Der Hunger auf der Welt nimmt zu – für Kinder hat er meist lebenslange Folgen

Millionen Menschen haben nicht genug zu essen. Welche Auswirkungen hat das auf ihren Körper und ihre Psyche? Ein medizinischer Blick auf den abstrakten Begriff der Unterernährung.

Alan Niederer 6 min
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Ein unterernährtes Kind wird im September 2022 in einem Spital in Mogadiscio in Somalia behandelt. Eine extreme Dürre hatte in dem Land eine Hungersnot ausgelöst.

Ein unterernährtes Kind wird im September 2022 in einem Spital in Mogadiscio in Somalia behandelt. Eine extreme Dürre hatte in dem Land eine Hungersnot ausgelöst.

Ed Ram / Getty

Den Hunger bis 2030 aus der Welt zu schaffen: Dieses Ziel haben die Vereinten Nationen sich im Jahr 2015 gesetzt. Doch es wird nicht gelingen. Denn das Hungerproblem ist in den letzten Jahren nicht kleiner geworden, sondern es hat sich noch verschärft. Jüngstes Beispiel ist der Gazastreifen, wo laut dem Welternährungsprogramm eine akute Hungersnot droht. Aber auch in der Ukraine und in vielen anderen Ländern haben Menschen nicht ausreichend zu essen und müssen hungern (siehe Karte).

Wo die Menschen Hunger leiden

Welthunger-Index 2023: In 43 Ländern ist das Ausmass ernst bis sehr ernst

Beim Welternährungsprogramm spricht man von einer globalen Ernährungskrise, die derzeit 79 Länder betrifft. Auslöser sind Kriege und bewaffnete Konflikte, aber auch Wirtschaftskrisen, Dürren und Überschwemmungen sowie der Klimawandel.

Hunger ist die schlimmste Gefahr für die Weltgesundheit

Berücksichtigt man auch weniger gravierende Formen der Unterernährung, betrifft das Problem laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) derzeit 842 Millionen Menschen und damit eine von acht Personen. Hunger sei die schlimmste Gefahr für die Weltgesundheit und der wichtigste Faktor für die Kindersterblichkeit, schreibt die WHO. Jedes Jahr sterben 3,1 Millionen Kinder unter fünf Jahren, weil sie nicht genug zu essen haben.

Hinter all diesen Zahlen und Fakten stehen einzelne Menschen: Was passiert mit ihnen? Mit ihrem Körper? Ihrer Psyche?

Ohne Nahrung stirbt der Mensch innerhalb von 30 bis 60 Tagen. Das ist ein grober Richtwert. Im Einzelfall wird die Überlebenszeit von Faktoren wie dem Alter, dem Gesundheitszustand, der körperlichen Aktivität und der Umgebungstemperatur beeinflusst. Auch das Ausgangsgewicht spielt eine Rolle. So können übergewichtige Menschen länger überleben als dünne, weil sie mehr Fettreserven zum Verbrennen haben.

Kleinkinder reagieren rasch auf fehlende Nahrung

Schon am ersten Tag ohne ausreichende Nahrung kommt es zu Veränderungen im Körper. Denn der Organismus muss die Energie, die wegen des Ausbleibens der Nahrung fehlt, kompensieren. Als Erstes greift er auf seine Zuckerreserven zurück, also auf die Kohlenhydrate. Diese befinden sich in der Leber und in den Muskeln. Sie werden zur Energieversorgung verbrannt.

Was die meisten Erwachsenen locker wegstecken, kann bei Kindern zu ernsthaften Problemen führen. Denn der hungerbedingte Abfall des Blutzuckers verursacht Müdigkeit und Lethargie und begünstigt Krämpfe und die Entwässerung des Körpers. Eine solche Dehydratation wird für Babys und Kleinkinder schnell lebensbedrohlich.

Beim hungernden Erwachsenen reicht das körpereigene Zuckerdepot für etwa einen Tag. Danach muss der Körper auf andere Energieträger zurückgreifen. Dafür stellt er seinen Stoffwechsel radikal um: Statt Kohlenhydrate zu verbrennen, zapft er jetzt das Fett und die Eiweissstoffe an. Damit schwinden nicht nur etwaige Fettreserven, sondern auch Muskelmasse.

Mit dem Notfallprogramm wehrt sich der Organismus gegen den drohenden Tod. Der Hungerstoffwechsel ist dabei mehr als ein reines Sparprogramm. Die Umstellung ermöglicht es dem Körper auch, die fehlenden Zuckerstoffe im Körper selbst herzustellen und von Zucker abhängige Gewebe an andere Energieträger zu gewöhnen. Damit bleiben lebenswichtige Organfunktionen erhalten. Alles andere wird rigoros heruntergefahren.

Dank diesem Sparmodus kann der Mensch überleben. Die Spuren an Körper und Psyche werden aber immer deutlicher sichtbar (vgl. Tabelle). Weil auch das Immunsystem heruntergefahren wird, drohen gefährliche Infektionskrankheiten. Diese verschärfen die Unterernährung zusätzlich, indem sie die Nährstoffaufnahme erschweren oder den Bedarf erhöhen: Ein fataler Teufelskreis beginnt.

Dramatisch wird die Situation, wenn beim hungernden Menschen die Fettreserven aufgebraucht sind. Dann beginnt die letzte Hungerphase: Die verbleibenden Körperproteine werden abgebaut. Nach den Skelettmuskeln werden jetzt auch die Eiweissstoffe in den Organen für die Energiegewinnung abgebaut. Selbst der Herzmuskel wird nicht verschont.

Ein Bauer in Äthiopien liegt entkräftet in seiner Hütte. Infolge einer vierjährigen Dürre hat er sein Vieh verloren. Nun hat er nichts mehr, um sich und seine Familie zu ernähren. (Aufnahme aus dem Jahr 2000)

Ein Bauer in Äthiopien liegt entkräftet in seiner Hütte. Infolge einer vierjährigen Dürre hat er sein Vieh verloren. Nun hat er nichts mehr, um sich und seine Familie zu ernähren. (Aufnahme aus dem Jahr 2000)

Eyal Warshavsky / AP

Ist die ganze Körpersubstanz weg, scheint der Mensch nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Er ist so schwach, dass er kaum noch gehen kann. Völlig entkräftet und ausgezehrt, stirbt er.

Reduziertes Wachstum von Körper und Gehirn

Besonders verheerend sind die Auswirkungen der Unterernährung bei Kindern. Denn bei ihnen wird auch das Wachstum und damit die Entwicklung des Körpers beeinträchtigt. Deshalb sind hungernde Kinder meist zu klein und zu leicht für ihr Alter.

Hunger und schwerste Unterernährung prägen den Alltag in diesem Dorf in Nigeria. (Aufnahme von 1970)

Hunger und schwerste Unterernährung prägen den Alltag in diesem Dorf in Nigeria. (Aufnahme von 1970)

Hulton / Getty

Es werden zwei Formen der Unterernährung unterschieden, wobei die beiden oft kombiniert vorkommen. Bei der ersten Form bekommt das Kind zu wenig Energie (Kalorien) und zu wenig Proteine. Bei der zweiten Form fehlen wichtige Vitamine und Mineralien, also Mikronährstoffe. Beides macht krank – aber auf andere Weise. Zudem ist der Mangel an Mikronährstoffen meist weniger offensichtlich, weshalb auch von «verstecktem» Hunger gesprochen wird.

Eine Expertin für versteckten Hunger ist die Epidemiologin und Ernährungsspezialistin Tanja Barth-Jaeggi. Sie arbeitet am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut in Allschwil und hat in verschiedenen afrikanischen Ländern Studien zur Versorgung von Kleinkindern mit Mikronährstoffen durchgeführt. Besonders wichtig sind die Vitamine A und D, aber auch Jod, Zink und Eisen. Ein Mangel davon kann zu schweren Beeinträchtigungen führen.

So auch ein Eisenmangel. «Die Kinder sind wegen der damit verbundenen Blutarmut matt und wenig aufmerksam», sagt Barth-Jaeggi. Der Eisenmangel schwäche aber auch das Immunsystem und beeinträchtige die Hirnentwicklung. Das zeige, welch weitreichende Konsequenzen die Ernährung habe – für den Einzelnen wie auch für das geistige Potenzial eines Landes.

Was die Epidemiologin in den letzten Jahren vermehrt bemerkt: In den Ländern mit Hunger gibt es immer häufiger auch übergewichtige Menschen. Diese Koexistenz von Unter- und Überernährung habe man früher vor allem in den Städten gesehen. Heute komme das Phänomen auch auf dem Land vor. «In einer Studie in Kenya und Rwanda war die Hälfte der Frauen übergewichtig», sagt Barth-Jaeggi. Dabei hätten viele aber auch einen Mangel an Mikronährstoffen aufgewiesen. Das hat laut der Forscherin nicht nur mit Unwissenheit zu tun. Kohlenhydrate und Fett seien auch günstiger als eine mikronährstoffreiche Ernährung mit frischem Gemüse und Früchten.

Leere Kalorien nach dem Stillen

Bei der Protein-Energie-Unterernährung dominieren zwei Krankheitsbilder: Kwashiorkor und Marasmus. Das Wort Kwashiorkor bedeutet in der Sprache der Ga, einer ethnischen Gruppe in Ghana, «die Krankheit, die das Baby bekommt, wenn das nächste Baby geboren ist». Es verweist auf die vielerorts gängige Praxis, Kinder nach der Geburt eines Geschwisters abzustillen und mit Kohlenhydraten wie Mais, Reis oder Maniok zu füttern.

«In ländlichen Gebieten von Kenya haben wir beobachtet, wie die Kinder meist nur einen nährstoffarmen Brei aus Mais und Wasser erhalten», sagt Barth-Jaeggi. Das seien leere Kalorien. Den Kindern fehlen dadurch die Proteine, was zu Flüssigkeitseinlagerungen im Gewebe führt. So entsteht auch der typische Wasserbauch.

Knabe mit einem durch Proteinmangel verursachten Wasserbauch in Sambia. (Aufnahme von 2010)

Knabe mit einem durch Proteinmangel verursachten Wasserbauch in Sambia. (Aufnahme von 2010)

Thomas Trutschel / Imago

Während beim Kwashiorkor der Proteinmangel im Vordergrund steht, fehlt es den Kindern mit Marasmus an allem: also auch an Kalorien. Sie sind deshalb vom akuten Verhungern bedroht. Das widerspiegelt sich auch im Wort Marasmus. Es stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet «Dahinsiechen».

Die ersten Lebensjahre sind kritisch

Hat ein Kind zu wenig zu essen, beeinträchtigt das auch die Entwicklung seines Hirns und damit seine kognitive Leistungsfähigkeit. Das Risiko einer Schädigung ist besonders gross, wenn die Unterernährung während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren besteht.

«Gerade in den ersten zwei bis drei Jahren passiert beim Kind enorm viel», sagt der Arzt und Ernährungsspezialist Paolo Suter vom Universitätsspital Zürich. Ein Nährstoffmangel habe deshalb Auswirkungen auf alle Organsysteme. «Das ist wie auf einer Baustelle, da entsteht auch nichts Gutes, wenn wichtige Baustoffe fehlen», erklärt Suter, der die Ernährungssituation in vielen Ländern Afrikas und Asiens kennt.

Wie wichtig die ersten Lebensjahre sind, erklärt Suter anhand der Hirnentwicklung. «Bei der Geburt hat das Kind bereits ein Viertel des Hirngewichts eines Erwachsenen; mit zwei bis drei Jahren sind es schon 80 Prozent.» Wenn hier etwas schieflaufe, könne man es nicht mehr aufholen. Das heisst, das restliche Leben des Kindes wird vom Mangel in den ersten Jahren überschattet – und das in allen Bereichen. So hat es später als Erwachsener auch ein deutlich höheres Risiko, an Herz-Kreislauf-Krankheiten, Bluthochdruck, Übergewicht und Diabetes zu erkranken, als jemand, der keine Mangelsituation erlebt hat.

Diesen Zusammenhang zwischen Mangelernährung im Mutterleib und in der frühen Kindheit und Erkrankungen im Erwachsenenalter hat der britische Epidemiologe David Barker 1989 erstmals beschrieben. Das Konzept wird auch als «fetale Programmierung» bezeichnet.

Ausreichende und gesunde Nahrung ist ein Menschenrecht

Suter wie auch Barth-Jaeggi betonen, dass der Hunger in der Welt nachhaltig bekämpft werden müsse. So wäre es beim verbreiteten Eisenmangel besser, den Eisenbedarf der Menschen langfristig nicht nur mit Supplementen, sondern mit lokalen Nahrungsmitteln zu decken. Zudem müsse man Massnahmen gegen die Ursachen von Eisenmangel ergreifen. Dazu zählen etwa Hygienemassnahmen und präventiv-therapeutische Anstrengungen, um Durchfallerkrankungen und Infektionen wie die Malaria oder Wurmkrankheiten zu verhindern.

«Wer den Hunger aus der Welt schaffen will, muss auch Themen wie Armut und Ungleichheit angehen», betont Suter. Der Arzt erinnert an das völkerrechtlich verankerte Menschenrecht, wonach jeder Mensch das Recht auf angemessene, ausreichende und gesunde Nahrung hat. Dieser Grundsatz müsse mehr beachtet werden.