Die Anstrengungen der fleissigen Arbeitsbienen verpuffen, weil Pogacar so frisch ist – aber er hätte es lieber noch etwas steiler

Jumbo-Visma, das Team des Leaders Jonas Vingegaard, schafft es an der Tour de France einfach nicht, den grossen Konkurrenten Tadej Pogacar weichzukochen. Sichtbar in diesem Duell werden auch unterschiedliche Ansätze in der Trainingsmethodik.

Tom Mustroph 4 min
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Tadej Pogacar (vorne) findet jeweils im Ziel schnell die altbekannte Munterkeit wieder.

Tadej Pogacar (vorne) findet jeweils im Ziel schnell die altbekannte Munterkeit wieder.

Christophe Petit Tesson / EPA

Die Tour de France ist ein Spiel der Zermürbung. Das war sie schon immer. «Du musst deine Rivalen an ihre Grenzen bringen, bergauf, bergab und auch mental», sagte am Rande der Rundfahrt der fünffache Tour-de-France-Gewinner Bernard Hinault. Und er legte sein fast 70 Jahre altes Gesicht in so grimmige Falten, als würde er damit gleich wieder beginnen wollen.

Jonas Vingegaards Gesicht hingegen ist bis auf kleine Lach- und Erschöpfungsfalten um die Mundwinkel glatt wie bei einem Teenager. Die Haut ist straff, jedes überflüssige Gramm aus ihr getilgt. Kein unnützes Gewicht soll den Dänen bei den Bergritten an der Tour von der erfolgreichen Titelverteidigung abhalten.

Er ist der optimal getunte Athlet, der vollenden soll, wofür seine Teamkollegen, sieben eifrige Arbeitsbienen, Tag für Tag bis zur Erschöpfung schuften. Steigt die Strasse nur ein wenig an, sieht man die Männer des Teams Jumbo-Visma in den gelb-schwarzen Maillots an der Spitze des Pelotons. Sie plagen fast alles, was hinter ihnen fährt.

In der Bilanz der Bonussekunden, die bei Bergsprints vergeben werden, liegt Pogacar klar vorne

Nur einer lässt sich partout nicht abschütteln: Tadej Pogacar. Sicher, der Slowene hat nicht mehr die Leichtigkeit, mit der er seine Tour-Siege 2020 und 2021 errang. Man sieht durchaus Anzeichen von Erschöpfung in seinem Gesicht. Fahl wirkte es am Tourmalet, tief atmend erreichte er den Puy de Dôme. Und auch am Col de Joux Plane und bei Saint-Gervais Mont-Blanc fielen nur noch matte Blicke aus seinen in tiefen Höhlen liegenden Augen. Im Ziel fand Pogacar allerdings regelmässig die altbekannte Munterkeit wieder. «Wir können sehr zufrieden sein und mit grossem Selbstbewusstsein in die nächsten Tage gehen», sagte er am Sonntag im Schatten des Mont-Blanc-Massivs.

Hinter einer Ausreissergruppe fochten die beiden herausragenden Fahrer erneut ihr Duell aus. Pogacar beschleunigte zweimal, Vingegaard holte auf, attackierte dann selber. Schliesslich rollten sie nur durch Zentimeter getrennt über den Zielstrich. Pogacar kommentierte den vorerst letzten Akt ihres grossen Dramas so: «Ich habe gemerkt, dass Jonas gute Beine hat. Ich konnte ihn nicht abhängen. Der Anstieg war nicht schwer genug.» Und seinem Gesicht konnte man ablesen, dass er es sich etwas steiler gewünscht hätte und überzeugt war, die Kraft dafür zu haben.

Seine Gegner scheinen mittlerweile am Ende ihres Lateins angelangt. Sie haben Pogacar mit ihrer Übermacht zu zermürben versucht. Aber immer wieder wand sich der Slowene aus heiklen Situationen. Er wirkt am Ende der Etappen meist frischer als Vingegaard. In der Bilanz der Bonussekunden, die bei Bergsprints vergeben werden, liegt Pogacar mit 41 Sekunden gegenüber den 23 des Dänen deutlich voraus. Das spricht für seine Explosivität – und für die Trainingsmethoden seines Teams UAE.

Ein guter Gewährsmann, um das Training der beiden Rennställe zu vergleichen, ist George Bennett. Der Neuseeländer war bis 2021 Profi bei Jumbo-Visma, seit letztem Jahr ist er bei UAE unter Vertrag. Er sagt: «Bei Jumbo sind wir jüngst Rhythmen gefahren von zwei Minuten Vollbelastung, dann zwei Minuten weniger Belastung, aber immer noch hohes Tempo. Das war ein sehr genereller Ansatz. Und passte prima für Fahrer wie Primoz Roglic und Wout van Aert. Und es sollte, so dachte man, auch für alle anderen gut sein. Nun bei UAE ist es viel individueller. Und die Tests gehen viel tiefer.»

Insgesamt seien die Trainings bei UAE weniger umfangreich als bei Jumbo-Visma, dafür seien sie mit höheren Intensitäten verbunden. Grosses Augenmerk werde auf die Frische am Ende eines Belastungszeitraums gelegt, sagt Bennett. Es sei nicht wichtig, welchen Wert man bei der maximalen Sauerstoffaufnahmekapazität des Blutes habe, was lange als das wichtigste Kriterium für ein Rundfahrten-Talent galt. «Entscheidend ist vielmehr, in welcher Verfassung du beim letzten Gipfel ankommst. Es ist eine Frage von Wiederholbarkeit und Effizienz.»

George Bennett kennt beide Teams der zwei Tour-Favoriten.

George Bennett kennt beide Teams der zwei Tour-Favoriten.

Imago

Der Gewährsmann George Bennett erklärt die Unterschiede

Bei Bennett schlug sich das gelobte Training noch nicht in wesentlich besseren Einzelresultaten nieder. Er wurde nicht ins diesjährige Tour-Aufgebot berufen. Aber die Trainingsunterschiede, die er nennt, erklären die verschiedenen Herangehensweisen der beiden Mannschaften an der Tour: Jumbo-Visma setzt auf einen möglichst geschlossenen Block mächtiger Treter, Pogacar indes ist der Tribun der letzten Auffahrt. Er lässt die Anstrengungen der fleissigen Arbeitsbienen in der gelb-schwarzen Rennkleidung einfach verpuffen.

Um Vingegaard zu besiegen, reicht das aber noch nicht. Nach rund 2600 gefahrenen Kilometern liegt Pogacar noch immer zehn Sekunden hinter dem Dänen zurück. Immerhin konnte er Jumbo-Visma zu einer Strategieänderung zwingen. Auf der 15. Etappe wurde Vingegaards Helfer Wout van Aert in die Ausreissergruppe geschickt, mit der Option, entweder die Etappe zu gewinnen oder als Relaisstation für den Captain im Finale zu dienen – Van Aert verpasste beide Ziele. Die Helferdienste hatten selbst dieses Kraftpaket aufgerieben.

Jumbo-Visma droht sogar regelrecht zu zerbröseln. Auch Stürze haben der Helferschar des Teams zugesetzt. Jetzt muss für Pogacar, den Spezialisten für den letzten Anstieg, das finale Profil nur noch steil genug werden. Der nächste Akt im Duell ist am Dienstag ein Zeitfahren.

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