenz eine Software ins Projekt ein, die anhand einer riesigen Datenmenge die Güteklasse der Spieler und das Gesamtniveau der Mannschaften messen kann.

Einen Einblick in den Stand der Zusammenarbeit geben die nebenstehenden Plaier-Grafiken. Die Grundlage bildet die Klassifizierung der Fussballer: Je höher der Score eines Spielers ist, desto wichtiger ist er für sein Team. Das Niveau des Kaders ergibt sich allerdings nicht aus der Summe der einzelnen Spielerpotenziale, sondern aus ihrem Zusammenwirken.

Die Ermittlung der objektiven Gesamtqualität einer Equipe lässt zahlreiche Rückschlüsse auf die Wertigkeit des Wirkens von Trainerteam und Sportdirektoren zu. Das Management kann an der Substanz der Mannschaft gemessen werden, Trainer am Punkteschnitt im Vergleich zur vorhandenen Spielerqualität und auch an der vermeintlich besten Startaufstellung für jede Partie.

In der Vorsaison stiegen mit Heidenheim und Darmstadt jene Klubs in die Bundesliga auf, deren Trainer dem Idealwert am nächsten kamen. Die abdriftende Kurve von Nürnberg zeichnet wiederum die zwei Trainerwechsel akkurat nach.

In der Bundesliga überzeugten Edin Terzic, Urs Fischer und Christian Streich, sie holten laut den Plaier-Berechnungen am meisten aus ihren Teams heraus. Beim FC Bayern änderte sich nach der Ablösung von Julian Nagelsmann durch Thomas Tuchel wenig: Beide schöpften das Potenzial des Teams relativ erfolgreich aus.

Solche Statistiken möchte Wendt mithilfe von Hohmanns wirtschaftlicher Expertise in einen Zusammenhang bringen. Als Untersuchungszeitraum wurden die vergangenen fünf Spielzeiten veranschlagt. Die Erkenntnisse könnten den Klubs zugutekommen, wobei die zentrale Frage sicherlich lautet: Welcher Verein schöpft seine finanziellen Möglichkeiten am besten aus?

Im Zentrum der weltweiten Fussball-Untersuchung stehen die Schweizer Profivereine, die Hohmann seit geraumer Zeit intensiv verfolgt. Die Forschung soll bis zum Saisonende abgeschlossen sein und die Erkenntnisse danach präsentiert werden. Es ist vorstellbar, dass die Studie eine ähnliche Relevanz erlangt wie die bisherigen Deloitte-Inspektionen.

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