Visionen – eine Gefahr für die Freiheit?
Kollektive Ziele sind für den Klimaaktivismus zentral. Was aber wird in diesem Wir aus dem Ich, und welche Lehren ziehen wir aus der Geschichte? Ein Streitgespräch zwischen Luisa Neubauer und Wolfram Eilenberger in einer Koproduktion von rbbKultur und dem Philosophie Magazin.
Die Vision einer nachhaltigen Welt ist ein unverzichtbarer Antriebsmotor für den Kampf gegen die Klimakrise: Das meint die Aktivistin und Führungsfigur der Fridays-for-Future-Bewegung Luisa Neubauer. Der Philosoph Wolfram Eilenberger ist skeptisch: In seinem neuen Buch Feuer der Freiheit beschäftigt er sich mit den „Wir-Kollektiven“ der dunklen 1930er-Jahre. Es gelte, so Eilenberger, Lehren aus dieser Zeit zu ziehen und die individuelle Freiheit gegen visionäre Vereinnahmungen zu verteidigen. Die Aktivistin widerspricht: Gerade die Vision sei es, die Freiheit ermöglicht. Der Dialog findet im Hörfunkstudio von rbbKultur statt und ist eine Koproduktion zwischen dem öffentlich-rechtlichen Sender und dem Philosophie Magazin.
Philosophie Magazin/rbbKultur Radio: Herr Eilenberger, was ist das – eine Vision?
Wolfram Eilenberger: Für viele Jahrhunderte war eine Vision die Gewahrwerdung einer göttlichen Sphäre oder Botschaft. Das würden wir heute kaum noch so verwenden. Wenn wir im politischen Sprachspiel über Visionen reden, dann sind diese weiter gefasst als ein Handlungsziel und enger gefasst als eine Utopie. Visionen sind also Veranschaulichungen wünschbarer Weltzustände – und damit zunächst der schönste Ausdruck menschlicher Freiheit überhaupt.
Ihr Buch trägt den Titel Feuer der Freiheit. Wodurch wird denn dieses Feuer entfacht, wenn nicht durch Visionen?
Eilenberger: Der Titel spielt an auf den Mythos des Prometheus, der das Feuer von den Göttern stiehlt. Das Feuer wird zu den Menschen gebracht und damit zum Ursprung der Kultur – und ist gleichzeitig Ausdruck menschlicher Autonomie. Freiheit verstehen wir heute, und darum geht es in meinem Buch, insbesondere als individuelle Handlungsfreiheit, die gegen kollektive Zumutungen verteidigt werden will.
Frau Neubauer, in Ihrem Buch Vom Ende der Klimakrise heißt es: „Die Welt von morgen, die Welt, die wir uns erträumen, sollte ein Sehnsuchtsort sein.“ Was genau meinen Sie damit?
Luisa Neubauer: Die Klimakrise ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die wir in dieser Komplexität nicht kennen. Und ganz zentral dabei ist eine zeit-räumliche Verschiebung. Was wir heute tun, hat Auswirkungen in Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrtausenden, aber auch an ganz anderen Orten der Welt. Die große Frage ist, wie wir diese zeit-räumliche Verschiebung überwinden. Wie organisieren wir unser Handeln im Hier und Jetzt, sodass es morgen und überall auf der Welt gemeinschaftlich zu etwas großem Ganzen werden kann. Hier kommt die Vision ins Spiel. Sie soll uns ermutigen, die Überwindung der Klimakrise anzustreben. Und im Zuge der komplexen Prozesse das Ziel nicht aus dem Blick zu verlieren.
Eilenberger: Wobei es interessant ist, dass Ihre Protestbewegung ja eigentlich extrem visionslos in dem Sinne ist, als sie nur einfordert, was Regierungen bereits beschlossen haben. Das ist ein sehr defensiv formuliertes Ziel. Ich kann mich nur an eine größere Bewegung erinnern, die einforderte, was bereits beschlossen war, nämlich die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die auf die Verfassung pochte. Und da öffnet sich ein ungelöstes Problem für die Fridays-for-Future-Bewegung, weil sie zum einen von diesem Einklagen vitalisiert wird, zweitens aber von Visionen spricht und drittens auch vor Begriffen wie „Revolution“ nicht haltmacht.
Neubauer: Stimmt. Wir sind genau besehen eine bescheidene Bewegung und alles andere als radikal. Wir pochen auf Faktizität und haben die Macht der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Macht der Aufklärung auf unserer Seite.
Frau Neubauer, der Slogan Ihrer Bewegung lautet: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“. Das Wir hat für Sie eine große Bedeutung. Hat das Ich in der Vision, die Ihre Bewegung zusammenführt, gegenüber dem Wir zurückzutreten?
Neubauer: Was konstituiert denn ein starkes Wir? Das fängt in unserem Fall bei dem denkenden Ich an. Viele Menschen haben sich in den vergangenen Jahren entschieden, vegetarisch zu leben. Millionen Menschen auf der ganzen Welt entscheiden sich an einem Freitagmorgen: Heute leiste ich Widerstand. Heute gehe ich auf die Straße. Das ist eine Entscheidung, die von uns kommt, die wir individuell treffen. Ein starkes Wir setzt ein starkes Ich voraus – so zumindest nehme ich die Klimagerechtigkeitsbewegung wahr. Und das Ich wiederum kann, wenn wir die Klimakrise nehmen, seine Kraft nur in einem Wir angemessen entfalten. Im fossilen Kapitalismus, in dem wir leben, ist jeder unserer Handlungsschritte, jeder einzelne Einkauf emissionsbelastet. Die Lösung kann nicht vom Einzelnen ausgehen. Es geht um einen strukturellen Wandel. Es geht darum, die fossile Infrastruktur zu dekarbonisieren.
Eilenberger: Wenn ich Ihnen hier widerspreche, dann nicht deshalb, weil ich etwa die Dringlichkeit des Prozesses oder gar die Tatsache, dass es den Klimawandel gibt, infrage stellte. Aber wenn Sie sagen, das Wir könne nur stark sein, wenn es aus starken Individuen besteht, dann ist das eminent falsch für jemanden, der sich mit dem Resonanzraum der 1930er-Jahre beschäftigt hat. In dieser Zeit kam es ja gerade darauf an, Wir-Identitäten zu erzeugen, in denen Individualität und das Individuum überhaupt nicht mehr vorkommen. Zu behaupten, ein Wir sei nur stark, sofern es sich aus starken Individuen zusammensetzt, ist politisch und kulturhistorisch falsch. Natürlich will ich das totalitäre Wir hier nicht gleichsetzen mit dem Wir der Fridays-for-Future-Demonstranten. Aber es gab diese dunkle Alternative. Und wenn man politische Energie erzeugen will, Visionen umsetzen will, dann ist es zumindest eine offene Frage, ob man dafür starke Individuen oder nicht doch nur eine starke Wir-Kollektivität braucht.
Neubauer: Da würde ich jetzt aber eine scharfe Unterscheidung machen. Unsere Protestbewegung hat nichts zu tun mit den ideologischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Schon deshalb nicht, weil wir uns schlicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen. Was wir heute erleben, ist eine geophysikalische Realität, die für sich selbst spricht und die eine Notlage kreiert, die ganz anders materiell, natürlich, ökologisch zu sehen, zu spüren und, ja, zu erfahren ist.
Eilenberger: Der zum Stalinismus mutierte Sozialismus gab sich ebenfalls als streng „wissenschaftlich“ fundiert. Selbst der wahnhafte Rassismus der Nazis gab sich evolutionstheoretisch legitimiert. Im reinen Pochen auf „die Wissenschaft“ wird der gewiss fundamentale Unterschied zwischen Fridays for Future und älteren Massenbewegungen also nicht liegen können. Ein großes Moment in der Aktivierung politischer Energie ist der Faktor Zeit. Und revolutionäre Bewegungen argumentieren immer damit: „Wir haben nur noch ganz wenig Zeit.“ Die Enge der Zeit ist ein politisches Mobilmachungsmittel. Das sehen wir natürlich heute auch an dieser Fünf-vor-zwölf-Rhetorik. Mir geht es hier gar nicht um die Frage, ob das faktisch richtig ist oder nicht, klar ist aber: Das ist ein wiederkehrendes Motiv. Genauso wie übrigens auch das explizite Handlungsziel: Schon damals, in den 1930er-Jahren, wurde der Lebensbegriff mobilisiert. Es ging um das nackte Überleben, den Lebensraum für ein Volk. Diese Parallelen muss man sehen, um sich wirksam gegen dunkle Energien zu immunisieren, die wesensgemäß in jeder Massenbewegung als Massenbewegung liegen. Darin liegt durchaus ein demokratisierender Wert. Vor allem, wenn die jeweiligen revolutionären Ziele und Hoffnungen bitter enttäuscht werden sollten oder sich selbst enttäuschen. Bekanntlich der gängige Fall.
Neubauer: Das finde ich total gefährlich. Wir stehen mit der Klimakrise vor einer Herausforderung, die sich fundamental unterscheidet von den Herausforderungen damals. Denn es geht um eine physikalische Realität. Wir erleben einen Zeitaspekt, der erstmals nicht politisch-ideologisch ist, sondern physikalisch. Es ist eine molekulare Beschleunigung, keine politische. Wer heute von einer Ökodiktatur redet, will sich aus der Verantwortung ziehen. Wer argumentiert, wir könnten nicht genug Klimaschutz umsetzen, weil die Demokratie das nicht leisten könne, beendet eine Diskussion, bevor sie angefangen hat. Zumal wir ständig betonen, dass wir natürlich demokratische Lösungen finden müssen. Ich finde die Parallelen, die Sie hier ziehen, trügerisch – und überhaupt nicht hilfreich.
Eilenberger: Ich habe nur darauf hingewiesen, wie in politischen Dynamiken Kernbegriffe Wirkung erzeugen können. Ich würde Ihnen ja völlig recht geben, dass die Situation menschheitsgeschichtlich in dieser Weise noch nie da war. Und dass sie sehr real und sehr bedrohlich ist. Ich würde allerdings auch davor warnen zu sagen: Die Physik macht jetzt unsere Politik. Die Fakten machen die Politik überhaupt nicht. Wir haben die Fakten klar vor Augen, und die Frage ist, was wir jetzt damit anstellen und insbesondere, wie sie politisch umsetzbar sind. Wir sind uns doch völlig einig, dass es kein Erkenntnisproblem gibt. Die Faktenlage in Bezug auf menschengemachten Klimawandel ist seit 30 Jahren recht klar und auch öffentlich kommuniziert.
Interessant sind in dieser Hinsicht Parallelen zwischen der Klimakrise und der Coronakrise: Beide berufen sich auf Wissenschaft. Beide haben das Überleben als Ziel. Beide argumentieren mit der Enge der Zeit. Und zeigt sich die Bevölkerung in der Coronakrise nicht extrem kooperativ, trotz der harten Einschnitte?
Eilenberger: Die Coronakrise hat vieles gezeigt, was extrem positiv war. Zum Beispiel, dass es sehr viel mehr handelnde Vernunft in der Bevölkerung gab und sich über Monate erhielt, als ich erwartet hätte. Die Krise hat aber auch gezeigt, und das ist die dunkle Zweigesichtigkeit der Situation, wie hart von staatlicher Seite angegriffen werden muss, wenn das reine Überleben zum Handlungsziel gemacht wird. Das ist dann eine Notstands- oder Ausnahmesituation, und das führt uns direkt wieder in die Klimakrise, wo gefordert wird, man müsste den Klimanotstand ausrufen. Wenn die Klimawissenschaft aber recht hat, dann haben wir diesen politischen Notstand mindestens für die kommenden 150 Jahre, weil die Prozesse bereits jetzt noch so lange wirken und verheeren werden. Mindestens.
Neubauer: Die Freiheiten wurden in der Coronakrise eingeschränkt, weil nicht ausreichend präventiv gehandelt wurde. Das ist für mich die entscheidende Parallele, die man ziehen muss zur Klimakrise: Was passiert denn eigentlich, wenn nicht gehandelt wird? Das ist, siehe Corona, der Moment, wo dann kurzfristig und wenig transparent sehr, sehr strenge, gar autoritär anmutende Maßnahmen umgesetzt werden. Anders gesagt: Die große Bedrohung für die Freiheit geht in der Klimakrise ganz klar vom Nichthandeln aus. Die Frage lautet also: Wie können wir so viele Freiheiten wie möglich für die Menschen heute und morgen gewährleisten – und zwar durch eine Politik, die wir heute umsetzen?
Herr Eilenberger, Sie beleuchten die dunkle Seite kollektiver Visionen. Aber zeigt uns die Geschichte nicht auch eine helle Seite? Sind Visionen nicht der Motor des Fortschritts?
Eilenberger: Zunächst mal ist festzustellen, dass wir seit 30 Jahren, seit dem Fall der Mauer, gerade in Europa an einem Zukunftsdefizit leiden. Die Imagination, wie eine bessere Welt aussehen könnte, ist in gewisser Weise blockiert. Die gute Nachricht ist, dass das hauptsächlich daran liegt, dass viele der Zukunftsziele, die vor 100 Jahren politisch formuliert wurden, eingetroffen sind. In den 1930ern hat sich die französische Philosophin Simone Weil zum Beispiel für den Acht-Stunden-Tag eingesetzt, für bezahlten Urlaub, für Gesundheitsversorgung, für Dinge, die damals utopisch waren für die Breite der arbeitenden Bevölkerung. Inzwischen sind sie Wirklichkeit geworden. Oder nehmen Sie das, was Immanuel Kant sich vor 250 Jahren als eine Utopie für Europa vorstellte: föderaler Staat, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, das ist alles eingetroffen, das ist unsere politische Alltagsrealität.
Also alles gut, wie es ist?
Eilenberger: Lassen Sie es mich so sagen: Wir stehen auf der Spitze einer Visions-Pyramide. Das Leben, das wir gerade jetzt leben, hier, an diesem Ort – nicht in Bombay, nicht in Bogotá, sondern hier –, das ist das Leben, von dem Philosophinnen und Philosophen 250 Jahre lang mit Beginn der Aufklärung geträumt haben. Die Einfallslosigkeit, was die Zukunft angeht, hat auch was mit dem Erfolg der Geschichte selbst zu tun.
Neubauer: Ich würde das, was Sie als „Spitze der Visions-Pyramide“ bezeichnen, eher moralische Verwahrlosung nennen. Schauen Sie doch auf die unvorstellbaren Missstände, die wir rund um uns herum produziert haben. Schauen Sie auf den Preis, den andere für ein Leben zahlen, das in sehr, sehr wenigen Orten der Welt geführt werden kann. Ja, der Kapitalismus hat gegen den Sozialismus gewonnen. Aber jetzt brauchen wir eine lebbare Alternative für ein Modell, das sich seinerseits überlebt hat, weil es dem Wohl von wenigen dient.
Frau Neubauer, in Frankreich gibt es eine Bewegung namens Kollapsologie, deren Vertreter auf der Grundlage von Statistiken behaupten, es sei jetzt schon zu spät, den Klimawandel zu stoppen. Wenn es in Wahrheit schon fünf nach zwölf ist, wären viele Ihrer Bemühungen umsonst. Oder?
Neubauer: Ich finde es absolut nicht neu zu sagen, wir müssen uns auf die Folgen der Klimakrise einstellen. Das machen wir doch längst. Auch in Deutschland werden Deiche erhöht, man überlegt sich, wo werden Menschen noch wie lange leben können.
Eilenberger: Es bleibt grundsätzlich problematisch, von „der Wissenschaft“ so zu reden, als könnte sie uns sagen, was passiert, wenn wir dieses tun oder jenes unterlassen. Zumal es nicht nur die Naturwissenschaft gibt, sondern auch eine Politikwissenschaft, eine Geisteswissenschaft, eine Sozialwissenschaft, die ganz andere gesellschaftliche Prozesse analysieren. Wir leben in einer extrem komplexen Welt, in der jede Handlung vielfältige Auswirkungen hat, und zwar keineswegs nur solche, die sich einfach berechnen ließen. Man kann nicht wissen, welche destabilisierenden Faktoren es für das politische System bedeuten würde, wenn Frau Merkel beispielsweise vieles von dem, was jetzt gefordert wird, wirklich sofort umsetzen würde. Und das macht das ganz praktische Geschäft der Politik auch so schwierig.
Neubauer: Haben Sie sich mal die Emissionsmodelle angeguckt? Das sind keine Modellierungen politischer Ereignisse, sondern physikalischer Prozesse.
Eilenberger: Aber wie wollen Sie denn modellieren, was beispielsweise technologisch möglich sein wird in den nächsten 15 oder 30 Jahren? Und welche Wirkungen das gesamtgesellschaftlich dann zeitigt? Das ist doch ganz und gar aberwitzig. Vor 30 Jahren, ich habe es selbst erlebt, gab es zum Beispiel noch einen Alltag ohne Internet.
Neubauer: Als Naturwissenschaftlerin weiß ich, was es heißt, sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren. Ich würde zum Beispiel keinen Satz sagen wie: „Wir haben nur noch zehn Jahre Zeit.“ Oder: „Wenn wir es dieses Jahr nicht schaffen, haben wir alles verloren.“ Es gibt vom Weltklimarat aber über 200 Szenarien, die unter verschiedenen Bedingungen aufzeigen, wie wir die globale Durchschnittserwärmung minimieren können und was passieren könnte, wenn wir es nicht tun. Dabei muss man sich bewusst machen, dass diese 1,5- bis 2-Grad-Grenzen, die gezogen werden, praktisch der Kompromiss mit uns selbst sind.
Eilenberger: Ich gebe Ihnen im Kern ja recht: Wenn wir der Dynamik etwas entgegensetzen wollen, bedarf es umfangreicher struktureller Veränderungen. Die Idee, dass wir uns als Individuum aus dieser Krise radeln oder gärtnern werden, ist abwegig. Die entsprechenden Maßnahmen aber werden die individuelle Freiheit, die wir als den Kern unserer Existenz zu begreifen gelernt haben, stark, sehr stark, vielleicht sogar ultimativ einschränken.
Neubauer: Wir können niemals frei sein auf einem Planeten, der immer gefährlicher für die Menschen wird. Denn das ist unweigerlich eine Tendenz, die unsere Freiheiten als Menschheit immer weiter einschränken wird. Insofern ist der Kampf gegen die Klimazerstörung ein Kampf für die Freiheit. Und zwar nicht nur für die kollektive. Sondern die eines jeden Einzelnen. /
Luisa Neubauer ist Klimaaktivistin und die wichtigste Vertreterin der Fridays-for-Future-Bewegung in Deutschland. Gemeinsam mit Alexander Repenning hat sie das Buch „Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft“ verfasst (Tropen, 2019)
Wolfram Eilenberger war langjähriger Chefredakteur des Philosophie Magazins und moderiert die „Sternstunde Philosophie“ im Schweizer Fernsehen. Nach seinem Welterfolg „Zeit der Zauberer“ (2018) ist nun sein neues Buch „Feuer der Freiheit“ erschienen (beide Klett-Cotta)
Eine Koproduktion vom Philosophie Magazin und rbbKultur Radio. Der Dialog wird in der Sendung „Der zweite Gedanke“ am 19.11. um 19 Uhr ausgestrahlt. Im Podcast und Online abrufbar unter: www.rbbkultur.de/derzweitegedanke
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