Der Turnstar Simone Biles stösst in Tokio an mentale Grenzen und verzichtet auf den Mehrkampffinal – die Erwartungen an sie sind extrem

Die Kunstturnerin sagt nach ihrem Rückzug im Teamwettkampf, sie habe mit «all diesen Dämonen» zu kämpfen gehabt und müsse sich auf ihre psychische Gesundheit konzentrieren.

Philipp Bärtsch, Tokio
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«Aber wenn du in Stresssituationen gerätst, flippst du aus», sagte Simone Biles, nachdem sie sich vom Teamwettkampf zurückgezogen hatte.

«Aber wenn du in Stresssituationen gerätst, flippst du aus», sagte Simone Biles, nachdem sie sich vom Teamwettkampf zurückgezogen hatte.

Mike Blake / Reuters

Simone Biles hat schon manche Erschütterung durchgemacht im Leben. Doch wenn sie turnte, schien immer alles an ihr abzuperlen. Biles ist die beste Kunstturnerin der Geschichte, das weiss bald die ganze Welt, das weiss aber auch sie selber. Die Amerikanerin hat einen Geisskopf zu ihrem Markenzeichen gemacht, er prangt glänzend auf vielen Sportkleidern, die sie trägt. Geiss heisst auf Englisch Goat, und Goat ist die Abkürzung für «Greatest of All Time». Ihre Show-Tournee, zu der Biles in knapp zwei Monaten aufbrechen wird, heisst Gold Over America Tour – noch so eine Spielerei mit den vier Buchstaben.

Ausgerechnet jetzt ist das Selbstvertrauen der 24-Jährigen kollabiert. Am Dienstag fand in Tokio der Teamfinal statt, Biles sollte die US-Frauenriege zur nächsten Goldmedaille führen, zur achten in Serie an Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften. Doch Biles zog sich nach dem Startgerät Sprung zurück. Sie hatte einen Jurtschenko mit zweieinhalb Schrauben zeigen wollen, den sogenannten Amanar. Es ist ein Sprung, der für Biles normalerweise keine Herausforderung darstellt, sie beherrscht an diesem Gerät mehrere schwierigere Manöver. Doch diesmal hatte Biles ein Blackout, sie verlor sich in der Luft, drehte nur anderthalb Schrauben und landete schlecht.

Dann verliess sie die Arena und brach den Wettkampf ab.

Die Amerikanerinnen machten zu dritt weiter, an den anderen Geräten kam die jeweilige Ersatzturnerin zum Einsatz. Biles war bald wieder beim Team, sie trug einen weissen USA-Trainingsanzug, die Teamleaderin war jetzt auch eine Cheerleaderin. Biles versuchte die Kolleginnen zumindest moralisch zu unterstützen, so gut sie konnte. Die Amerikanerinnen gewannen Silber, deutlich hinter den Russinnen, die schon in der Qualifikation besser abgeschnitten hatten.

Das Gewicht der ganzen Welt

Biles waren schon da ungewohnt viele Fehler unterlaufen, am Sprung, am Schwebebalken und am Boden, also an drei von vier Geräten. Für die höchste Punktzahl im Mehrkampf und den Vorstoss in sämtliche Gerätefinals reichte es dennoch, was bloss ein weiterer Beleg für ihre Ausnahmestellung war. Der Mehrkampffinal wird am Donnerstag ausgetragen, doch am Mittwoch kommunizierte der US-Turnverband, dass Biles nicht antreten werde. Ob sie an den Gerätefinals von Sonntag bis Dienstag teilnimmt, ist offen.

Schon nach dem Qualifikationswettkampf hatte Biles in den sozialen Netzwerken geschrieben, sie fühle sich manchmal, als laste das Gewicht der ganzen Welt auf ihr. Aus globaler Sicht ist sie die grösste Figur an diesen Olympischen Spielen, grösser auch als Naomi Osaka, die an der Eröffnungsfeier das olympische Feuer entzündete und für das Gastgeberland Tennis spielt. Osaka schied am Dienstag überraschend aus. Sie, die kürzlich publik gemacht hatte, dass sie seit bald drei Jahren mit Depressionen zu kämpfen habe, deutete ebenfalls an, dass der Druck ein Faktor gewesen sei.

Biles erklärte sich nach dem Rückzieher ausführlich. Sie habe die Medaillenchance des Teams nicht vermasseln wollen, sagte sie etwa. Sie habe mit «all diesen Dämonen» zu kämpfen gehabt und müsse sich auf ihre psychische Gesundheit konzentrieren, statt diese zu gefährden. «Ich habe gerade nicht das gewohnte Vertrauen in mich und nicht so viel Spass», sagte Biles – und begann zu weinen.

Gewinnen allein reicht nicht

Die Erwartungshaltung, mit der Biles derzeit konfrontiert ist, könnte kaum extremer sein. Keiner Sportart wird in den USA während dieser Spiele mehr Aufmerksamkeit zuteil als dem Frauenkunstturnen – wegen Biles. Goldmedaillen mit dem Team, im Mehrkampf und an drei Geräten hatte man ihr zugetraut, ja von ihr erwartet. Also noch einen Olympiasieg mehr als 2016 in Rio de Janeiro. Und daneben sollte Biles die Welt mit möglichst vielen der Höchstschwierigkeiten verblüffen, die nur sie beherrscht, etwa ihrem neuen Sprung, dem schwierigsten, den es gibt.

Am Dienstag ist Biles alles zu viel geworden, ähnlich wie Naomi Osaka am diesjährigen French Open, die sich ebenfalls mit Verweis auf ihren seelischen Zustand zurückzog.

Simone Biles gehört zu den Missbrauchsopfern des langjährigen Teamarztes Larry Nassar; ihr Bruder stand kürzlich wegen Mordverdachts vor Gericht (er wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen). Nachdem sie Anfang 2018 öffentlich gemacht hatte, dass sich Nassar auch an ihr vergangen hatte, begab sich Biles in Therapie. «Die Therapie und Medikamente haben mir sehr geholfen, es ist wirklich gut gegangen», sagte sie am Dienstag. «Aber wenn du in Stresssituationen gerätst, flippst du aus.»

Bis zu den Erfolgen in Rio de Janeiro war Biles primär eine phänomenale Sportlerin. Doch die vier Olympiasiege, der Missbrauchsskandal und ihre scharfe Kritik am US-Turnverband, der eine Mitschuld trägt, haben ihr ein neues, vielfältigeres Profil gegeben. Sie hat etwas zu sagen, und sie wird gehört. In letzter Zeit äusserte sie sich vermehrt zu politischen und gesellschaftlichen Themen, sie machte auch diesbezüglich eine ähnliche Entwicklung durch wie Naomi Osaka. Beide erhoben ihre Stimme etwa für «Black Lives Matter», Biles merkte da, dass sie die Menschen nicht nur mit Goldmedaillen und immer neuen Kunststücken erreicht, sondern auch mit solchen Botschaften.

Die Verschiebung machte es auch nicht einfacher

Als Athletin spürt Biles, wie die körperlichen Belastungen mittlerweile an ihr zehren nach vielen Jahren Spitzensport mit 30 oder mehr Trainingsstunden pro Woche. Dass sie sich wegen der Verschiebung der Spiele ein Jahr länger vorbereiten musste als geplant, machte es auch nicht einfacher. Mindestens so sehr wie auf den Beginn der Spiele hatte sich Biles im Vorfeld auf deren Ende gefreut. Wahrscheinlich wird sie dann vom Wettkampfsport zurücktreten.

Kurz vor der Abreise nach Tokio war Simone Biles gefragt worden, was denn der bisher glücklichste Moment ihrer Karriere gewesen sei. Sie sprach dann nicht etwa von Rio, den vier Goldmedaillen, dem Aufstieg zur Weltsportlerin. Sondern vom Sabbatical, das sie sich danach gönnte.

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