Wie eine kleine Schweizer Firma gegen die Marktmacht von Apple ankämpft

Apple stellt den E-Mail-Anbieter Protonmail vor die Wahl: Entweder er führt eine Bezahlversion seiner iOS-App ein, oder er wird aus dem App-Store ausgeschlossen. Für Proton bedeutet das: einlenken oder zugrunde gehen. Doch Apple hat nicht mit Andy Yen gerechnet, dem aktivistischen CEO von Proton.

Gioia da Silva
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Kaufen Nutzer Dienstleistungen in einer App, verdient Apple normalerweise mit.

Kaufen Nutzer Dienstleistungen in einer App, verdient Apple normalerweise mit.

Gabby Jones / Bloomberg

Als der Teilchenphysiker Andy Yen 2013 von den Enthüllungen von Edward Snowden erfährt, ist er tief beunruhigt. Wie konnte das Internet zu einem Instrument verkommen, das es Behörden ermöglicht, Gespräche von unbescholtenen Bürgern aufzuzeichnen, E-Mails in Unterwasserkabeln abzufangen und Menschen über ihre mobilen Geräte zu verfolgen?

Als die Massenüberwachung auffliegt, arbeitet Yen gerade am Kernforschungsinstitut Cern in Genf. An dem Ort, wo Physiker in einem gigantischen Ring unter der Erde Protonen miteinander kollidieren lassen. An dem Ort, wo das Internet erfunden wurde. An dem Ort, wo Yen den Gegenentwurf zu Google, Facebook und dem werbegetriebenen Internet lancieren sollte.

Mit den Gedanken bei den Enthüllungen von Snowden, tippt Yen in eine Cern-Facebook-Gruppe: «Ich frage mich, was ich dagegen tun könnte.» Es melden sich zwei Kollegen: Der Programmierer Jason Stockman und der Teilchenphysiker Wei Sun. Gemeinsam gründen sie Protonmail, einen E-Mail-Dienst wie Gmail, Hotmail oder GMX, der aber Nachrichten «Ende zu Ende» verschlüsselt. Es ist eine Antithese zu den bisherigen E-Mail-Anbietern: ohne Werbung, ohne Inhaltsanalyse. Und es ist ein Etappensieg für den Datenschutz: Fangen Hacker oder Geheimdienste Protonmail-Nachrichten ab, erhalten sie nur einen unlesbaren Brei von Zahlen.

Apple will mitverdienen

Protonmail vertreibt seinen Service über die eigene Website und über die App-Stores von Apple und Google. Das Geschäft läuft gut, jährlich verdoppeln sich die Registrierungen, 2017 durchbricht der Dienst die Marke von 1 Mio. Nutzerinnen und Nutzern. Yen reist um die Welt, hält Reden über Datenschutz, sagt in Interviews Dinge wie «Daten sind die Währung der Zukunft, und sie sind so viel wertvoller als Gold». Es läuft alles nach Plan.

Bis im Mai 2018. Laut den Angaben von Proton blockiert Apple sämtliche Updates der iOS-App von Protonmail, nicht einmal Sicherheitsupdates sind noch möglich. Der Grund: Apple will am Erfolg von Proton mitverdienen. Zwar bezahlt der Grossteil der Proton-Nutzerinnen und -Nutzer nichts für ihr verschlüsseltes E-Mail-Postfach. Aber wer zusätzlichen Speicherplatz möchte, kann auf der Proton-Website für 4 bis 6 Franken einen Premium-Service abonnieren. Effektiv bezahlen nur wenige Prozent der Nutzer, doch für Proton reichen die Einnahmen dafür, den Dienst weiterzuentwickeln.

Apple bemängelt, dass das kostenpflichtige Premium-Produkt von Proton nur via die Website der Firma verkauft werde, nicht aber innerhalb der iOS-App. Bei In-App-Verkäufen hält Apple jeweils 30% des Umsatzes zurück, bei wiederkehrenden Bezahlungen wie bei Monatsabonnementen sind es 15%. Um die Gebühren zu umgehen, hatte Proton nur die Website, nicht aber die App als Verkaufskanal eingerichtet.

Andy Yen, CEO von Proton.

Andy Yen, CEO von Proton.

PD

Im Mai 2018 stellt Apple Proton vor die Wahl: Entweder die Protonmail-iOS-App wird so umprogrammiert, dass sie auch In-App-Käufe erlaubt, oder sie wird vom App-Store ausgeschlossen. «Wir konnten gar nicht anders, als zu kooperieren», sagt Yen. Die Nachricht von Apple kam für Proton unerwartet, schliesslich hatte Apple davor den Programmcode von Proton nie bemängelt.

Apple setzt Proton eine Deadline von dreissig Tagen. Also lassen die Proton-Software-Entwickler ihre laufenden Projekte liegen und programmieren die iOS-App um. Seither hält Apple einen Teil der Einkünfte von Protonmail zurück.

Apple lehnt die Darstellung von Proton ab, wonach kleine Firmen sich den Regeln von Apple anpassen müssen, um nicht zugrunde zu gehen. Die Firma teilt der NZZ auf Anfrage mit, dass App-Entwickler weitere Vertriebsmöglichkeiten hätten, den Apple-Store also freiwillig nutzen würden. E-Mail-Dienste könnten zum Beispiel auch über den Browser aufgerufen werden.

Yen sagt dazu: «Es gibt heute keine Digitalfirma, die ohne iOS-App überlebt.»

Exorbitante Summen

Für Proton ist Apple nicht nur der Gate-Keeper zu einem grossen Teil der Kundschaft, sondern auch ein direkter Konkurrent. Schliesslich betreibt Apple ein E-Mail-Programm und wirbt mit Privatsphäre, genau wie Proton. Doch Apple hat es nicht nötig, Proton aus dem Markt zu drängen. Stattdessen will der Konzern mitverdienen. Apple nimmt laut einer Analyse des amerikanischen Fernsehsenders CNBC jährlich über 60 Mrd. $ mit In-App-Verkäufen ein.

Das Geld, sagt Apple, werde gebraucht, um den App-Store sicher und zuverlässig zu betreiben. Schliesslich prüfe Apple wöchentlich 100 000 Apps und Updates von Entwicklern auf ihre Sicherheit und garantiere damit die hohe Qualität der Apple-Produkte, sagte Kyle Andeer, Apples Chief Compliance Officer, in einer Anhörung vor Angehörigen des amerikanischen Senats.

Doch die Summe, die Apple mit den In-App-Verkäufen einnimmt, ist etwa doppelt so hoch wie der Betrag, den die Schweiz mit der direkten Bundessteuer einzieht.

Im neuen Proton-Büro in Zürich redet Yen Klartext: «Apple missbraucht seine marktbeherrschende Stellung.» Um die Umsatzeinbusse wettzumachen, habe Proton die Preise des Premium-Angebots um etwa 20% erhöhen müssen, sagt Yen. Proton selbst nehme eine Umsatzeinbusse von 10% in Kauf. «Dieses Geld würden wir lieber in die Weiterentwicklung unseres Geschäfts investieren», sagt Yen.

Die Vorwürfe wiegen schwer, sie zielen jedoch auf genau das, was Wettbewerbshüter sehen wollen, wenn es darum geht, eine schädliche Marktmacht zu erkennen: Preisanstiege und die Verhinderung von Innovation.

Apple weist eine marktbeherrschende Stellung von sich. Der Apple-CEO Tim Cook sagte im Sommer 2020 in einer Anhörung vor Politikern des amerikanischen Repräsentantenhauses, dass der Grossteil der App-Entwickler keinerlei Kosten für die Nutzung des App-Stores habe, weil sie keine In-App-Verkäufe anböten. Ausserdem seien die Gebühren bei Apple gleich hoch wie bei der Konkurrenz oder sogar niedriger.

Lobbying für die Kleinen

Allerdings ist Proton bei weitem nicht das einzige Unternehmen, das sich an den Bestimmungen von Apple stört. Laut einem Blog-Eintrag des Tech-Journalisten Ben Thomson gibt es mindestens 21 weitere Firmen, die sich durch die Apple-Richtlinien benachteiligt sehen, sich aus Angst vor Vergeltungsmassnahmen aber nicht getrauen, Apple öffentlich zu kritisieren.

Anders Andy Yen. Er steckt mit einem Fuss im Unternehmertum, mit dem anderen im Aktivismus. Deshalb beliess er es nicht bei verbalen Attacken gegen Apple, sondern lancierte im vergangenen Herbst ein Lobbyingteam, das in den politischen Machtzentren der westlichen Welt für seine Interessen einsteht. Es hat die US-Regierung dabei unterstützt, einen über 400-seitigen Untersuchungsbericht über den Wettbewerb in digitalen Märkten zu verfassen. Dieser hat nun erste konkrete Auswirkungen: Vorige Woche reichte ein parteiübergreifendes Gremium um die ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidatin Amy Klobuchar im amerikanischen Senat ein neues Gesetzesprojekt ein, das die Macht von Apple und Google in ihren App-Stores einschränken soll.

Auch in Brüssel lassen die Proton-Lobbyisten nichts unversucht. Dort haben sie kürzlich das Team der EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager darin bekräftigt, ihre Digital Markets Act zu lancieren, ein Gesetzespaket, das zwar ebenfalls noch ganz am Anfang des politischen Prozesses steht, aber dazu führen könnte, dass marktbeherrschende Firmen aufgespalten werden können.

Der Druck der drohenden Regulation, zusammen mit dem aufgestauten Unmut von anderen Anbietern, hatte schon erste Konsequenzen: Apple senkte vergangenen Herbst die Provision für In-App-Verkäufe für kleinere Anbieter von 30 auf 15%. Ausserdem passte Apple seine Richtlinien dahingehend an, dass Gratis-Apps bestehen bleiben können, auch wenn ihr kostenpflichtiges Premium-Angebot ausschliesslich über eine Website verkauft wird.

Doch Yen traut den neuen Geschäftsbedingungen von Apple nicht. Aus Angst, dass Apple die eigenen Richtlinien nicht einheitlich umsetzt und trotzdem gegen Proton gerichtete Massnahmen ergreift, hat er die In-App-Verkäufe noch nicht deaktiviert und tritt bis heute Umsatz an Apple ab. Seine Erfahrung hat ihm gezeigt, dass ein Konzern wie Apple viele Möglichkeiten hat, seinen Willen durchzusetzen.

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