Kurt Cobain, der Selbstmörder der Gesellschaft
Vor dreißig Jahren nahm sich der Sänger und Gitarrist der Band Nirvana mit einem Kopfschuss das Leben. Kurt Cobain, der eines der meistverkauften Alben aller Zeiten geschrieben hatte, verkörperte quasi im Alleingang eine Philosophie und eine Musikrichtung, die ebenso prägend wie kurzlebig war: den Grunge. Wer war dieser charismatische Rocker, der die Welt auf seine eigene Art verändert hat?
Es gibt viel über Kurt Cobain zu sagen. Bleiben wir also bei den Grundlagen: Der Sänger und Gitarrist von Nirvana wird am 20. Februar 1967 in Aberdeen, in der Nähe von Seattle, im Bundesstaat Washington geboren. Nach einer glücklichen frühen Kindheit, die von seiner überbordenden und schwer zu kanalisierenden Energie geprägt ist, trifft ihn 1976 die Scheidung seiner Eltern schwer. Von da an wird er hin- und hergeschoben: Er wohnt bei seinem Vater, seiner Mutter, seinen Onkeln und Tanten und seinen Großeltern. An diesem Zeitpunkt lassen die schulischen Leistungen nach. Es kommt zu Kleinkriminalität mit Freunden - und der junge Kurt entdeckt die Vorzüge von Cannabis und Punkrock, die ihm helfen, runterzukommen. Von hier an wird er weniger sozial, scheitert immer öfter, rebelliert gegen Institutionen und Männerbünde, die ihm Unbehagen bereitet. Zwei Monate vor seinen Abschlussprüfungen bricht er die Schule schließlich ab, um sich dem Letzten zu widmen, was ihn wirklich antreibt: der Musik. Neben seiner prekären Lage hat Kurt auch mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Er leidet an chronischen Magenschmerzen, die die Ärzte nicht erklären können und die ihn schließlich dazu bringen, sich selbst zu behandeln, zuletzt mit Heroin.
In einer Zeit, in der in der Region Seattle immer mehr Bands gegründet werden, die Punk und Hardrock miteinander verbinden (man beginnt bereits, im Zusammenhang mit dieser Musikszene und diesem hybriden Genre von "Grunge" zu sprechen), unternimmt er eine Reihe von Bandversuchen ohne wirklichen Erfolg - bis er 1984 den Bassisten Krist Novoselic kennenlernt, mit dem er Nirvana gründet. Nach mehreren Jahren Selbstfindungsphase stößt der Schlagzeuger Chad Channing zu den beiden, mit dem sie 1989 ein Debütalbum herausbringen, das von der Kritik gelobt und 40.000 Mal verkauft wird: Bleach. Nach diesem ersten Erfolg unterschreibt die Band, der sich im Herbst 1990 ein neuer virtuoser Schlagzeuger, Dave Grohl, anschließt, beim Label Geffen Records. Dieses hofft, von der nächsten Platte, Nevermind, ein paar hunderttausend Exemplare zu verkaufen. Die Geschichte verläuft jedoch ganz anders: Das 1991 veröffentlichte berühmte Album mit dem tauchenden Baby auf dem Cover verkauft sich nicht hunderttausend, sondern über 10 Millionen Mal. Bis heute ist es mit 30 Millionen Platten noch immer eines der meistverkauften Alben aller Zeiten.
Das explosive Meisterwerk Smells Like Teen Spirit schlägt ein wie eine Bombe und wird sofort zur Hymne der 1990er Jahre. Die Mitglieder von Nirvana, allen voran Kurt Cobain, werden von den Ereignissen überrollt. Sie werden zu Sprechern der Generation X, Boten des Unbehagens der Jugend und zu paradigmatischen Vertretern einer Grunge-Bewegung, die nun in den Himmel gelobt und als neue Avantgarde gefeiert wird. Nach einer Reihe von Tourneen und Konzerten lernt Cobain Anfang 1992 Courtney Love, die Sängerin der Band Hole, kennen, die er heiratet und mit der er seine Tochter Frances hat. Die beiden heroinabhängigen Rocker geraten in die Schlagzeilen der gnadenlosen Boulevardpresse, was den vom Ruhm geplagten Nirvana-Frontmann immer weiter verbittern lässt. Nach der Veröffentlichung des dritten und letzten Albums In Utero im Jahr 1993 und einem berühmt gewordenen Akustikkonzert auf dem Sender MTV begeht Kurt Cobain am 5. April 1994 im Alter von 27 Jahren Selbstmord. Diese Tat (die von einigen lange als Mord interpretiert wird) trägt dazu bei, dass die Legende von Nirvana, der Grunge-Bewegung und allem, was sie verkörpert, in Stein gemeißelt wird.
Grunge - ein zeitgenössischer Zynismus
Was ist also Grunge? Zunächst einmal handelt es sich um ein Musikgenre, das Mitte der 1980er Jahre in der Region um Seattle populär wird und Punk und Hardrock miteinander verbindet. Grunge zeichnet sich durch stark gesättigte Gitarren aus, die relativ einfach gespielt werden (weit entfernt von den Gitarrenhelden-Soli des Heavy Metal), aber auch durch Texte, die von Existenzangst und der Desillusionierung einer Jugend am Rand der Gesellschaft zeugen, die von den Reagan-Jahren geprägt ist und Angst vor der Zukunft, der Entwicklung des Neoliberalismus und dem Ende der Welfare States hat. Die Texte drehen sich um das Gefühl, zu viel zu sein, sich als Parasit oder Abfall einer Gesellschaft zu fühlen, die sich rasant weiterentwickelt und der man ständig hinterherlaufen muss.
So, wie die Grunge-Bands die Heroisierung virtuoser Musiker ablehnen, lehnen sie auch die Eleganz und Theatralik des Glam ab, egal, ob dieser von David Bowie, T Rex oder Black Sabbath inspiriert ist. Sie ziehen eine schlichte, wenn nicht sogar vagabundierende Ästhetik vor, die die Idee, Teil des Mülls der fortschreitenden Geschichte zu sein, bis zum Äußersten treibt - in einer Art Exhibitionismus des Scheiterns und der Marginalität. Das erinnert an Diogenes den Zyniker, den antiken Philosophen, der die gesellschaftlichen Konventionen von dem Fass aus, in dem er lebte, ablehnte. Grunge-Musiker lehnen Protz und Konsumismus gleichermaßen ab. Sie tragen lange Haare, löchrige Schuhe und Hosen, sowie karierte und bunte Hemden im Holzfäller-Stil. Ihr Look, der dem der Arbeiter in Seattle, der Stadt der Fischerei und des Holzhandels, entlehnt ist, erinnert an eine Art Hybrid aus Punk und Hippie, der immer im Dienst einer "Antimode" steht, in der das Ungepflegte gesucht wird. Krist Novoselic, der Bassist von Nirvana, soll gesagt haben, dass das Wort Grunge selbst auf "den Schmutz auf einem Duschvorhang" zurückzuführen sei.
Bemerkenswerterweise wird Frauen ein wichtiger Platz eingeräumt: Sie sind stärker vertreten als im Punk und erst recht als im Metal. Neben Courtney Loves Band Hole entstehen im Zeitraum 1985-1990 in der Region Seattle weibliche Bands wie L7 oder Dickless. Mehrere Frauen, wie die Smashing Pumpkins-Bassistin Melissa Auf der Maur, spielen in Grunge-Bands und begründen eine feministische Untergruppe des Punkrock, "Riot Grrrl". Feminismus, Anarchismus, Nihilismus, Antikapitalismus, Anti-Individualismus - all diese Elemente finden sich in einer brillanten Synthese in den Texten und Haltungen von Nirvana wieder, die aufgrund ihres Erfolgs und des Charismas ihres Anführers zum Aushängeschild dieses Genres werden, das mit ihnen gewissermaßen untergehen wird.
Smells Like Teen Spirit: Der Zustand des modernen Jugendlichen
In dem Dokumentarfilm Kurt Cobain: Montage of Heck aus dem Jahr 2015 erfahren wir, dass der junge Kurt von Jonathan Kaplans Film Violences sur la ville (1979) fasziniert war. In dem Film geht es um eine Gruppe Jugendlicher, die in einer Kleinstadt in Colorado auf sich allein gestellt sind und schließlich in die Kriminalität abrutschen, wo sie einer blinden Gewalttätigkeit freien Lauf lassen. Manchmal wird eine Verbindung zu Nicholas Rays Rebel Without a Cause hergestellt, das zwanzig Jahre zuvor veröffentlicht wurde. In beiden Fällen haben wir es, wie der Originaltitel des Films besagt, mit Rebel Without a Cause zu tun, mit Jugendlichen aus reichen Ländern, die einen verinnerlichten Nihilismus entwickeln, dessen Ausmaß und tiefere Ursache nicht klar sind.
In seinem Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen (1967) versucht der belgische, situationistische Philosoph Raoul Vaneigem, das Phänomen zu analysieren: "Der gleiche Mangel", schreibt er, "trifft die nicht-industriellen Zivilisationen, in denen man noch an Hunger stirbt, und die automatisierten Zivilisationen, in denen man bereits an Langeweile stirbt." Diese privilegierten Jugendlichen, die einer überbordenden Langeweile ausgeliefert sind, erleben ein Leben, das "trotz aller Bequemlichkeit arm" ist, "dem Selbstmord und der Überlebenskrankheit ausgeliefert". Während Glück und Freiheit aus dem Triumph der Technik und dem von ihr ermöglichten allgemeinen Überfluss hätten entstehen sollen, geschieht nichts anderes als ein globaler Sinnverlust, innerhalb dessen alles gleichwertig ist ("nevermind" könnte man mit "es ist uns egal" übersetzen), sowie eine tiefe Müdigkeit.
Nach der musikalischen Ouvertüre lauten der Anfang des ersten Songs von Nevermind wie folgt:
"Load up on guns, bring your friends.
It's fun to lose and to pretend.
She's over bored and self-assured
Oh, no, I know a dirty word"
(Deckt euch mit Waffen ein, bringt eure Freunde mit / Es macht Spaß zu verlieren und sich zu verstellen / Sie ist überdrüssig und selbstbewusst / Oh nein, ich kenne ein schmutziges Wort).
Alles ist da: die abgrundtiefe Langeweile, der Wunsch nach kollektiver Gewalt, der Verlust von Sinn und Werten. Alles läuft in den folgenden Wiederholungen und der explosiven Apotheose des Refrains zusammen: "Hello, hello, hello, how low?" (Hallo, hallo, hallo, wie schlimm ist es?) setzt bereits eine Leidensgemeinschaft in der Gegenwart voraus. Dann folgt,
"With the lights out, it's less dangerous.
Here we are now, entertain us.
I feel stupid and contagious
Here we are now, entertain us.
A mulatto, an albino
A mosquito, my libido, yeah"
(Mit ausgeschaltetem Licht ist es weniger gefährlich / Hier sind wir, unterhaltet uns / Ich fühle mich dumm und ansteckend / Ein Mulatte, ein Albino / Ein Moskito, meine Libido).
Die Selbstabwertung, wenn nicht sogar der Hass auf denjenigen, der sich dumm und ansteckend fühlt, scheint in einer Art ultra-synthetischer Beschreibung des Zustands des modernen Jugendlichen, die bis zum Ende von Nirvana immer deutlicher wird (das nächste Album, In Utero, hätte ursprünglich I Hate myself and I Want to die heißen sollen), herausgebrüllt und gefordert zu werden. In Zeiten des triumphierenden Kapitalismus und des allgemeinen Wettbewerbs, sagt uns Nirvana, kann man auch gleich gar nicht mitmachen. Wir müssen uns nur noch amüsieren, über die Niederlage lachen und denen, die uns zurücklassen, zurufen, dass wir zwar verloren haben, aber (vorerst) noch da sind. In den 1990er Jahren gab es von Radiohead (Creep, 1993) über Beck (Loser, 1994) bis hin zu den Offspring (Self Esteem, 1994) immer wieder Rockstücke, die diese Abwertung des Ichs in Szene setzten. Es bleibt ihm nur der halb ironische, halb verzweifelte, halb wütende Ausdruck seiner miserablen Lage, in einer Zeit, in welcher der Jugend endgültig bewusst wird, dass sie schlechter leben wird als ihre Eltern. Nirvana war der erste, der das wirklich tat.
In einer bemerkenswert paradoxen Weise wird der Überbringer einer solchen Botschaft zu einem lebenden Gott erhoben, Cobain wird zur ultimativen Ikone (ein Fan begeht während seiner Beerdigung am 10. April Selbstmord). Wie ein genialer Schriftsteller oder Dichter hat er es geschafft, das richtige Wort und die richtige Form zu finden, um etwas auszudrücken, was sehr viele Menschen fühlten. Er verhilft ihnen zu einem höheren Bewusstsein von sich selbst, ihrer Klasse und der minimalen, wenn auch negativen Bedeutung, ihrer Existenz.
Der Antiheld ist der neue Held der Gegenwart, und Cobain inszeniert sich selbst, um auszudrücken, dass er es im Grunde weiß: "I'm worse at what I do best / And for this gift I feel blessed" (Ich bin erbärmlich in dem, was ich am besten kann / Und für diese Gabe fühle ich mich gesegnet). Wie Mark Fisher, selbst ein großer Punk-Fan und schwer depressiv, später in Kapitalistischer Realismus (2009) bemerkte, wird eine ganze Jugend durch den Zusammenhang von Hilflosigkeit und Langeweile mit dem Phänomen der Depression konfrontiert. Cobain hat dies auf seine eigene, entscheidende und kathartische Weise ausgedrückt.
Resignation oder Revolte?
Die Ambivalenz von Resignation und Revolte findet sich an vielen Stellen im Werk von Nirvana. Bereits in Bleach weist Cobain auf die Missstände seiner Jugendzeit hin, insbesondere in dem Stück School, in welchem er mit der Institution Schule abrechnet. Eines der Leitmotive ist die Hervorhebung des derben Machismo, mit dem er damals konfrontiert war, was ihn daran hinderte, echte Freunde zu finden. Die Thematik gipfelt in beklemmenden Liedern über Vergewaltigung (z. B. Polly auf Nevermind, in dem ein Sexualverbrecher die physiologischen Bedürfnisse seines Opfers detailliert beschreibt, oder Rape me auf In Utero), wird aber vor allem in der Hervorhebung grober, machohafter Verhaltensweisen durch seine Kameraden verstreut. So ist es auch bei Mr. Moustache (Bleach) oder Territorial pissings (Nevermind). Eine der direktesten feministischen Hymnen ist Been a son, das auf dem 1992 erschienenen Album Insesticide zu finden ist, das unveröffentlichte Stücke enthält, die weder auf Bleach noch auf Nevermind zu finden sind:
"She should've stayed away from friends.
She should've had more time to spend
She should've died when she was born
She should've worn the crown of thorns
She should have been a son"
(Sie hätte sich von Freunden fernhalten sollen/Sie hätte mehr Zeit haben sollen/Sie hätte bei der Geburt sterben sollen/Sie hätte die Dornenkrone tragen sollen/Sie hätte ein Sohn sein sollen).
Cobain, der bekanntlich die Radikalität des Pamphlets SCUM Manifesto von Valerie Solanas (1967) schätzte, verkörpert hier auf ergreifende Weise die Reue, die ein Elternteil gegenüber der Tochter hegt, die allein aufgrund ihres Geschlechts verurteilt ist und all ihre Qualen nicht erlebt hätte, wenn sie ein Junge gewesen wäre. Das feministische Glaubensbekenntnis dieses wütenden Rocks hat es in sich. Die Manifestationen verbaler Gewalt, bis hin zur Inszenierung von Personen, die zur Tat schreiten, sind manchmal durch eine Art strafende Gerechtigkeit motiviert, manchmal durch das einfache Abgleiten in den Wahnsinn (so in Scentless Apprentice auf In Utero, einer Hommage an Patrick Süskinds Roman Das Parfum, den der Sänger angeblich mehr als zehn Mal gelesen hat).
Aber neben dem Kapitalismus und dem Patriarchat sind es noch persönlichere Übel im Bereich der geistigen Gesundheit, die an dem Sänger nagen: Depressionen, Abhängigkeit, Schmerzen und Selbstmordgedanken. Seit er 1987 zum ersten Mal Heroin nahm, hat Cobain nie mehr ganz aufgehört. Wie bereits erwähnt, war der Grund für den ersten Konsum der Wunsch, seine ständigen Magenschmerzen zu überwinden – obwohl er, wie der Dokumentarfilm zeigt, befürchtete, dass er weniger kreativ sein würde, wenn die Schmerzen nachließen, da das Leiden in ihm das Bedürfnis weckte, sich durch seinen Urgesang auszudrücken. Das Drogenmotiv taucht immer wieder auf, z. B. in Dumb (In Utero), einem Stück, das ein relatives Glück beschwört, das ganz und gar von künstlichen Paradiesen garantiert wird:
"We'll float around and hang out on clouds.
Then we'll come down
And have a hangover"
(Wir werden schweben und uns auf Wolken rumhängen/ Dann werden wir runterkommen/Und haben einen Kater).
In dem ikonischen Come as you are könnte das "gun" in dem Satz "And I swear I don't have a gun", der nach dem Selbstmord des Sängers eine ganz besondere Bedeutung erlangte, eine Spritze bedeuten. Die Frage des Selbstmords ist sehr präsent, allein schon im Anfangstitel von In Utero, I Hate myself and I want to die.
Das Ende einer Ära. Präzision der Wiederherstellung
Seinem Leben ein Ende zu setzen, das hat Cobain auf jeden Fall getan. In seinem hinterlassenen Abschiedsbrief an Boddah, dem imaginären Freund aus Kindertagen, schrieb Cobain in Anlehnung an Neil Young: "Denkt daran: Es ist besser auszubrennen, als auf kleiner Flamme zu erlöschen" (it's better to burn out than to fade away, in dem Lied Hey Hey, My My, 1979). Eine Art Appell, der von der Jugend erhört wurde, denn in den folgenden Monaten und Jahren ahmten Dutzende von Fans seine Geste nach. Es war, als ob die Menschen, die sich in ihm wiederfanden, den unaufhaltsamen Horizont sahen, auf dem sie brennen konnten. Auch wenn diese unendlich tragische, von einem endgültigen Pessimismus geprägte Perspektive verzweifeln lässt, war sie vielleicht auch Ausdruck einer Form von Klarheit auf einer anderen, eher politischen als existenziellen Ebene: der Unwiederbringlichkeit der "Wiederverwertung". Wie die Punks und Situationisten, mit denen er eine unbestreitbare gemeinsame Kultur teilt, hat der Mann die sofortige Auflösbarkeit jeder Gegenkultur im Kapitalismus erlebt. Sie können sich noch so sehr wie der letzte Penner kleiden, sich in völliger Marginalität niederlassen und den radikalsten Anarchismus predigen, die Warengesellschaft kann daraus ein Spektakel machen, Ihre Antimode im Handumdrehen in eine Allzweckmode verwandeln und Ihren Kampf zu einem Konsumobjekt wie jedes andere machen. Vielleicht rührte das tiefe Unbehagen von Cobain und Nirvana an Ruhm und Erfolg auch von dem klaren Bewusstsein her, dass alles Revolutionäre letztlich der bürgerlichen Maschinerie dient, die sich ständig von ihm ernährt und der man sich irgendwann anschließen muss, da sie Ihre subversive Botschaft unweigerlich zu Entertainment, zu Unterhaltung, macht. War das nicht "langsames Verbrennen"? •
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Kommentare
Ich empfinde die Notwenidgkeit ein Detail in Ihrem Text zu korrigieren. Sie schrieben vom „.. tiefen Unbehagen von Cobain und Nirvana…“. Ich kann dem nicht zustimmen. Es war einzig und allein Cobain auf den dies zutrifft. Dave Grohl hatte nie etwas damit zu tun und zeigt seit knapp 30 Jahren, dass es in diesem Geschäft auch anders geht und dass er ein aber sowas von signifikantes Bandmitglied in Nirvanas Kreativprozess war.