Auf der Flucht vor dem Fiskus: Warum nach den alten Milliardären nun auch norwegische Erbinnen und Unternehmer in die Schweiz ziehen

Die Regierung in Oslo will die Steuerflüchtlinge mit einer Strafsteuer aufhalten. Hingegen blickt die Opposition mit Bewunderung auf die neue Wahlheimat der Auswanderer.

Linda Koponen, Tallinn 5 min
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Von Oslo nach Zürich: Viele wohlhabende Norwegerinnen fliegen in die Schweiz.

Von Oslo nach Zürich: Viele wohlhabende Norwegerinnen fliegen in die Schweiz.

Artur Widak / Getty

Zuerst gingen die alten Milliardäre, jetzt folgen ihnen junge Unternehmer und Erbinnen: Auf der Flucht vor dem Fiskus verlassen immer mehr Norwegerinnen und Norweger ihr Land. Mit ihnen wandert Kapital ins Ausland – vor allem in die Schweiz, die sich bei den reichen Norwegern einer besonderen Beliebtheit erfreut.

Einige der Millionäre zieht es ins Tessin. Im letzten Herbst hat sich Kjell Inge Rökke – laut der Zeitschrift «Kapital» die siebtreichste Person Norwegens mit einem Vermögen von umgerechnet 3,8 Milliarden Franken – in Lugano niedergelassen. Sein Geld hat Rökke mit Offshore-Geschäften in Fischerei, Öl und Energie verdient. 2005 wurde er wegen Korruption verurteilt.

Dem Industrie-Tycoon sind mehrere vermögende Landsleute in die Schweiz gefolgt. Zuletzt sollen die beiden Millionenerben Phoebe Hveem Lier (28) und Peder Rye Lier (35) zu Rökke ins Resort Collina d’Oro oberhalb des Luganersees gezogen sein. Hveem ist Influencerin und sitzt im Vorstand einer Investmentfirma, die ihrem Vater Paal Hveem gehört. Dessen Vermögen wird auf 235 Millionen Franken geschätzt. Peder Rye Lier leitet mehrere Immobilienunternehmen. Sein Vermögen soll 4,5 Millionen Franken betragen.

Dass nicht mehr nur die Reichsten der Reichen Norwegen verlassen, hat einen Grund: Die Regierung hat den Steuersatz für grosse Vermögen seit 2021 verdoppelt. Nun droht sie damit, die sogenannte Wegzugssteuer zu verschärfen, um so wohlhabende Personen am Auswandern zu hindern.

Die Steuern in Norwegen sind höher als in vielen anderen Ländern, da das Sozialversicherungssystem des Landes über die Steuern finanziert wird. Weshalb Norwegen jedoch weitere Erhöhungen erwirkt und so in Kauf nimmt, dass Unternehmer mit ihrem Kapital und womöglich mit Arbeitsplätzen ins Ausland abwandern, ist schleierhaft. Denn die norwegischen Sozialleistungen fussen auf noch auf einem anderen, gewichtigen Pfeiler: Dem billionenschweren Staatsfonds, der die Öleinnahmen des Landes in Aktien investiert.

Die Angst vor einer Verschärfung der Wegzugssteuer treibt die wohlhabenden Norweger in die Flucht. Wenn eine Person heute auswandert, wird die Steuer von 37,84 Prozent auf hypothetischen Kapitalgewinnen ab 500 000 Kronen (41 880 Franken) berechnet. Sie wird jedoch erst fällig, wenn man die Gewinne auch tatsächlich realisiert. Künftig könnte die Steuer sofort beim Wegzug fällig werden. In der Praxis hätte dies zur Folge, dass einige Auswanderer wohl ihre Firmen veräussern müssten, um für die Steuern aufkommen zu können.

Mit ihrer Drohung hat die Regierung das Gegenteil dessen erreicht, was sie eigentlich wollte. Philipp Zünd ist Steuerexperte bei KPMG und berät auch viele norwegische Kunden. Er sagt: «Viele vermögende Norweger befürchten weitere Verschärfungen und sagen sich jetzt: Ich muss gehen, solange ich kann.»

Zünd ist seit 15 Jahren im Privatkundenbereich tätig. Dass aus einem Land innert weniger Monate Dutzende von Personen einwandern, hat er noch nie erlebt. Anders als die Schweizer halten die Norweger laut Zünd den grössten Teil des Vermögens über Gesellschaften. Um die Vermögenssteuern zu bezahlen, müssten sie Dividenden ausschütten, die ebenfalls besteuert würden. «Sie wollen nicht die Substanz ihrer Firmen schmälern, um Steuern zu zahlen, und wandern deshalb aus.»

Seinen Kunden gehe es nicht darum, Steuern komplett zu umgehen, sagt Zünd. Viele von ihnen zögen nicht in die steuerlich attraktivsten Kantone wie Zug oder Schwyz. «Sie sind durchaus bereit, einen vernünftigen Beitrag zu leisten, und nehmen für eine hohe Lebensqualität auch höhere Steuern in Kauf.»

Dank der Pauschalbesteuerung sind einige Kantone ein attraktiver Ort für ausländische Staatsangehörige, die hierzulande nicht erwerbstätig sind. Doch die Norweger können davon nicht profitieren. Das norwegische Gesetz sieht nämlich vor, dass Auswanderer, die in der Schweiz nicht ordentlich besteuert werden, unter dem Doppelbesteuerungsabkommen als nicht in der Schweiz ansässig gelten. «Doch auch wenn sie hier ordentlich besteuert werden – also genau gleich viel bezahlen wie die Schweizer –, zahlen sie deutlich weniger als in Norwegen», sagt Zünd.

Neben den tieferen Steuern sieht er für die Zuwanderungswelle in die Schweiz noch andere Gründe: «Die Schweiz ist Norwegen klimatisch und kulturell nahe. Zudem zeigt sich nun eine Dynamik: Vermögende Norwegerinnen und Norweger folgen ihren Landsleuten in die Schweiz.»

Folgen für die norwegische Gesellschaft

Zünds Eindruck wird von den Zahlen des Bundesamts für Statistik bestätigt. Zwischen Juni 2022 und Mai 2023 zogen 373 Norwegerinnen und Norweger in die Schweiz. Zum Verglich: In den zwölf Monaten davor lag die Zuwanderung aus Norwegen bei 220 Personen.

Die Zuwanderung aus Norwegen hat in den letzten 12 Monaten deutlich zugenommen

Zahl der Einwanderer aus Norwegen, jeweils von Juni bis Mai

In diesem März erreichte die Einwanderung einen zweiten Höhepunkt. Seither hat der Bewegung zwar etwas nachgelassen. Doch die Zuwanderung aus dem Norden hält weiter an.

Im März erreichte die Einwanderung einen zweiten Höhepunkt

Zahl der Einwanderer aus Norwegen pro Monat

Diese Entwicklung ärgert Marius Arion Nielsen. Für Nielsen, der für die rechtsnationale Fortschrittspartei im norwegischen Parlament sitzt, gibt es einen Schuldigen: die «sozialistische Regierung» in Oslo. Er sagt: «Die Regierung behauptet, sie setze sich für das norwegische Eigentum und unsere Wettbewerbsfähigkeit ein, doch ihre Massnahmen bewirken genau das Gegenteil.»

Dass nun auch jüngere Menschen aus Norwegen flöhen, sei «schändlich und deprimierend für die Zukunft des Landes». Nielsen hat Verständnis für jene, die gehen: «Die Vermögenssteuern wurden seit dem Regierungswechsel im Jahr 2021 mehr als verdoppelt, und wenn das Steuersystem zu einer Belastung für Unternehmen wird, verstehe ich vollkommen, warum viele Menschen woanders hingehen.»

Die negativen Auswirkungen auf Norwegen würden von der Regierung und den Medien heruntergespielt. Nielsen sagt: «Vor allem für kleine Gemeinden wird es aber grosse Auswirkungen haben, wenn sie grosse Steuerzahler und Stützpfeiler in ihren Regionen verlieren.»

Laut der norwegischen Wirtschaftszeitung «Dagens Naeringsliv» dürfte allein Rökke dem Fiskus seit 2008 rund 1,5 Milliarden Kronen – umgerechnet etwa 145 Millionen Franken – abgeliefert haben, und zwar vor allem über die Vermögenssteuer.

Für Nielsen geht das Problem jedoch über ein Loch in der Staatskasse hinaus. Auch die Wirtschaft werde es spüren, wenn die Bereitschaft der Unternehmer, in Norwegen zu investieren, sinke. Nielsen schildert eine Kettenreaktion: «Wenn das Risikokapital knapper wird, dann wird das norwegische Unternehmertum zurückgehen, woraufhin die Gesamtbesteuerung wahrscheinlich sinken wird.»

Rechtsnationale blicken mit Bewunderung in die Schweiz

Nielsen hat im Mai im Parlament einen Verein gegründet, der dazu dienen soll, Informationen über die Schweiz zu gewinnen und vom dortigen Modell zu lernen. Wenn ein Land fähig sei, so viele wohlhabende und erfolgreiche Leute anzuziehen, müsse es etwas richtig machen.

Doch nicht alle in Norwegen sehen die Schweiz als Vorbild. Im Mai versuchte die Linksaussenpartei Rodt, Nielsens Verein zu kapern. Sie ermutigte die Politiker der Linken, sich bei der Gründungsversammlung für eine Änderung des Zwecks des Fördervereins einzusetzen. Statt die Milliardäre zurückzulocken, müsse man die Lücken schliessen, die die Schweiz zu einer Steueroase machten, sagte eine Vertreterin der roten Partei gegenüber «Altinget».

Auch Sofie Marhaug sitzt für Rodt im Storting, dem norwegischen Parlament. Sie sagt: «Ich bin entschieden gegen ein System, in dem reiche Privatpersonen ihre Steuern selbst aushandeln.» Im Gegensatz zu Nielsen glaubt Marhaug nicht, dass der Exodus der Reichen grosse Auswirkungen auf Norwegens Wirtschaft hat. «Norwegen ist ein sehr stabiler Wohlfahrtsstaat, der auch Kapital anzieht.»

Fakt ist: Während im Storting ideologische Grabenkämpfe geführt werden, wandern Kapital und Arbeitsplätze weiter ins Ausland ab.

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