Sydney McLaughlin stürmt an den Leichtathletik-WM zu einem Fabelweltrekord

Die Amerikanerin läuft über die 400 m Hürden eine Zeit, die manchen Mann alt aussehen lässt. Sie war schon vor einem Jahr in eine neue Dimension vorgestossen, jetzt hat sie die Grenzen des Vorstellbaren erneut verschoben.

Remo Geisser, Eugene
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Die Gegnerinnen liegen weit zurück: Sydney McLaughlin auf der Zielgeraden im 400-m-Hürdenlauf.

Die Gegnerinnen liegen weit zurück: Sydney McLaughlin auf der Zielgeraden im 400-m-Hürdenlauf.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Es gibt Momente, in denen es augenscheinlich wird, dass Aussergewöhnliches passiert. Usain Bolt schuf solche, als er die Sprints über 100 und 200 m 2009 in Dimensionen verschob, die noch heute unfassbar erscheinen. Justin Gatlin, einer seiner Konkurrenten, sagte damals, der Jamaicaner sei auf dem Mars angelangt, die anderen Menschen müssten ihm erst noch folgen. Sie haben es nicht geschafft. Bolts Weltrekorde von 9,58 über 100 und 19,19 über 200 m sind unantastbar geblieben, da helfen bis jetzt auch die Superschuhe nichts.

Eine Verbesserung, die Usain Bolt in den Schatten stellt

Bolt verbesserte damals den Weltrekord in drei Schritten über 100 m um 16 Hundertstelsekunden oder 1,64 Prozent. Das ist eine gewaltige Steigerung, wenn man bedenkt, dass der Unterschied zwischen Sieg und Niederlage oft nur ein paar Hundertstel ausmacht. McLaughlin drückte die Bestmarke auf der Bahnrunde viermal um total 1,48 Sekunden oder 2,84 Prozent nach unten. Kein anderer Rekord wurde in den vergangenen Jahren derart verbessert. Wenn Bolt also auf dem Mars gelandet ist, dann ist McLaughlin bis zum Jupiter geflogen.

Besonders beeindruckend ist die Art und Weise, wie McLaughlin die Grenzen des Vorstellbaren verschiebt. Das zeigte sich in Eugene bei ihrem nunmehr dritten Weltrekordlauf einmal mehr. Sie rennt mit stupender Technik und unaufgeregter Leichtigkeit. Fast scheint es, als würden die Gegnerinnen in Zeitlupe laufen, während sie von Hürde zu Hürde fliegt.

Der Abstand im Finish machte deutlich, dass die 22-Jährige in einer anderen Welt läuft. Die zweitklassierte Femke Bol lag mehrere Meter und 1,59 Sekunden zurück, was ziemlich genau der Marge entspricht, um die McLaughlin den Weltrekord verbessert hat.

Es gibt andere Möglichkeiten, um McLaughlins Niveau einzuordnen. Mit ihrer Zeit über die Hürden hätte sie rund 30 Minuten zuvor im Flachrennen der Frauen über 400 m den 7. Rang belegt. Man stelle sich das vor: Die eine Frau läuft mit Hürden, die anderen sieben ohne, und man sieht kaum einen Unterschied. Mehr noch: McLaughlin würde mit ihrer Leistung auch in vielen Rennen der Männer eine gute Figur machen. In der Schweiz waren in diesem Jahr nur sechs Athleten schneller.

Auch für sie selbst ist das irreal

Die Athletin selbst schien nach dem Rennen ein wenig schockiert. «Das ist irreal», sagte sie. Sie sei einfach losgerannt, um zu gewinnen. Auf den letzten 100 Metern habe sie dann grosse Schmerzen gespürt. Immerhin, denn sonst hätte man sie definitiv für eine Ausserirdische gehalten. Bei der Siegerehrung überreichte ihr der Weltverbandspräsident ein Schmerzensgeld von 100 000 Dollar. Es war die erste Weltrekordprämie, die an den WM 2022 ausgeschüttet wurde. Dazu kommen 60 000 Dollar für den Sieg. Doch für einen Flug zum Jupiter ist das eigentlich bloss ein Trinkgeld.