Männliches Gehirn ≠ weibliches Gehirn

Männer haben grössere Gehirne als Frauen, und das ist nicht der einzige Unterschied. Doch wer daraus voreilige Schlüsse zieht, muss sich auf Widerspruch gefasst machen.

Lena Stallmach
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Aus der Hirnstruktur kann man viel herauslesen und unterschiedliche Schlüsse ziehen. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Aus der Hirnstruktur kann man viel herauslesen und unterschiedliche Schlüsse ziehen. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Männer können besser parkieren und handeln zielorientierter. Frauen sind empathischer und können besser über ihre Gefühle reden. Derlei Klischees sind weit verbreitet. Die Unterschiede werden gern mit der Evolution erklärt, mit den Genen und den Hormonen. Zweifellos spielen diese eine wichtige Rolle. Sie beeinflussen unser Verhalten und die Hirnentwicklung. Aber gibt es auch so etwas wie das weibliche und das männliche Gehirn?

Seit Jahrzehnten suchen Hirnforscher nach geschlechtsspezifischen Eigenheiten in der Struktur und der Funktion des Gehirns. Und dabei werden sie auch fündig. Als weitaus schwieriger erweist es sich allerdings, die Ergebnisse zu deuten. Beeinflussen kleine Unterschiede in der Struktur oder der Funktion unser Verhalten? Oder ist es die Folge einer geschlechtsspezifischen Erziehung? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter? Nicht selten geraten sich Forscher bei solchen Fragen in die Haare.

Unterschiedlich vernetzt

So zeigte etwa eine Studie im Jahr 2014 unter der Leitung von Ragini Verma, dass die Gehirne von weiblichen und männlichen Jugendlichen unterschiedlich vernetzt sind. Die Forscher untersuchten mit der sogenannten Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) den Verlauf der Nervenfasern von 950 männlichen und weiblichen Probanden im Alter von 8 bis 22 Jahren. Sie fanden heraus, dass männliche Gehirne mit Beginn der Adoleszenz eine stärkere Vernetzung innerhalb der beiden Hirnhälften aufweisen. Bei Frauen gab es dagegen mehr Verbindungen zwischen der linken und der rechten Hirnhälfte.

Die Studie fand grosse Beachtung in den Medien und wurde als Erklärung für alle möglichen geschlechtsspezifischen Unterschiede herangezogen, etwa dass Frauen besser im Multitasking seien und Männer stärker zielgerichtet dächten.

«Alles Blödsinn», findet Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Erstens seien Frauen gar nicht besser im Multitasking oder Männer im zielgerichteten Denken – allgemein seien sich Männer und Frauen in ihrem Verhalten und ihren Leistungen sehr ähnlich. Nur bei einigen wenigen Tests wie etwa im räumlichen Denken würden Männer und bei bestimmten sprachlichen Fähigkeiten Frauen geringfügig besser abschneiden. Zweitens sei der Unterschied in der Vernetzung gar kein geschlechtsspezifisches Merkmal, sondern durch die Grösse der Gehirne begründet.

Auf die Grösse kommt es an

Dass Männer grössere Gehirne als Frauen haben, ist unbestritten. So misst ein durchschnittliches männliches Gehirn etwa 1,4 Liter und ein weibliches Gehirn gut 1,2 Liter. Dies werde in den meisten Studien, die nach Unterschieden in Subregionen des Gehirns suchten, bei der Interpretation der Daten nicht berücksichtigt, sagt Jäncke. Er und sein Mitarbeiter Jürgen Hänggi zeigten im Anschluss an Vermas Studie im Jahr 2015, dass der Unterschied in der Vernetzung verschwand, wenn sie jeweils gleich grosse Gehirne von Männern und Frauen verglichen.

Demnach sind nicht weibliche und männliche Gehirne unterschiedlich vernetzt, sondern grosse und kleine. Dieser Befund wurde kürzlich von einer weiteren Gruppe bestätigt. Jäncke begründet die unterschiedliche Vernetzung mit einer These, die der Hirnforscher James Ringo vor mehr als 20 Jahren aufstellte. Dieser erklärte, dass grosse Gehirne wegen der grösseren Distanz zwischen den Hirnhälften längere Verbindungen aufbauen müssten als kleinere. Weil längere Leitungen aber weniger effizient sind, verbinden sich grössere Gehirne stärker regional, also innerhalb einer Hemisphäre. Das führt laut der These dazu, dass die beiden Hirnhälften in grossen Gehirnen unabhängiger voneinander arbeiten als in kleinen Gehirnen.

Was die unterschiedliche Vernetzung grosser und kleiner Gehirne für ihre Leistung bedeutet, bleibt aber unklar. Grosse Gehirne arbeiteten eben anders als kleine, sagt Jäncke. Auf jeden Fall seien grosse Gehirne nicht besser als kleine. Sonst müssten Männer intelligenter sein als Frauen, und das sei nicht der Fall. Wie der Grössenunterschied beim Gehirn zustande kommt, ist dagegen ungeklärt. Mit der Körpergrösse hat es offenbar wenig zu tun, denn diese korreliert nicht gut mit der Hirngrösse, wie Jäncke und Kollegen 1998 zeigten.

Manche Unterschiede bleiben bestehen

Allerdings lassen sich nicht alle Unterschiede im Gehirn von Männern und Frauen durch das unterschiedliche Gesamtvolumen erklären. Anfang Jahr zeigte etwa eine Studie mit über 5000 Teilnehmern unter der Leitung von Stuart Ritchie von der University of Edinburgh, dass Männer ein grösseres Volumen bei der Hirnrinde aufweisen als Frauen und dass auch viele subkortikale Regionen, wie etwa der Hippocampus (Gedächtnisbildung, räumliche Orientierung), die Amygdala (Emotionen und körperliche Erregung) oder das Striatum (Belohnung und Lernen), bei Männern grösser sind. Bei Frauen war die Hirnrinde trotz kleinerem Volumen dicker und die Vernetzung der Nervenzellen (weisse Substanz) komplexer.

Zwar verschwanden die Unterschiede teilweise, wenn die Forscher die Gehirngrösse berücksichtigten. Jedoch wiesen immer noch 14 von insgesamt 68 Regionen der Hirnrinde von Männern ein grösseres Volumen auf. Nach der «Grössenkorrektur» waren aber auch 10 Regionen in der Hirnrinde von Frauen grösser als bei Männern. Die Studie ist noch nicht publiziert, sondern unredigiert auf dem BioRxiv-Server erschienen. Jedoch decken sich die Ergebnisse mit jenen aus früheren Publikationen. Die Unterschiede nach der «Grössenkorrektur» sind jeweils gering, aber sie sind vorhanden.

Im Gegensatz zu Jäncke argumentiert Ritchie aber, dass es keinen Sinn ergebe, die Grösse aus den Daten herauszurechnen. Denn es sei nun einmal Fakt, dass Männer grössere Gehirne hätten. Das sei der grösste Geschlechtsunterschied. Ob und wie sich das auf das Verhalten oder bestimmte Leistungen auswirke, müsse man in künftigen Studien genauer untersuchen.

Ähnlich wie bei den Sozialwissenschaftern gibt es also auch unter den Hirnforschern jene, welche die Gemeinsamkeiten der Geschlechter hochhalten, und jene, welche die Unterschiede hervorheben. Letztere argumentieren gern damit, dass auch minimale Unterschiede medizinisch relevant sein könnten. Denn es bestehe die Möglichkeit, dass man deshalb geschlechtsspezifische Therapien für psychische Erkrankungen wie Depressionen, Suchterkrankungen, Schizophrenie oder posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln müsse, erklärte etwa Larry Cahill von der University of California, Irvine, in einem Artikel. Diese Krankheiten treten bei Männern und Frauen nämlich verschieden häufig auf, oder sie nehmen unterschiedliche Verläufe.

Männlich und weiblich zugleich

Andere Forscher finden dagegen, dass diese Kategorisierung weder bei psychischen Erkrankungen hilfreich sei noch sonst etwas über das Individuum aussage. Daphna Joel von der Universität Tel Aviv bezweifelt vor allem, dass es einen kategorischen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen gibt. Vielmehr bestehe das Gehirn von Männern und Frauen aus einem Mosaik von männlichen und weiblichen Anteilen – so wie es Männer gibt, die «weibliche Seiten» besitzen und zum Beispiel empathisch sind oder über Gefühle reden können, und Frauen, die als männlich geltende Fähigkeiten haben, wie etwa eine gute räumliche Vorstellungskraft oder rationales Handeln.

Joel begründete ihre These 2015 in einer Studie. Darin verglichen sie und ihre Kollegen, darunter auch Jäncke und Hänggi von der Universität Zürich, die Gehirne von 1400 Männern und Frauen und konzentrierten sich jeweils auf zehn Regionen, die sich stark zwischen den Geschlechtern unterscheiden. Anhand von deren Grösse bestimmten sie jeweils, wie männlich oder weiblich diese ausfielen.

Die Analyse ergab, dass die meisten Menschen sowohl weibliche als auch männliche und viele intermediäre Regionen haben. Grundsätzlich hatten die meisten Frauen mehr weibliche und die meisten Männer mehr männliche Regionen. Aber kaum eine Person hatte nur männliche oder nur weibliche Regionen, alle wiesen eine Art Mosaik auf. Man könne also keine klare Trennung ziehen und von einem weiblichen oder männlichen Gehirn sprechen, schlussfolgerte Joel.

Widerspruch regte sich sofort. So antwortete Marek Glezerman von der Universität Tel Aviv in einen Kommentar: «Doch, es gibt ein weibliches und ein männliches Gehirn.» Es komme nur auf die Ebene an, die man betrachte. Auch wenn die Unterschiede in der groben Struktur gering seien, so sei jede einzelne Nervenzelle durch ihre Chromosomen weiblich oder männlich.

Zudem komme es nicht nur auf die Anatomie an, sondern auch auf die Funktion. Wenn man nur die Struktur betrachte – wie in Joels Studie –, sei das so, als zeichne man eine Strassenkarte und schliesse daraus, wie viel Verkehr dort jeweils herrsche. Funktionell seien männliche und weibliche Gehirne sehr verschieden, nicht besser oder schlechter, aber verschieden. Sie seien in der embryonalen Entwicklung unterschiedlichen Hormonen ausgesetzt und regulierten ihrerseits die Hormonproduktion im männlichen und im weiblichen Körper auf unterschiedliche Weise.

Monatlicher Rhythmus im Hirn

Hormone haben laut Julia Sacher vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften tatsächlich einen grossen Einfluss auf die Funktion und die Struktur des Gehirns. So verändert sich das Volumen der grauen und weissen Substanz im Hippocampus, einer Gehirnregion mit zentraler Rolle für Gedächtnis, Stimmung und Emotionen im Laufe des Zyklus, wie die Forscher in einer Pilotstudie bei einer Probandin beobachteten.

Bei weiblichen Mäusen wurde bereits festgestellt, dass nicht nur der Hippocampus, sondern auch verschiedene Verhaltensweisen einer Art monatlichem Zyklus unterliegen. Ob dies auch beim Menschen zutrifft, soll eine grössere Studie zeigen. Darin werden die Forscher ihre Beobachtung aus der Pilotstudie überprüfen und die Auswirkungen auf das menschliche Verhalten untersuchen. «Sollte sich beispielsweise herausstellen, dass Frauen in bestimmten Phasen ihres Monatszyklus besonders aufnahmefähig sind, könnte das möglicherweise für Psychotherapien genutzt werden», sagt die Neurowissenschafterin.

Auch in der Schwangerschaft kommt es zu Anpassungen in der Struktur des Gehirns, die bis zu zwei Jahre anhalten können, wie kürzlich eine Studie von Elseline Hoekzema von der Universitat Autònoma de Barcelona zeigte. Sie untersuchte die Hirnstruktur und -funktion bei Frauen vor, während und nach der Schwangerschaft und stellte eine Volumenabnahme in mehreren Regionen der Hirnrinde sowie im Hippocampus fest. Die Beispiele zeigten, dass das Gehirn sehr plastisch sei und sich an verschiedene Umstände und Anforderungen anpasse, sagt Sacher.

Angeboren oder erlernt

Tatsächlich ist das Gehirn sehr anpassungsfähig und wird nicht nur durch Hormone, sondern auch durch Erfahrungen und Tätigkeiten geprägt. So nimmt etwa bei Londoner Taxifahrern, die sich im Laufe ihrer Ausbildung das gesamte Strassennetz einprägen müssen, das Volumen im Hippocampus zu, der beim Gedächtnis und bei der räumlichen Orientierung eine Rolle spielt. Bei Pianisten verändern sich der Motorkortex, der die Hände kontrolliert, und der auditorische Kortex. Bei Golfern die Hirngebiete, die in die Kontrolle des Golfspielens eingebunden sind.

«Und weil Männer und Frauen in unserer Gesellschaft kulturell bedingt unterschiedliche Rollen und Berufe ausüben, kann dies auch zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Gehirnstruktur und -funktion führen», sagt Jäncke. Deshalb sei es problematisch, wenn man die Ergebnisse aus solchen Studien dafür verwende, vermeintlich geschlechtsspezifische Verhaltensweisen oder Fähigkeiten zu erklären. Anstatt die Unterschiede kleinzureden oder sie aufzubauschen, sollte man sie einfach einmal erheben, findet Sacher. Ohne die Ergebnisse zu werten und vor allem ohne sie dafür zu verwenden, gewisse Rollenbilder zu zementieren.