Bis zum ekstatischen Jubel

Der Kammerchor Uster hat sich viel vorgenommen. Zusammen mit dem Uckermärkischen Konzertchor Prenzlau feiert er sein 60-jähriges Bestehen. Die erste gemeinsame Probe findet erst am Vorabend statt.

Florian Schoop
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Dirigent Thomas Schacher bei einer Chorprobe für das Jubiläumskonzert des Kammerchors Uster. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Dirigent Thomas Schacher bei einer Chorprobe für das Jubiläumskonzert des Kammerchors Uster. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Als der Chor zu singen beginnt, gleicht das Gebotene noch einem Brummeln und Räuspern. Vierzehn Männer sitzen im Halbkreis auf Stühlen und schauen konzentriert in ihre Gesangshefte. Für das Jubiläumskonzert des Kammerchors Uster werden ein letztes Mal die Männerstimmen für Mendelssohns 42. Psalm geübt. Erst später sollen die Sängerinnen zur Verstärkung dazustossen. Der Chorleiter Thomas Schacher ist mit dem Gebotenen noch nicht zufrieden und bittet die Runde, aufzustehen.

Über 100 Sänger

Die Passage wird nochmals geübt, diesmal zur Befriedigung des Dirigenten. Seit 13 Jahren leitet Schacher den Kammerchor Uster. Doch dieses Projekt ist selbst für den erfahrenen Chorleiter eine Herausforderung: In nur zwei Proben soll der Uckermärkische Konzertchor Prenzlau mit dem Kammerchor Uster für das Konzert vom Samstag zusammengeschweisst werden – und das in nur 24 Stunden.

Die Zusammenarbeit mit dem Ostdeutschen Chor habe man nicht aktiv gesucht, sagt Schacher. Sie sei dem Gesangsverein förmlich zugefallen. Hintergrund für diese Kollaboration ist die Städtepartnerschaft zwischen Uster und Prenzlau. An einem Konzert des Uckermärkischen Kammerchors Prenzlau in Uster knüpfte die Präsidentin des Ustermer Kammerchors, Gabriella Spörri-Volpato, mit dem deutschen Dirigenten Jürgen Bischof im Sommer 2010 den ersten Kontakt. Im Herbst desselben Jahres machte sich Schacher auf den Weg in die Stadt am nordöstlichen Zipfel Deutschlands, um die Rahmenbedingungen für das gemeinsame Unternehmen zu bestimmen.

Der Prenzlauer Chor zählt etwa 80 Sängerinnen und Sänger, wurde 1991 gegründet und hat sich zu einem anerkannten Klangkörper etabliert. Der ostdeutsche Gesangsverein stand schon mit namhaften Chören auf der Bühne, wie etwa dem Thomanerchor Leipzig oder den Wiener Sängerknaben. Auch ausserhalb der Heimatstadt absolviert der Chor regelmässig Auftritte. Konzertreisen führten bereits in verschiedene Städte Deutschlands, Polens, Litauens und der Schweiz.

Das Repertoire des 1953 gegründeten Ustermer Kammerchors besteht grösstenteils aus geistlicher Chormusik. Neben Traditionellem und Geistlichem hat aber auch Neues und Weltliches Platz, sagt Schacher. So befasste sich der konfessionell neutrale Amateurchor im vergangenen Jahr intensiv mit der Zigeunermusik, unter anderem mit Stücken von Brahms und Dvořák. Das Jubiläumskonzert mit dem ostdeutschen Chor wird im Oktober in Prenzlau nochmals aufgeführt – dann unter der Leitung des deutschen Dirigenten.

Doch für das erste Konzert schauen beide Chöre auf Schachers Anweisungen. Zur letzten Probe vor dem Zusammentreffen der beiden Chöre sind mittlerweile auch die zahlreichen Sängerinnen im Proberaum eingetroffen. Es ist eng, laut und heiss im kleinen Saal des Ustermer Schulhauses Krämeracher. Eine gewisse Nervosität ist spürbar. So antwortet ein Sänger auf die Frage einer Frau, ob die Vorprobe mit den Männern erfolgreich war: «Frag mich am Samstag nach dem Konzert.» Etwa 50 Sängerinnen und Sänger stehen im Halbkreis um ihren Dirigenten und machen auf dessen Kommando Lockerungsübungen. Der Klangkörper wippt, summt und sucht seine Resonanz. Nach einem kurzen Einsingen hebt Schacher die Arme und gibt das Zeichen zum Einsatz. Zu Klavierbegleitung singt der vollzählige Chor Mendelssohns 42. Psalm. Das zuvor geprobte Stück gewinnt nun deutlich an Wucht. Das Orchester Collegium Cantorum mit Berufsmusikern aus der Region Zürich wird das Konzert am Samstag begleiten. Vorerst müssen die Sängerinnen und Sänger aber noch ohne dieses auskommen. In kurzen Pausen werden Kugelschreiber gezückt, um die letzten Notizen ins Gesangsheft einzutragen. Andere nutzen die Zeit, um sich mit einem Ricola die Stimme zu befreien. Passend dazu sagt Schacher: «Wer erkältet ist, soll es nicht forcieren.» Die Stimmen müssen für den Auftritt geschont werden.

Zusammen mit seinem deutschen Kollegen entschied sich Schacher, für das Jubiläumskonzert je zwei Werke der beiden Komponisten Antonín Dvořák und Felix Mendelssohn einzustudieren. Das musikalische Programm ist dabei in zwei Blöcke gegliedert. Zu Beginn steht Mendelssohns «Meeresstille und glückliche Fahrt», das kein geistliches Werk darstellt, auf dem Programm. Das Stück beruht auf einem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe, bei dem es inhaltlich um ein Segelschiff geht, das wegen einer Flaute des Windes auf dem Meer nicht mehr weiterkommt. Die omnipräsente Totenstille widerspiegelt die Aussichtslosigkeit der Bootsinsassen. Die bedrückende Stimmung und die ungeheure Weite der glatten Wasseroberfläche ist spür- und hörbar. Im zweiten Teil des Stücks wendet sich das Blatt zum Guten. Äolus, der Gott der Winde, löst durch sein säuselndes Hauchen die beklemmende Situation, bringt das Schiff in Bewegung und verhilft den Bootsleuten somit zur glücklichen Fahrt. Kurz darauf erspähen die Matrosen die lang ersehnte Küste. Im zweiten Werk auf dem Konzertprogramm ist diese Erfahrung ebenfalls erkennbar. Nur ist sie hier auf den geistlichen Bereich übertragen. Felix Mendelssohns 42. Psalm, eine Kantate für Sopran, gemischten Chor und Orchester, beruht auf dem alttestamentlichen Psalm 42 in der Übersetzung Martin Luthers.

Festliche Erregtheit

Die zweite Hälfte des Konzerts steht im Zeichen Antonín Dvořáks. Einerseits werden seine «Biblischen Lieder» gezeigt, andererseits das zum 400-Jahr-Jubiläum der Entdeckung Amerikas geschaffene Werk «Te Deum». Letzteres strahlt vom ersten Takt an eine festliche Erregtheit aus, die sich zum Schluss zu ekstatischem Jubel steigert.

Auch die Sängerinnen und Sänger des Kammerchors Uster nähern sich dem fulminanten Ende ihres geübten Stücks. Voller Inbrunst singt der Chor unter der Ägide seines Dirigenten. Zum Schluss gibt es Applaus aus den eigenen Rängen. Die anfängliche Nervosität ist der Erleichterung gewichen.

Kammerchor Uster: Jubiläumskonzert, Reformierte Kirche Uster, Samstag, 28. 9., 19 Uhr.