Tulpenzucht – eine «Wissenschaft» für sich

Seit über 400 Jahren wird in den Niederlanden Tulpenzucht betrieben. Die Entwicklung neuer Sorten der beliebten Zierpflanze beschäftigt auch die Wissenschaft.

Kurt de Swaaf
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Ein Frühling ohne Tulpen ist nicht nur hierzulande schwer vorstellbar – im Bild ein Tulpenbeet in Washington. (Bild: Carolyn Kaster / AP)

Ein Frühling ohne Tulpen ist nicht nur hierzulande schwer vorstellbar – im Bild ein Tulpenbeet in Washington. (Bild: Carolyn Kaster / AP)

Es riecht wie in einem Kartoffelkeller. An den Wänden des Raums stapeln sich Holzkästen voller Blumenzwiebeln, daneben kleinere Kisten, gefüllt mit Sand. Wer genau hinschaut, sieht zwischen den Körnern Sprosse emporragen. «Das ist unsere Sicherheitsreserve», sagt Paul Arens. Die meisten seiner Kreuzungspflanzen hat der Wissenschafter draussen auf dem Feld untergebracht. Wenn aber sehr viel Regen fällt, verdirbt das den Pollen, erklärt er. Deshalb stehen einige Exemplare hier im Kühlhaus. Es regnet oft in den Niederlanden.

Riesiges Genom

Arens ist Biologe an der Universität Wageningen und Experte für die Genetik von Zwiebelgewächsen. Zusammen mit seinem Kollegen Jaap van Tuyl entwickelt er unter anderem neue Zuchtverfahren – auch für Tulpen. Ein sehr komplexes Gebiet. «Tulpen haben eines der grössten Genome im gesamten Pflanzenreich», sagt Arens. Ihr Erbgut umfasst zwischen 25 und 30 Gigabasen; eine Tomate dagegen verfügt nur über 900 Megabasen. «Das macht die Untersuchung der Tulpen-DNA ziemlich schwierig.» Von einer vollständigen Kartierung aller Gene sei man noch weit entfernt, bedauert der Forscher.

Der genetische Reichtum der Tulpe bringt eine erstaunliche Artenvielfalt hervor. Die Botaniker streiten seit langem über die korrekte Anzahl Spezies in der Gattung Tulipa. Rund 100 könnten es sein. Die meisten der noch viel zahlreicheren Kultursorten gehören zur Art Tulipa gesneriana, deren ursprüngliche Heimat vermutlich in Vorderasien liegt. Möglicherweise ist sie allerdings gar keine natürliche Spezies, sondern selbst bereits ein Kreuzungsprodukt.

Persische und osmanische Gärtner schätzten Tulpen bereits lange bevor die hübschen Gewächse nach Europa gelangten. Darstellungen der Blumen finden sich auf antiker Keramik, Teppichen und in diversen Büchern. Im 16. Jahrhundert schrieb der Bürgermeister von Istanbul feste Handelspreise für Tulpenzwiebeln vor. Etwa zur gleichen Zeit trat Tulipa ihren Siegeszug gen Westen an. 1562 kamen die ersten Exemplare als Handelsware an die Nordsee, nach Antwerpen. Man hielt sie zunächst für Speisezwiebeln und ass sie. Doch schon wenige Jahrzehnte später erlangten die Blumen in den Niederlanden Kultstatus (siehe Zusatz). Es war ein erster Höhepunkt einer langen, oft leidenschaftlichen Beziehung.

Heutzutage sind Tulpen zu einem Massenprodukt geworden. Das Züchten neuer Sorten, die sogenannte Veredlung, dient nicht nur modisch-ästhetischen Zwecken, sondern auch der Steigerung von Wirtschaftlichkeit und Haltbarkeit vor allem der Schnitttulpen, wie van Tuyl betont. «Sie müssen ein bisschen was aushalten können.» Der Transport im Kühlwagen etwa kann Tage dauern. «Das grosse Geld wird mit Schnitttulpen verdient», erklärt Arens. Der Verkauf von Blumenzwiebeln für den Garten, die sogenannte Trockenware, ist schon lange rückläufig. Gute Handelstulpen sollten robust und langstielig sein. Weitere wichtige Zuchtziele sind Resistenzen gegen Pilze der Gattung Fusarium und gegen das Tulip-Breaking-Virus, kurz TBV – die Geissel der Felder und Gewächshäuser.

Janusköpfige Virusinfektion

TBV gehört zu den Potyviren. Ihr Erbgut besteht aus einer einzelnen, langgestreckten RNA-Kette, verpackt in einer Proteinkapsel. Die Verbreitung der Erreger geht über Blattläuse. Diese saugen mit Viren kontaminierten Pflanzensaft und übertragen die Krankheitskeime mit ihrem Stechrüssel auf die nächste Tulpe. Auffälligstes Symptom einer TBV-Infektion ist die Entstehung von flammenartigen Mustern auf den Blütenblättern. Deren Farbe «bricht», daher der Name des Virus. Ein hübscher, vor allem im 17. Jahrhundert beliebter Effekt – doch leider zeigt TBV nicht nur optisch Wirkung. Die Zwiebel, das eigentliche Herzstück der Pflanze, aus der sie jeden Frühling neu austreibt, wird nach und nach geschwächt. Auch die Fähigkeit zur Bildung neuer Tochterzwiebeln kommt zum Erliegen. Die Tulpe stirbt ab. Und damit kann das Ergebnis jahrelanger, aufwendiger Zucht auf einen Schlag verloren gehen.

Doch nicht jede Tulpenart ist dem Virus wehrlos ausgeliefert. Tulipa fosteriana verfügt über eine genetisch verankerte TBV-Resistenz. Diese möchte man gerne in T. gesneriana einkreuzen, erklärt van Tuyl. Keine leichte Aufgabe. Die Pflanzen seien untereinander nur bedingt fruchtbar, sagt der Forscher. «Die meisten Kreuzungen gelingen daher nicht.» Oft kommt es zwar zu einer Befruchtung, doch die dabei entstehenden Embryos sterben sehr bald ab, die Samenbildung bleibt aus. Mit unterschiedlichen Kunstgriffen gelingt es den Experten dennoch immer wieder, lebensfähige Hybriden zu erzeugen. Embryos werden etwa aus den Fruchtknoten herausgenommen und in Kulturschalen aufgezogen oder die Elternzellen chemisch behandelt. Unter Einsatz solcher Techniken können Tulpen mit einer drei-, vier- oder fünffachen genetischen Ausstattung entstehen. Sie sind polyploid. Normale, diploide Pflanzen verfügen dagegen nur über einen doppelten Chromosomensatz. Das Potenzial der Polyploidie für die Entwicklung robuster und attraktiver Sorten ist gross. «Die meisten Tulpen sind aber noch diploid», betont Arens. «Auch die Hybriden, die wir jetzt haben.»

Was man gleichwohl kaum glauben mag: Auch im Zeitalter der Gentechnik wird selbst an der Universität überwiegend nach traditionellen Methoden gezüchtet. Man suche Elternpflanzen mit den gewünschten Eigenschaften, erläutert Arens, und bestäube sie mithilfe eines Pinsels. Danach wachsen die Samen auf natürliche Weise heran. Bevor diese im nächsten Frühling ausgesät werden können, muss man sie im Winter kühl lagern. Zehn bis zwölf Wochen bei weniger als 10 °C. Sonst keimen die Samen nicht gut. «Die haben ein Kältebedürfnis», sagt Arens. Der Übergang von niedrigen zu höheren Temperaturen setzt den Stoffwechsel in Gang.

Tulpen wachsen langsam. Im ersten Jahr bringen sie ein einziges, grashalmartiges Blättchen hervor. Bis zur ersten Blüte vergehen normalerweise fünf Jahre. «Erst dann beginnt man zu selektieren», berichtet Arens. Eine geeignete Sorte, ein sogenannter Kultivar, braucht weitere zehn bis fünfzehn Jahre, bis er marktreif ist. Diese dienen seiner Vermehrung: Sie geschieht ungeschlechtlich, über Tochterzwiebeln. Jede Zwiebel produziert jährlich zwei oder drei solche sogenannten Clister. «Hat man einen guten Kultivar, kann man ihn im Prinzip 100 Jahre lang weiter vermehren», sagt van Tuyl. Die Anwendung gentechnischer Verfahren indes gilt bei Tulpen bis anhin nicht als sinnvoll. «Dazu muss man das gewünschte Gen erst einmal haben», lacht Arens. Selbst den Genen für die TBV-Resistenz nähert man sich nur langsam an. Abgesehen davon sei die Methodik gesellschaftlich zu umstritten, erklärt Arens.

Während an der Universität geforscht wird, findet die kommerzielle Praxis anderthalb Autostunden von Wageningen entfernt statt. Die Polderlandschaft bei Oude Niedorp könnte niederländischer kaum sein, und wie so oft ist sie auch an diesem Märztag in tiefste Tristesse gehüllt. Nass glänzt die Borke der Alleebäume. Der Nordwestwind treibt dunkle Wolken über den Himmel, Regen und Hagelschauer wechseln sich ab. Eine Symphonie in Grau. In der Ackererde liegen Überreste von Meeresmuscheln. Sie erinnern daran, dass dieses Land einst mühsam der Nordsee abgerungen wurde. Neben einer Ansammlung von Bauernhäusern stehen moderne Metallscheunen. Man betritt sie durch eine Hintertür und findet sich plötzlich inmitten munterer Betriebsamkeit wieder. Rockmusik erfüllt den Raum, dazu ein frischer, pflanzlicher Duft. An den Tischen ist ein knappes Dutzend Frauen am Werk. Flink wickeln sie Tulpensträusse in Packpapier.

Zwei Türen weiter begrüsst Geert Hageman den Besucher. Der hochgewachsene Endfünfziger ist einer der führenden Köpfe der Firma Triflor und des Züchterverbandes Vertuco. Die Geschäfte laufen gut. Der Tulpenmarkt sei in den vergangenen Jahren gigantisch gewachsen, berichtet er. «Die Veredlung war lange Zeit nicht sehr interessant.» Der Kundschaft genügte das übliche Sortiment an Kultivaren. «Jetzt jedoch müssen ständig neue Formen angeboten werden.» Die Züchterexpertise hat stark an Bedeutung gewonnen. Genau Hagemans Metier.

Unter dem Glasdach der Halle herrschen milde 17 °C. Hier werden die Tulpen «gebroeid», «gebrüht»: Sie werden durch Wärme zum Austreiben gebracht. Die Pflanzen stehen dazu in sandgefüllten Plastic-Kästen. Dicht über ihnen hängen Heizungsröhren. Letztere sollten möglichst nah an den Blütenknospen sein, erklärt Hageman. Das spare Energie. Die Firma verfügt über 1,7 Hektaren überdachtes Areal. In der Saison 2014/15 habe man in diesen Scheunen 22 Millionen Schnitttulpen aus 107 verschiedenen Kultivaren produziert. Insgesamt bringen die Niederlande jährlich rund 1,7 Milliarden dieser Blumen auf den Markt – etwa 80 Prozent der weltweiten Produktion. «Die Rotationsgeschwindigkeit von Tulpen ist hoch», sagt Hageman. Bereits drei Wochen nach «Brüh»-Beginn stehen sie in Blüte. «Und wir starten im November.» Somit lassen sich pro Winter sechs oder sieben Ernten einbringen.

Effizienz ist allerdings nur ein Teil des Erfolgs: Hageman ist ein erfahrener Züchter. Er führt seinen Gast in ein kleineres Treibhaus, die Veredelungsabteilung. Auch hier reihen sich Tulpen an Tulpen, aber diesmal in überschaubaren Kohorten. Was schnell auffällt: Die Gewächse sehen bei weitem nicht so gleichförmig aus wie ihre Artgenossen in der Brühhalle. Einige haben grobe, hässliche Blätter, andere viel zu kurze Stiele. «Da kann man sofort sehen, dass es nichts wird.» Jeder Kasten enthalte das Ergebnis einer einzigen Kreuzung, erklärt der Experte. Am Anfang stehen jeweils zwei Elternpflanzen, deren Eigenschaften man in einer neuen Tulpensorte vereinigen möchte: rundliche Blütenblätter zum Beispiel, kombiniert mit einem eidottergelben Farbton. Aus jeder Kreuzung entstehen 10 000 Samen, jeder Keimling ist anders. «Man weiss nie, was kommt.» Über die Jahre hinweg wird stetig aussortiert. Blieben am Ende dieses Prozesses zehn brauchbare Kultivare übrig, sei das ein gutes Ergebnis, meint Hageman. Manchmal übersteht keine Pflanze die Auslese. Ein enormer Aufwand für nichts.

Für Überraschungen gut

1986 gelang Hageman ein besonderes Kunststück: die Kreation einer praktisch schwarzen Tulpe. Sogar die «New York Times» berichtete damals. Vieles in der Tulpenzucht beruht auf Erfahrungen – Betriebsgeheimnisse –, vieles auf Gespür, manches auf Zufall. Selbst bei den Farben gibt es immer wieder Überraschungen. So können aus derselben Kreuzung mitunter gelbe und rote Tulpen hervorgehen. Meistens jedoch weiss der Fachmann genau, auf welche Kolorierung er abzielt. Und jede Farbe hat ihre Fans. Zartrosa Sorten rufen in Japan Begeisterung hervor, orange sind bei Westeuropäern beliebt.

Im Kühlraum nebenan stehen auch mehrere Sträusse, deren Tulpen feine Fransen an den Blütenspitzen tragen. Das nenne man Crispa, sagt Hageman. Er hat diese Variante erstmals in Schnitttulpen eingezüchtet. Entstanden ist sie schon vor langer Zeit – durch Zufall. Das grosse Genom der Tulpen könnte die Entstehung von genetischen Merkmalsveränderungen begünstigen, wie es bei den gefransten Blütenblättern einst geschah. Zudem sind die Zwiebelgewächse nicht sehr ausbreitungsstark. Vielleicht, so eine These, hilft ihnen ihre «Mutationsfreudigkeit», sich wechselnden Standortbedingungen anzupassen.

Jährlich führen Hageman und seine Kollegen etwa 60 neue Kreuzungen durch. Die daraus hervorgehende Saat wird in Kisten ausgesät. Das geschehe drinnen, betont der Züchter. Erst wenn das Wetter einigermassen erträglich ist, kommen die Wannen an die frische Luft. Ein neu gekeimtes Tulpenpflänzchen sei sehr empfindlich, sagt Hageman. «Es hat ja fast nichts an.» Draussen geht derweil der Regen in eiskalten Strömen nieder. Man versteht und staunt. Darüber, wie ein orientalisches Gewächs in dieses raue, graue Land kam und hier zu einem Nationalsymbol wurde. Eine bemerkenswerte Karriere.