Fritz Reck-Malleczewen
Charlotte Corday
Fritz Reck-Malleczewen

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Das Opfer

Erst verachtet, nun ein Verächter,
Zehrt er heimlich auf
Seinen eigenen Wert
In ungenügender Selbstsucht.

                     Goethe, Harzreise.

Und abermals muss wohl oder übel dieses Werk um Nachsicht bitten, wenn es immer noch verweilt beim Ermordeten, um dann erst dem Lebensweg der Mörderin nachzugehen.

Es gibt eben, um es nochmals zu sagen, keine Strasse, die zu Charlotte Corday führt, wenn man nicht zuvor den vielfach verschlungenen Lebenspfad Marats verfolgt hat, und wiederum bleiben beide, Täterin und Opfer, unverständlich, wenn man sich nicht die Mühe nimmt, die gewohnte und auch in Deutschland allzu willig nachgesprochene Phraseologie der französischen Umwälzung erneut und im Lichte unserer Tage zu überprüfen. Die letztgenannte Aufgabe wird sich im Laufe dieser Erörterungen zwischen den Zeilen durchführen lassen – die erste aber verlangt nach sofortiger Bewältigung, wenn diese Darstellung nicht hinauskommen soll auf einen jener Bilderbogen, in denen das 19. Jahrhundert, sehr im Sinne seiner Soziologie, die Gestalten der grossen französischen Geschichtswende verfälscht oder doch zumindest schematisiert hat.

48 Nun ist gerade mit Marat eine oberflächliche und konventionelle Darstellung übel genug verfahren. Wer ihn, wie das durch viele Jahrzehnte gedankenlos geschah, den eigentlichen Schreckensmännern zuzählt, hat die Statistik der Guillotine nicht genügend studiert und Marat selbst in jener Tragikomik überschätzt, die ein Carlyle andeutete, als er ihn einen »Säulenheiligen« nannte. Wer ihn andererseits mit einem Hinweis auf das Zweideutige und Unappetitliche seiner Lebenshaltung und seiner äusseren Erscheinung als gestrandeten Literaten und politischen Bohemien abtut, unterschätzt wieder die Feuerbrände, die in dieser Brust glommen und bei einem länger bemessenen Leben fraglos ganz Frankreich in Asche gelegt hätten.

Wer endlich nach dem Muster mancher französischer Autoren sich bestimmen lässt durch Marats Intellekt und seine auch von einem Goethe anerkannte wissenschaftliche Leistung – wer gar sich allzusehr bestimmen liesse durch jene Stunden, wo in diesem Manne ein Strom warmer Menschenliebe hervorzubrechen scheint, der irrt noch mehr.

Er übersieht jedenfalls, dass in diesem seltsamen Leben nicht nur der heisse Springborn, sondern auch der Pfuhl nachweisbar ist, und dass dicht bei dem warmen Quell auch gleich die Kloake lag. Und hier stehen wir dicht vor der Problematik dieses Mannes.

49 Von keinem der Revolutionsmänner sind auf uns so viele Bildnisse überkommen, von keinem wissen wir so viel Intimitäten und verbürgte Episoden wie eben von Marat. Sichtet man aber alle diese von ihm hinterlassenen Spuren, so stellt jedes dieser Porträts einen anderen Marat dar, so zeugt beinahe jede Anekdote und jede Aeusserung von einem neuen und bis dato ungeahnten Menschen. Geschichte kann nicht sitzenbleiben auf einem Trümmerhaufen von widerspruchsvollen Tatsachen, Geschichte muss, wenn sie sich nicht selbst die Lebensadern drosseln will, sich aufraffen zum Aufzeichnen eines Diagramms. Bleibt also uns, die wir später doch zu einem Urteil über die Tat kommen wollen, etwas anderes übrig, als zuvor, sei es auf allerengstem Bezirk, die Lebensdaten des Opfers zusammenzutragen?

Um 1740 wandert in Genf ein Maler und Modellzeichner ein, der aus Cagliari in Sardinien kommt, sich Jean Mara BonfilsDie im Heiratskontrakt vorkommende Schreibweise »Maxa« dürfte auf einen Schreibfehler zurückzuführen sein. Für den zusätzlichen Namen »Bonfils« finde ich in der gesamten Literatur keine Erklärung, die über Willkür und Phantasterei hinauskäme.
    Das »t« am Ende führen die Maras (anscheinend), um ihr ja nicht sehr weit zurückdatierendes Franzosentum zu unterstreichen, seit 1770. Der nach Karlsruhe ausgewanderte Bruder Jean Paul Marats hat übrigens bei seinen Unterschriften dieses »t« späterhin wieder fortgelassen.
nennt und 1741 das Bürgerrecht erwirbt. Drei Monate zuvor hat er sich mit 50 Louise Cabrol, der Tochter des protestantischen Perückenmachers David Cabrol, verheiratet.Man hat die Marats als Juden angesprochen. Zu bemerken ist, dass der unter den Zeugen des Heiratskontraktes erscheinende ›Paul Abraham Mendez, Jude aus Venedig‹ diese Hypothese nicht stützen kann, da er ja nicht als Blutsverwandter, sondern lediglich als Zeuge zeichnet. Ein weiteres Moment, das für die jüdische Abkunft der Marats spräche, findet sich in den bislang bekanntgewordenen Urkunden nicht. Das Ehepaar siedelt bald nach der Hochzeit nach Boudry bei Neuchâtel über, wo es das noch heute zwischen der Präfektur und dem »Hotel zum Löwen« stehende Haus bezieht und 1765 das Bürgerrecht erwirbt. Drei Jahre später wandern diese »Maras« wieder nach Genf zurück, ohne sich dort sonderliches Ansehen zu erwerben. Wenigstens zeugt ein noch heute vom Museum in Neuchâtel aufbewahrter anonymer Schmähbrief von Beliebtheit und Ansehen nicht. Geschrieben wurde er wohl in der unmittelbaren Nachbarschaft, er richtet sich äusserlich nur an die Mutter Marats, gilt aber in seinem Inhalt der ganzen Familie: »Madame, Sie sind eine Lügnerin von Ruf und eine allenthalben verachtete nichtswürdige Person. Ihr Mann ist keineswegs besser und ein Erzheuchler . . . und was Ihre Töchter angeht, so passen sie wahrlich schön in unser Genf! Ich will so viel anonyme Briefe schreiben und Sie so unmöglich machen, wie ich irgend kann . . .« So ungefähr in gedrängtester Kürze. Man 51 sieht, es war nicht weit her mit der Beliebtheit dieser Einwanderer.

Geburtshaus Marats in Boudry bei Neuchâtel

Die Kinder, zwei Töchter und vier SöhneVon den Töchtern beansprucht einiges Interesse vor allem Albertine Marat, die vor dem Morde bei ihrem Bruder in Paris lebte und dortselbst 1843, übrigens in tiefster Armut, stirbt. Erwähnt mag werden, dass der eine der Brüder frühzeitig nach Petersburg auswanderte, wo er unter dem Namen »de Boudry« Professor am Lyzeum von Zarskoje Selo und Lehrer jenes Fürsten Gortschakow wurde, der späterhin als Minister Bismarcks Gegenspieler war. Ein weiterer Bruder stirbt erst 1846 in Karlsruhe. Die Uhrmacherei lag den Geschwistern anscheinend im Blute, da auch Albertine bis zu ihrem Tode von der Herstellung von Uhrzeigern gelebt und schon vorher ein Uhrengeschäft betrieben hat., waren schon vorher in Boudry geboren worden, Jean Paul Marat als der älteste im Mai 1743. Das angebliche Geburtszimmer – der Billardsaal des späteren »Hotels zum Löwen« – wurde noch zu Anfang dieses Jahrhunderts gezeigt.

Er besucht die Schule in Neuchâtel, dessen Bibliothek noch ein französisch-lateinisches Lexikon mit seiner Namensinschrift aufbewahrt, er verweigert mit elf Jahren nach ungerecht empfangener Strafe die Nahrung, springt, als man ihn einsperrt, aus einem Zimmer des ersten Stockes und trägt als Andenken an dieses Jugenderlebnis für den Rest seines Lebens eine Narbe an der Stirn. Bedeutsamer und bezeichnend für das Geltungsbedürfnis, das ihn zeitlebens quält, ist ein Programm, das er damals aufstellt – 52 ein Programm, kraft dessen er mit fünfzehn Jahren Professor, mit achtzehn Verfasser eines Buches, mit zwanzig aber ein anerkanntes Genie zu sein hofft.

Das aber ist bereits diese krankhafte Eitelkeit, dieses todwunde Geltungsbedürfnis, das sich mit den Jahren immer mehr steigert, ihn in alle seine Paroxysmen von Verfolgungswahn und Arroganz hineintreibt und in seinem Leben jene Krise heraufbeschwört, die schliesslich, inmitten einer Revolution, nur durch einen Dolchstoss beendet werden kann. Mit fünfzehn Jahren ist er übrigens in der Tat so weit, dass er ausser Französisch, Latein und Griechisch nicht weniger als fünf lebende Fremdsprachen (Deutsch, Englisch, Holländisch, Spanisch und Italienisch) spricht. Mit siebzehn Jahren bittet er die französische Regierung, ihn an der zur Beobachtung eines Venusdurchganges nach Tobolsk abgehenden Expedition teilnehmen zu lassen, was bei der massgebenden Behörde leider auf Widerspruch stösst.

Er lässt sich dadurch nicht entmutigen und nimmt auch ohne diese Expedition jede Gelegenheit wahr, seinen brennenden Durst nach neuen Kenntnissen, Tatsachen und Fertigkeiten zu stillen. Die Schweiz, deren er sich späterhin nur ungern erinnert, wird ihm zu eng, sechzehnjährig geht er nach Frankreich, wird in Bordeaux aufgenommen in dem behäbigen grossen Hause des gut königstreuen Schiffsmaklers Nairac, 53 bei dem er als Mentor und Hauslehrer wirkt. Er bleibt zwei Jahre und geht dann, die menschliche und auch die tierische Medizin zu studieren, nach England.

Es ist das korrupte England des dritten Georg, es ist somit ein angemessener Aufenthaltsort für einen jungen Menschen, dessen Hirn geradezu geschaffen scheint, um in allen menschlichen Gebilden die Lötfugen und Risse aufzuspüren. Wer aber zahlte ihm, der von Hause aus bettelarm war, den Aufenthalt in dem damals schon teuren Lande, wer finanzierte späterhin den kostspieligen Haushalt des jungen Arztes in dem damals noch vornehmen und ausserordentlich teuren Londoner Viertel Soho, wer bezahlte die Drucklegung jener Broschüren, die er bald darauf erscheinen liess?

Wir wissen es nicht, wir kommen nur zu dem Schluss, dass schützend schon damals jemand hinter ihm gestanden haben muss, und wir wollen die Antwort auf die Frage, wer dieser »Jemand« war, der Kombinationsgabe des Lesers überlassen. Dunkel liegt sowieso über diesen englischen Wanderjahren, und nicht einmal die Aufenthalte in den einzelnen Städten können wir zeitlich begrenzen und wissen auch nicht, was er hie und da – in Dublin, Amsterdam, La Haye – getrieben hat.

Wir wissen lediglich, dass sein Studium 1769 begann, dass es 1776 mit der Erwerbung des Doktordiploms förmlich abschloss, dass aber anscheinend schon 54 der Student sich ärztlich betätigte. Sicher ist, dass er mehrere Jahre vor der »Approbation« (wofern man den Erwerb des Doktordiploms so nennen darf) in Newcastle lebte, und die Legende will wissen, dass er sich dortselbst während einer Epidemie ausserordentlich bewährte und auch mehrere »Klubs« gründete: wir wissen leider nur nicht, von welcher Beschaffenheit diese »Klubs« waren und welche Ziele sie verfolgten. Der Freimaurerei dürfte er übrigens schon damals nahegestanden haben, und 1774 wird er in London Mitglied der Loge Bien-Aimée. Von diesem Jahre an, möglicherweise auch schon seit 1773, haben wir ihn, bis auf weiteres, ständig in London zu vermuten.

Schon damals hat das Medizinstudium allein diesen unruhigen und in so viel Farben schillernden Geist nicht ausgefüllt. Später, als er London verlässt, hat er ausser einer urologischen und einer ophthalmologischen Broschüre einen »Versuch über die menschliche Seele« geschrieben, der, vorerst anonym, 1774 in London erscheint, im nächsten Jahre neu aufgelegt wird und nach zwei weiteren Jahren in Amsterdam bei Marc Michel Rey, dem Verleger Rousseaus, seine französische Ausgabe erlebt.

Welch hochtourige Gedankenmaschinerie, welch Denken und Zergliedern um jeden Preis, welch leidenschaftliches Autodafé in den Feuern der grossen 55 Zeitprobleme! Er ist damals erst dreissig Jahre alt, geht aber schon um mit neuen Arbeitsplänen und brütet nun über einer neuen Schrift, die den zeitgemässen Namen »Sklavenketten« tragen soll. Im Kopf hat er schon seit drei Jahren alles fix und fertig beisammen, nun aber schreibt er es binnen dreier Monate in einem einzigen Anlauf nieder, muss dabei zur Vervollständigung seiner Gedankengänge noch dreissig Bände durcharbeiten, lebt nach eigenen Angaben in dieser Zeit fast ausschliesslich von schwarzem Kaffee. Bis er schliesslich, als das Manuskript fertig ist, für ein paar Wochen um sein Gedächtnis gekommen ist und, wiederum nach eigener Angabe, aus diesem Zustande der Amnesie sich nur durch »Musik und Ruhe« befreien kann.

So ist das Werk entstanden, das er dann einige Zeit liegen lässt, um es dann bei passender Gelegenheit, unmittelbar vor den Parlamentswahlen, zu veröffentlichen.

Es ist nicht anzunehmen, dass die britische Regierung sich durch Marat bedroht fühlte, es ist immerhin möglich, dass sie, damals schon allem Getöse und allem »hubbub« abhold, das ihre tat, um einen allzu regen Absatz abzustoppen.

Was in seiner egozentrischen Geistesverfassung Marat daraus macht, stempelt ihn schon damals zum Märtyrer. Nach seiner Darstellung wäre er von 56 Stund an auf Schritt und Tritt durch Spitzel überwacht, seine Briefe wären geöffnet, alle Händler, die das Buch führten oder gar auslegten, wären terrorisiert worden. Keiner von ihnen wagt es, das Werk dem Publikum anzubieten, die nordbritischen Gesellschaften, denen er es zuschickt, geben es ungelesen und ohne Begleitbrief zurück, und nur drei – hier setzt bei Marat nach dem Verfolgungs- der Grössenwahn ein – senden »in vergoldeten Kassetten Diplome über die Ehrenmitgliedschaft«.

Dies wäre das Schicksal des Buches in Maratscher Darstellung, und noch des öfteren werden wir diesen »geheimen Beobachtungen und Verfolgungen« begegnen, die fortan als böse Dämonen durch sein Leben geistern. London ist ihm jedenfalls verleidet. Im Jahre 1777 siedelt er nach Paris über. Als Arzt bei der Leibwache jenes Bourbonenprinzen, der als Bruder Ludwigs XVI. den Titel eines »Grafen von Artois« führt und der der Nachwelt als der spätere Karl X. und als letzter König aus der Hauptlinie des Hauses Bourbon bekannt ist. Und erst mit dieser Uebersiedlung und mit diesem Amte beginnt die eigentliche Geschichte dieses seltsamen und bis heute apokryph gebliebenen Mannes, den die Geschichte als Jean Paul Marat und, in ihrer legendären Abwandelung, als »Ami du peuple« kennt.

57 Es kann kein sehr glanzvoller Posten gewesen sein, da die Hofliste in der Rangordnung des ärztlichen Personals den Doktor Marat erst als letzten unter insgesamt zehn (!) Aerzten anführt. Gleichwohl darf man die Bedeutung für ihn nicht unterschätzen: für diesen wahrscheinlich von Kindesbeinen an mit demütigenden Erinnerungen beschwerten, des gesunden Selbstbewusstseins baren Menschen bedeutete die Berührung mit dem Hof Legitimierung vor sich selbst, Hebung des gesamten Lebensgefühls vielleicht.

Es sind in der Tat seine sieben guten Jahre. Er hat nun neben »völlig freier Station« ein Gehalt von zweitausend Livres und eine schön ausgestattete Dienstwohnung in der Rue Bourgogne im Viertel St. Germain. Dass aber psychotisch veranlagte Naturen bei solch günstiger Wendung der äusseren Lebensumstände leicht ins Exzessive, vom Kleinheits- in den Grössenwahn oder doch mindestens in eine Welt holder Wunschträume hinüberwechseln, ist eine dem Fachmann beinahe selbstverständliche Erscheinung. Dass Zeitgenossen den später so vernachlässigt und schmutzig sich gebenden Jean Paul Marat damals als Stutzer und »petit maître« mit gestickter Weste und sorgfältig gepuderter Perücke haben herumlaufen sehn, mag sich allenfalls aus seiner damaligen Stellung ergeben haben. Dass er aber damals, der Sohn des armseligen kleinen Modellzeichners, sich ein gräfliches 58 WappenDas Wappen zeigt im linken Feld des senkrecht gespaltenen Schildes einen halben Adler, der ganz offensichtlich dem Genfer Stadtwappen entlehnt ist. Das rote Feld rechts zeigt blaue Querbänder, das Ganze stellt, da nach den Wappenregeln Farbe ja nicht auf Farbe stehen darf, einen heraldischen Greuel dar.
    Es existieren von Marats Hand zwei mit diesem Siegel verschlossene Briefe. Der eine, datiert aus der Zeit kurz nach dem Bastillesturm, ist kurioserweise trotz aller Belastung mit Feudalismus und Heraldik an – Camille Desmoulins gerichtet.
konstruiert und sich als Mann uralten Adels ausgab, das bedeutet mehr. Es ist nicht wie bei Danton, der als geborener Lebemann und in geheimer Koketterie mit den Lebensformen der eben gestürzten Feudalwelt zeitweilig sich »d'Anton« genannt hat. Es ist bei dieser aus krankem Keim erwachsenen Seele das, was der Psychiater »Kompensation« nennt. Es ist das Bestreben, das geheime Ach und Weh des armseligen Lebens durch Theaterdonner zu übertönen, sich gegen die insgeheim gefürchtete Umwelt zu schützen durch selbstgeklebte Pappharnische. Die oben erwähnten »in goldene Kassetten eingeschlossenen Ehrendiplome« gehören wahrscheinlich ins gleiche Schubfach wie eben dieses Wappen. Noch des öfteren werden wir uns beider zu erinnern haben.

Angemasstes Wappen Marats

Immerhin, es geht ihm nicht schlecht in diesen Jahren, und nur hin und wieder sind sie getrübt durch einen jener Skandale, denen wir im Leben dieses seltsamen Erdensohnes immer wieder begegnen werden. Er kuriert beispielsweise eine »brustkranke« Dame, 59 die in der Rue St. Roch wohnt, behandelt sie so gut es geht, macht ihr um die Weihnachtszeit einen letzten Krankenbesuch . . .

Wird aber im Vorzimmer von ihrem Liebhaber, einem polnischen Aristokraten, abgefangen, wegen mangelhafter Erfolge und allzu hoher Rechnungen zur Rede gestellt, wird zuerst mit Worten und dann auch mit Faustschlägen und Ohrfeigen beleidigt. Dass er den Degen zieht, nützt ihm nichts: der Degen wird zerbrochen und ihm vor die Füsse geworfen, er selbst wird nun auch noch von den herbeigerufenen Domestiken nach allen Regeln der Kunst verprügelt. Eine Klage, die er vier Wochen später durch einen Pariser Anwalt einreichen lässt, ist bis heute erhalten, der Ausgang des Prozesses ist leider unbekannt.

Das aber ist wohl nur eine vorübergehende Trübung seines Glückes – es sind trotzdem die Jahre seines Glanzes. Sein Ansehen als Arzt wächst, er nimmt nun für eine Konsultation nicht weniger als einen oder sogar zwei Louisdor, was immerhin dem Gegenwert von vierzig Mark entspricht: es sind aus jener Zeit sogar Briefe vorhanden, in denen die Schreiber sich beklagen, dass sie sich »den teuern englischen Modearzt« nicht leisten können. So also hat er damals guten Wind in den Segeln. Er befreit das Kind eines reichen Kaufmanns von seinem 60 Augenleiden, er heilt durch Diät und Kräutertees ein paar Finanziers, die – eine aus naheliegenden Gründen damals häufige Erscheinung – sich durch allzu scharfe Quecksilberkuren schwer geschädigt haben. Sehr bald entdeckt ihn auch die Hofgesellschaft. Er behandelt eine von den Modebädern der Zeit enttäuschte, von dem Doktor Bouvard schon aufgegebene Marquise Laubespine, die, eine zarte Treibhauspflanze, offensichtlich an einer schweren Tuberkulose leidet, und der die Aerzte, als mitten in einer schweren Krise Marat hinzugezogen wird, nur noch vierundzwanzig Stunden Leben bewilligt haben.

Er aber »heilt« sie. Er heiltWir wollen nicht ungerecht sein. Die anamnestischen Fragen, mit denen Marat sich mit diesem Fall und seiner klinischen Vorgeschichte befasste, sind aus Briefen der Angehörigen auf uns überkommen. Ein moderner Kliniker würde heute die gleichen Fragen stellen. Wir wollen auch seine Heilmethoden, die hie und da heutige Gedankengänge vorausnehmen, nicht allzusehr belächeln. Der Arzt war nicht die schlechteste seiner zahlreichen Inkarnationen. sie durch einen »mit Nitraten versetzten Dekokt von bitteren Mandeln«, und es folgt dann in dieser Therapie als Hauptmittel das »Harrowgatesche Wasser«, dessen Zusammensetzung angeblich Marats Geheimnis ist.

Aerztliches Rezept Marats

Die Krise wird immerhin überstanden, die Marquise fühlt sich »gesund« und wird sich sehr bald, wie wir gleich sehen werden, sogar »zu gesund« fühlen. Weithin hallt der Ruhm des »englischen Arztes«, der 61 Neid der Kollegen erwacht. Sie glauben nicht an diese Kur, sie finden, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, und glauben demgemäss nicht an eine vorhanden gewesene Schwindsucht und erklären, auch damals, das Leiden der Marquise Laubespine für Hysterie. In der klinischen Wochenschrift jener Tage, der »Gazette de Santé«, beginnt ein heftiger Streit zu toben, jemand analysiert das »Harrowgate-Wasser« und behauptet, mit Recht oder Unrecht, er habe ausser einem winzigen Laugenzusatz nur reines Brunnenwasser gefunden. Ein Schüler Marats greift zugunsten des Lehrers in den Streit ein, schliesslich interveniert zu seinen Gunsten auch der Marquis Laubespine selbst, der »nichts gemerkt hat« und jedenfalls ein ahnungsloser Engel gewesen sein muss.

Die Marquise nämlich hat, was dem Marquis entgangen ist, mit ihrem Lebensretter zarte Beziehungen angeknüpft, über die der Doktor leider spricht und mit denen er den ganzen Hofklatsch in Bewegung setzt.

Es sind, um auch dieses Kapitel seines Lebens zu streifen, die gleichen Jahre, wo ihn ebenso zarte Beziehungen mit Angelika Kauffmann verbinden . . . es sind jene Jahre, wo seine Erfolge sein Selbstgefühl steigern und er es sich leisten kann, seine Patienten antichambrieren zu lassen . . .

62 »Ueberlastet, wie ich bin, müsste ich, lieber Graf, mehrere Kranke vernachlässigen, die dringend meiner Hilfe bedürfen, wenn ich Ihnen eine Konsultation gewähren sollte.«

Das ist nur eine Probe aus den Briefen jener Zeit, und es gibt solche, die von noch höherem Selbstbewusstsein zeugen. »Mehrere Kranke, die von ihren Aerzten aufgegeben waren und denen ich ihre Gesundheit von neuem schenken konnte, taten alles, um in der Hauptstadt meinen Ruf zu befestigen. Der Widerhall meiner glänzenden Kuren verschaffte mir eine geradezu erdrückende Menge von Patienten, meine Tür war ständig belagert von denen, die mich um eine Konsultation angingen. Da ich meine Heilkunst der Natur anpasste, so gewährten mir meine naturwissenschaftlichen Kenntnisse grosse Vorteile, und die Sicherheit meiner Kenntnisse und meines Taktes sowie die Unsumme meiner Erfolge verschafften mir den Ruf eines Arztes der Unheilbaren.« Das klingt zwar ausserordentlich selbstbewusst, dürfte aber, wie die Ehrendiplome und der genealogische Anspruch, wiederum nur eine »Phase« . . . ein übermässiges Ausschlagen des seelischen Pendels bedeuten. Es gibt aus jener Zeit von derartigen Symptomen noch mehr. Als in jenen Tagen unter Marats Autorschaft ein Vers – ein an sich harmloser Vers im Stile der Zeit – von Mund zu Mund geht, erweist es sich 63 plötzlich, dass ein ganz anderer Poet begründeten Anspruch auf die Urheberschaft hat . . .

Der Arzt des Grafen von Artois aber hatte ihn als den seinen ausgegeben.

Seiner Hofstellung passt er sich damals auch insofern an, als er ein fanatischer Royalist, geschworener Feind jedweden Libertinertums und geschworener Feind der Enzyklopädisten ist. »Schon haben sie den furchtbaren Plan entworfen, alle religiösen Orden zu ruinieren und die Religiosität selbst zu vernichten! Wieviel Unheil haben sie schon angerichtet und wieviel werden sie noch stiften! Wenn sie nämlich eines Tages durch ihre in allen Kabinetten und Ministerien aus und ein gehenden Kreaturen ihre Praktiken auch auf die Politik übertragen – wer kann sie dann hindern, alle Regierungen gegeneinander zu hetzen und schliesslich den Staat umzustürzen.«

Das schreibt in einem noch zu erwähnenden Briefwechsel 1783 der gleiche Jean Paul Marat, der genau zehn Jahre später mit seinem »La mort sans phrase« Ludwig XVI. auf die Guillotine schicken wird. Es ist das einzige Dokument seiner damaligen Gesinnung nicht. Damals verlangt er in einer seiner Schriften für den König, »der gottlob ja kein Unrecht tun könnte«, absolute Unverletzlichkeit, noch im Mai 1789, kurz vor dem Ausbruch des grossen Feuers, schreit er nach der Militärdiktatur, und bis in seine letzten Lebenstage 64 hinein, ja über den Tod hinaus, macht die Revolution ihm den Vorwurf des heimlichen Royalismus.

So steht es damals, in den Jahren seines Glanzes. Und was hat nun eigentlich aus dem Petitmaitre und Modearzt den Sansculotten, aus dem Gegner der Enzyklopädisten den Libertin, aus dem »Camelot du roi« aber den geistigen Führer des Pariser Pöbels gemacht?

Wir werden wohl in die untersten Gewölbe dieses Lebens hinabsteigen müssen, um dieses Rätsel, soweit das überhaupt möglich ist, zu lösen. Einzusehen ist wohl auf den allerersten Blick, dass ein Mann von solch krankhaftem Geltungsbedürfnis auf die Dauer sich nicht mit der Laufbahn des Modearztes und, gar unter den ersten Schauern der Revolution, auch nicht mit den Gehegen eines kleinen Hofamtes begnügen konnte. Wann er es aufgegeben hat, ist nicht ermittelt – es dürfte wohl im Jahre 1783 geschehen sein. Im gleichen Jahre aber sehen wir den Mann, der eben noch einen Hassgesang gegen die Enzyklopädisten niedergeschrieben hat, sich an einem Wettbewerb beteiligen, den zum Thema »Lob Montesquieus« die Akademie von Bordeaux veranstaltet. Marats Arbeit trägt das beinahe herausfordernd klingende Motto »Um einen Alexander zu malen, bedarf es schon eines Apelles«, und man sieht, dass er selbst hier, wo doch eigentlich von Montesquieu und nicht 65 so sehr von Jean Paul Marat die Rede hätte sein sollen, das liebwerte »Ich« in den Vordergrund zu schieben versteht. »Die Arbeit ist kalt und ermüdet, lässt die Anmut des Stiles und gerade jene philosophischen Gedankengänge vermissen, denen das Thema der Akademie doch ein weites Feld eröffnete.« Mit dieser Begründung weist die Akademie Marats Versuch ab und beschwört damit bei einem Manne von so abgründiger und so labiler Eitelkeit erneut die Dämonen des Verfolgungswahns und der Rachsucht herauf. Möglicherweise stehen wir hier schon am Wendepunkt. In jedem Falle wollen wir feststellen, dass die Inkarnation des erfolglosen Gelehrten die letzte gewesen ist vor der des racheheischenden Sansculotten. Und hier werden wir wohl verweilen müssen.

Die Welt der Akademien und Fakultäten ist damals in Frankreich noch exklusiver, als sie es heute ist, sie ist es schon deswegen, weil vielfach der angehende junge Gelehrte unter dem unmittelbaren Schutz interessierter Höfe und Fürsten in den erlesensten Lebensformen und mit der Anwartschaft auf allerhöchste Gunstbezeigungen heranwächst. Winkt ihm, wenn er erst arriviert ist, auch kein Reichtum, so winken ihm jedenfalls die Mittel zu patrizischer Lebensführung, und da er selbst sehr bald über hochmögende Verbindungen verfügt, so ist der Zutritt zu seiner Kaste nicht 66 nur ein Problem der Leistung, sondern in hohem Masse auch ein gesellschaftliches Problem.

Wir wissen nun, dass gerade um das Jahr 1783 dem Doktor Jean Paul Marat mehrfach die Möglichkeit sich zu bieten schien, einzugehen durch eine dieser goldenen Pforten. Wir wissen, dass er ein entsprechendes Angebot des russischen Hofes im Hinblick auf das Klima abgelehnt hatte, wir wissen, dass einer der skandinavischen Höfe – es dürfte der Stockholmer gewesen sein – bei ihm angefragt hatte, ob er bereit sei, gegen ein Jahresgehalt von 24 000 Livres überzusiedeln und ein grundlegendes Physikwerk zu schreiben.

Das alles scheint sich auf dieses kritische Jahr 1783 konzentriert zu haben. Wir wissen aber noch mehr. Wir wissen, dass Marat im gleichen Jahr über seinen Freund Roume de Saint-LaurentAn ihn war auch der oben zitierte Brief gerichtet, der sich gegen die Akademien und Fakultäten wandte. mit dem spanischen Hof über ein gleiches Angebot verhandelte, wir wissen, dass diese Verhandlungen dann urplötzlich zu stocken begannen, und dass Marat, dem am Zustandekommen des spanischen Projektes ausserordentlich viel gelegen war, das immer langsamer werdende Tempo dieser Verhandlungen auf Ränke der französischen Akademiker zurückführte.

Das wissen wir. Es ist also naheliegend, dass er alles tat, um diesen Ränken zu begegnen, dass sie in ihm 67 wieder alle Plagegeister des Verfolgungswahnsinns beschworen und dass das Scheitern seiner Pläne schliesslich eine tiefe, nie geheilte Wunde in ihm hinterliess.

Es sind die Jahre, in denen er seine grossen Arbeiten »Ueber das Feuer«, seine Versuche zur Farbenlehre, über die Elektrizität und über ihren Wert in der Heilkunde veröffentlicht. Was er als Wissenschaftler geleistet hat, verschwindet in dem traditionellen Marat-Bilde, wie es vom 19. Jahrhundert gezeichnet worden ist, vollkommen und ist auch so leicht nicht übersehbar. Stellen, wo der Verfasser als Scharlatan erscheint, fehlen nicht, und fast alles wird, was naturgemäss nicht immer sympathisch wirken kann, vorgetragen von einem Manne, der gewissermassen mit der Pistole in der Hand den Leser zwingen will, zu allem »Ja und Amen« zu sagen.

Manches freilich, zumal in den optischen Schriften und in dem Versuch über die Elektrizität, erscheint kühn und grossartig und greift hinaus über die Zeit und wirkt mitunter als Prophetie heutiger Forschungsergebnisse. Was aber die Lektüre immer schwer erträglich macht, das ist eben dieses »Um jeden Preis überlegen sein wollen«, dieses Autodafé der Dialektik und jene uns schon bekannte Anmassung, der man fast noch in der simplen Schilderung von Versuchsanordnungen begegnet. So ist es nicht nur ein Schlag auf die grosse Reklametrommel, es wirkt eben auch allzuoft 68 als harter Schlag ins Gesicht des Lesers. »Der Mensch«, heisst es in dem schon erwähnten Versuch über die Seele, »baut sich, wie jedes Wesen, aus zwei Bestandteilen, nämlich aus Leib und Seele auf. Mit dem Wahrheitsbeweis halte ich mich nicht auf, fände sich aber unter meinen Lesern wirklich jemand, der diese Behauptung anzuzweifeln wagte, so mag er die Lektüre bleiben lassen, da ich für ihn nicht geschrieben habe.« Man sieht, er macht sich mit seiner Beweisführung das Leben schon damals, um 1777, nicht sonderlich schwer, und stösst man damals schon bei dem noch unbekannten Gelehrten auf diese Sprache des Grössenwahns, so nimmt es wohl kaum wunder, dass man später noch ganz anderen Dokumenten der Anmassung begegnet. Jetzt aber, im Essai zur Elektrizitätslehre, findet sich folgender Erguss, der nachgerade alle Erwartungen übertreffen dürfte. »Noch ein Wort, und ich bin am Ende. So viel grosse Männer haben sich Mühe gegeben, eine brauchbare Theorie der Elektrizität zu finden, dass ich mich selbst vor diesem Gegenstande gefürchtet hätte, wäre ich nicht durch meine Entdeckungen ermutigt worden. Vergleicht man nun die Arbeiten jener mit den meinen, so wird man finden, dass es mir gelang, Licht in Dinge zu bringen, die jene im Dunkel liessen, und Dinge zu vertiefen, die jene eben nur gestreift hatten. Ich hoffe selbst, dass die Gesichtspunkte, unter denen ich die Dinge 69 dargestellt habe, aufreizend wirken.« Es ist nicht zu leugnen, dass diesem Wunsche in reichem Masse Erfüllung werden sollte.

Das nämlich ist keineswegs die Sprache des Selbstbewusstseins, es ist auch diesmal Getöse, das die innere Unsicherheit verbergen soll. Und hier beginnt es, dieses tragikomische Spiel, dessen wir fortan gewahr werden: er stösst von vornherein, möglichst gleich mit der ersten Zeile seiner unterschiedlichen Werke, seinen gelehrten Gegner vor den Kopf und provoziert so dessen Widerspruch. Je fühlbarer nun dieser Widerspruch wird, desto mehr steigert sich bei der nächsten Gelegenheit die Arroganz, und da diese Arroganz schliesslich die ganze offizielle Gelehrtenwelt jener Tage auf den Plan ruft, so kommt es wie bei einer Dynamomaschine zu einem tollen Wechsel von Ursache und Wirkung: es kommt auf dem Theater der gelehrten Welt zu Szenen, die unter Wissenschaftlern nie ihresgleichen gehabt haben dürften.

Wir werden von diesen unerquicklichen Dingen sehr bald zu sprechen haben. Vorderhand sei festgestellt, dass zunächst alle diese Arbeiten ein erhebliches Aufsehen erregen. In der Gelehrtenwelt, weil er in seinen optischen Arbeiten den grossen Newton selbst anzugreifen wagt, im Publikum, weil der Veröffentlichung sofort Experimentalvorträge folgen, die 70 in Marats Wohnung einer seiner Schüler, der Abbé Filassier, hält. Sie mobilisierten zwar die ganze Hauptstadt, diese Vorträge, waren wohl aber weniger Sache des wissenschaftlichen Interesses, als eben Sache der Schaulust und der gesellschaftlichen Sensation. Betrachtet man Bilder, die von solchen Veranstaltungen auf uns überkommen sind, so sieht man wohl in seiner verbuhlten Verspieltheit noch einmal das ganze sterbende Rokoko versammelt, und um phantastische Maschinen drängen sich Hofkavaliere und elegante Abbés, Marquisen in grosser Toilette ergötzen sich an den Versuchsergebnissen wie an den Zauberkunststücken eines Taschenspielers, und nicht der neuartige Gedanke und die kühne Theorie des Forschers fesseln, sondern eben das Farbenspiel in der Phiole des Chemikers oder der Strahlenkranz, den die Lichtbahn der Linsen um Arsinoës oder Célimènes Haar legt . . .

Die Experimentalvorträge des Abbé Filassier werden nicht viel anders gewesen sein. Freilich erscheinen auch gewichtigere Gäste, deren Eindruck schon über eine Gelehrtenlaufbahn entscheiden könnte. Aus Amerika ist als hochwillkommener Bote der jungen Freiheit Benjamin Franklin nach Frankreich gekommen, besucht diese Vorträge und wird gesehen, wie er im Strahlenkranz des optischen Apparates nachgerade von einem Heiligenschein umgeben ist. Deutsche und schwedische Gelehrte sind gekommen, 71 um Marat oder doch seinen Schüler experimentieren zu sehen, späterhin wird in Deutschland auch der grosse GoetheGoethes Farbenlehre berührt sich mit Marats Theorien. Wie Marat, so unterschied auch Goethe, im Gegensatz zu Newton, bei der Zerlegung des Lichtes die drei Grundfarben Blau, Gelb, Rot. Goethe hat sich, wie man weiss, wiederholt höchst anerkennend über Marats Arbeiten ausgesprochen. Die ablehnende Haltung der französischen Akademie Marat gegenüber hat er als »Beispiel aller Anstrengungen und aller Grimassen des bösen Willens« bezeichnet. aufmerksam werden auf die Gedankengänge dieses kleinen quecksilbrigen Menschen, der, als sei er ständig in Opposition und Abwehr, den Kopf so schief in die Schultern zurückzieht.

So strahlt noch einmal helles Licht um Marat. Chambon kommt, der später, als der Gelehrte Marat längst vergessen und längst der Politiker auferstanden ist, Maire von Paris sein wird . . . es kommt der bekannte Shakespeare-Uebersetzer Letourneur. Man bemerkt unter den Zuhörern den an der jungen Luftschiffahrt interessierten Abbé Miolan ebenso wie einen anderen Abbé, der Rozier heisst und das »Journal de Physique« herausgibt, und man bemerkt noch mehr einen Mann, der Caron de Beaumarchais heisst und gerade sich in jenen Tagen bekannt macht durch ein Lustspiel, das »Hochzeit des Figaro« heisst und damals einigen Staub aufwirbelt . . .

Man sieht, es kommt das ganze »prominente« Paris. Der literarische Erfolg der Broschüren ist bedeutend, 72 der »Versuch über das Licht« ist in drei Wochen vergriffen, in Deutschland wird eine Uebersetzung vorbereitet werden. Er persönlich wirkt an den Abenden, wo er selbst vor das Publikum tritt, allerdings nicht gut. Er polemisiert nämlich auch dort, wo niemand ihm widerspricht, er beginnt, wenn er auf einen Gegner zu sprechen kommt, zu schreien, er macht dann den Eindruck, als werde er gleich in epileptische Krämpfe verfallen.

Aber freilich, er ist ein vorzüglicher Experimentator, und die elegante Welt von Paris drängt sich zu diesen Abenden. Kühl verhalten sich eben nur die eigentlichen Gelehrten, kühl verhalten sich die Fachzeitschriften und kühl die Akademie: nachgerade scheint es so, als habe sich die gesamte Gelehrtenwelt Frankreichs zusammengefunden zu einer einzigen Phalanx »perfiden Totschweigens«Keines der damaligen Fachblätter hat auch nur Marats Namen erwähnt. In den Arbeiten von Sigaud de Lafond, Bertholon, Guyot findet sich über Marat kein Wort. Erst nach der Jahrhundertwende, also unter dem Kaiserreich, zitierten ihn französische Gelehrte.. Lärmend protestiert bei der Redaktion des »Mercure de France« Beaumarchais gegen diese Politik des Totschweigens, sogar der König soll von begeisterten Marquisen für diese Abende interessiert werden. In einem Prozess, der den Appellationsgerichtshof von Arras beschäftigt und sich um die Zulässigkeit einer von der 73 Nachbarschaft als gefährlich empfundenen Blitzableiteranlage dreht, wird Marat, wenn auch nicht persönlich, so doch nach seinen Schriften, als Sachverständiger zitiert – es ist immerhin erheiternd, dass der Rechtsbeistand der blitzableiterfreundlichen Partei, ein hagerer und etwas dürftig aussehender Anwalt aus Arras, Maximilian Robespierre heisst.

Der grosse Lavoisier freilich lehnt, was Marat ihm noch nach zehn Jahren nicht verziehen haben wird, den Besuch der Experimentalvorträge, die neuerdings die Durchdringbarkeit des Glases für den elektrischen Funken dem Publikum vorführen, ab, und auch der berühmte Chemiker Faucroy, den man herbeilocken will, erweist sich als Marat-Gegner. Dafür gibt es andere Erfolge. Dem »Versuch über die Elektrizität in der Heilkunde« erkennt die Akademie von Rouen unter ausdrücklicher Bemängelung des »jeder Anmut entbehrenden Stiles« die goldene Medaille zu, der General Tressan, der irgendwo in der Nähe von Chalons-sur-Marne lebt, lädt ihn, in der Rolle des Mäzens sich gefallend, zu sich »auf sein Tuskulum«. Schüler strömen in Scharen herbei – erwachsene, hochgebildete Männer: Aerzte, Physiker, Journalisten. Es kommt Brissot, der damals Besitzer des »Moniteur« ist und später einmal Marats politischer Gegner im Konvent sein wird, es kommt, damals noch jung und schlank und »verständig und schön wie Antinous«, 74 der junge Barbaroux, der sich als Mitarbeiter an Roziers »Journal de Physique«, als Erfinder eines Elektrometers und nicht zuletzt sogar als Verfasser einer »Ode auf die Elektrizität« einen Namen gemacht hat: ahnen diese beiden Männer wohl, dass es der Tod selbst istBrissot und Barbaroux haben ihre spätere Zugehörigkeit zur Gironde, deren Sturz ja nicht zuletzt Marats Werk war, mit dem Tode büssen müssen., zu dessen Füssen sie nun als Schüler sitzen?

Was hilft dieser ganze Erfolg bei den Laien, wenn die zünftigen Gelehrten, die Hohenpriester der Wissenschaft, die Achseln zucken und die Verhandlungen mit Spanien nicht vorwärts kommen? Er tobt. »Seit fünfzehn Jahren zerstören mir diese Akademiker alle Möglichkeiten, sie hintertreiben meine Veröffentlichungen.« Ja, selbst in seiner ärztlichen Praxis sei er, so beklagt er sich bei dem in Spanien für ihn unterhandelnden Roume de Saint-Laurent, behindert worden, an seine Patienten hätten diese Akademiker anonyme Briefe geschrieben, seine Kollegen hätten Versammlungen gegen ihn einberufen.

Man sieht, die Flammen des Verfolgungswahns schlagen zum Dach heraus, und je höher sie lodern, desto höher wächst seine Arroganz. »Was bedeutet«, so erklärt er in jenen Tagen, »Newtons Genie, da ich doch nachgewiesen habe, dass seine Ergebnisse 75 unsinnig sind? Ich habe fünf Kategorien absolut neuer Tatsachen entwickelt, ich habe sie mit dem nötigen Beweismaterial belegt, so dass Newton selbst sich beeilen würde, sein System umzustossen.« Derlei Aeusserungen pflegen nicht beliebt zu machen, und der Widerstand der Akademien wächst. Die von Frankreich lehnt (sie braucht zu diesem Entschluss volle fünf Monate!) das optische Werk ab, und als Marat es dann dem von der Akademie von Rouen ausgeschriebenen Wettbewerb unterstellt, verbreitet der Physiker Arago das Gerücht, Marat habe den ausgesetzten Preis vor der Prüfung dem Preisrichterkollegium angeboten . . .

Das erweist sich zwar als unwahr, hat aber den Erfolg, dass dieser arme Maniak nur noch lauter tobt. »Ich weiss«, schreibt er in jenen Tagen, »dass sie mehr denn je intrigieren und dass sie sich nun darin gefallen, meine Geduld zu erschöpfen. Mögen sie es immerhin tun – man ist kein Apostel der Wahrheit, wenn man nicht den Mut hat, Märtyrer zu sein.« Auch das sind ja wohl volltönende Worte, und abermals vermehren sie die Angriffslust der Gegner. Der Physiker Charles, entschieden ein vornehmer Mann, Mitglied der Akademie und Pensionist des Hofes . . . der Physiker Charles also behauptet, Marats Versuche seien abwegig und betrügerisch, er mokiert sich über ihn in seinem Kolleg und vergleicht ihn dort, natürlich 76 unter dem wiehernden Gelächter der Studenten, mit dem damals allbekannten Taschenspieler und Zauberkünstler ComusDie Version, Marat habe sich in Charles' Kolleg unter die Studenten gesetzt und sei dann bei einem dieser Ausfälle im Kollegsaal tätlich geworden, ist unwahr. Der hier geschilderte Verlauf entspricht den in den »Archives nationales« liegenden Polizeiakten.. Marat erfährt es, erscheint in Charles' Wohnung und stellt ihn zur Rede. Charles, ein eleganter und selbstsicherer Mann, antwortet herablassend, es gibt ein Wort das andere, und es kommt, wieder einmal, zu Tätlichkeiten . . .

Denn wieder einmal zieht Marat den Degen, wieder einmal wird er ihm zerbrochen vor die Füsse geworfen, wieder empfängt er Faustschläge und wird, übel zugerichtet, nach Hause geschafft. Da die Vermittelungsaktion eines Polizeileutnants nichts nützt, schickt Marat an Charles eine Duellforderung – was aus dieser phantastisch anmutenden Forderung des späteren Montagnards und Sansculotten dann geworden ist, verraten die Polizeiakten von Paris leider nicht. –

Ja, es scheint wirklich so, als habe dieser misslungene Versuch, als Wissenschaftler sich »legitim« zu machen, die grosse Wendung seines Lebens gebracht. Der spanische Hof lässt nichts mehr von sich hören, kurz vor der Revolution sind die Experimentalvorträge auch in Paris längst vergessen. Nie 77 sind diese der Eitelkeit geschlagenen Wunden vernarbt: noch 1792 zahlt ein junger Arzt, der sich eine Kritik an Marats wissenschaftlicher Leistung erlaubt, beinahe mit Verhaftung und Tod auf der Guillotine, und Lavoisier, der später ja wirklich guillotiniertDas geschah zwar erst ein volles Jahr nach Marats Tode, war aber fraglos mit eine Folge von Marats jahrelangen Presseangriffen. wird, hat es noch nach zehn Jahren zu spüren bekommen, dass er seinerzeit jene Experimentalvorträge gemieden hat. »Eine Kobra und ein Sikh – beide vergessen nicht«, sagt ein britisches Kolonialsprichwort, und es wird gerade in diesem Falle verwünscht lebendig. »Diese Legion von wirklichen und falschen Gelehrten«, so tobt er nach Jahren in seinem »Ami du Peuple«, »diese Legion von Akademikern, deren jeder mehrere Pensionen bezieht, und eine jede von diesen Pensionen würde ausreichen, das Leben eines wirklich tätigen Wissenschaftlers zu gewährleisten! Man nimmt das Brot den Armen und gibt es den Marktschreiern! Wozu aber taugen eigentlich diese Akademien, von denen es in Frankreich nur so wimmelt – sind sie etwas anderes als Produkte anmassender Könige und anmassender Minister?«

Das schreibt er um 1790, als der Arzt, der Wissenschaftler und der Petitmaitre längst der Sage angehören und er selbst ein räsonierender Unflat geworden 78 ist. Und weiter geht es in einem Stil, der, was unterstrichen sei, gut und gern der eines Revolverblattes von 1900 sein könnte . . .

»Sie stehen alle miteinander zu spät auf, diese Herren Akademiker, ihre Arbeit besteht in Frühstücken, Zeitunglesen, Empfangen und Abstatten von Besuchen. Sie speisen in der Stadt, gehen vom Tisch zum Theater, und wenn ihnen noch ein wenig Zeit bleibt, so holen sie, um die liebe Schwatzhaftigkeit zu bestreiten, Neuigkeiten ein. Ich kenne ihrer drei, die aus den Theatern überhaupt nicht mehr herauskommen, man sieht sie in der französischen und italienischen Komödie, man sieht sie in der Oper, im Variété, bei Beaujolais, bei Nicolas und Oudinet, und natürlich auch in den Ballettschulen. Und diese Akademie von Frankreich? Sie hat sich nun elftausendvierhundertundneunmal versammelt, hat dreihundertundvierzig Lobsprüche und dreitausendneunhundertundsechsundfünfzig anerkennende Gutachten erteilt für Schminke, Haarpomade, Hühneraugenpflaster, Wanzensalben, für die beste Form von Perücken, Klistierspritzen und tausend andere Dinge von ähnlicher Wichtigkeit.«

Soweit dieser Erguss. Welche Sprache, welch hysterisches Geifern eines gekränkten Marktweibes, welch dialektisches Wüten! Mag diese Akademie noch so verknöchert gewesen sein, mag die Wunde enttäuschter 79 Eitelkeit noch so tief gebrannt haben: nie zuvor wurde im alten Europa dieser Jargon gehört. Marat ist – das wollen wir uns immerhin merken – der erste, der ihn handhabt, und er ist, in diesem Sinne, der Urvater aller jener Skribenten, die mit diesem aus Zynismus, Anmassung und geschickter Dialektik geformten Werkzeug in den nächsten hundertundfünfzig Jahren die Form öffentlicher Auseinandersetzungen zerstören sollten. Fast am gleichen Tage aber, wo er in dieser Weise sich entleert, schreibt er, stigmatisiert von brennender Tierliebe, ein flammendes Pamphlet gegen die Vivisektion, und um die gleiche Zeit teilt er in einem uns erhaltenen Billett einem Bekannten mit, dass es ihm aus seelischen Gründen unmöglich sei, der Autopsie eines gemeinsamen Freundes beizuwohnen . . .

Welches Nebeneinander, welch seltsame Gegensätze! Später wird er noch tiefer abgleiten, später wird Danton ihm ins Gesicht sagen können, dass von Rechts wegen sein Bildnis auf jedem französischen Abtritt hängen müsse, später wird er im Konvent seine politischen Gegner »Idioten und Schweine« nennen, in die Debatte das schlichte Wort »Merde« hineinbrüllen und selbst, ein vernachlässigter Unflat, hinabsteigen in die Kellerräume der Gesellschaft und in den finsteren Kotter der Rue école médicine: der einstige Liebhaber der Marquise Laubespine, der 80 Kavalier à la mode, der Mann, dessen Arbeiten späterhin auch einen Goethe bewegten.

Wer gern nach »Komplexen« sucht und für dieses Abgleiten nach dem Gesagten die Akademiker Frankreichs verantwortlich machen will, wird meines Erachtens das Feld der Motive unnötig verengen. Es war eben nicht das eine oder das andere – man wird schon alle empfangenen Zurückweisungen, Kränkungen, Misshandlungen addieren müssen, um das nun anhebende hypokritische Leben des »Ami du Peuple« zu verstehen. Ein Mann von so unbändigem Geltungsbedürfnis drängte nun einmal ans Licht und auf die weithin sichtbaren Gipfel der Gesellschaft. Da aber die Bewohner der oberen Stockwerke ihm den Eintritt verwehrt hatten, was lag wohl näher, als dass er sich an die sowieso in Bewegung gekommenen Bewohner der Kellerräume wandte, um auf den Schultern dieser Unterirdischen sich nach oben tragen zu lassen?

Denn was bleibt, wenn man im Lichte unserer Tage die Ergebnisse der französischen Staatsumwälzung überprüft, eigentlich übrig von dieser in Frankreich noch heute so oft gehörten und im neunzehnten Jahrhundert auch in Deutschland so willig nachgebeteten Legende, nach der diese Revolution »der Menschheit die Freiheit gebracht« hätte? Das Grossbürgertum, seit Renaissancebeginn wohlgeübt im Lösen 81 organisatorischer Aufgaben, löst den vorwiegend auf die Eigenschaften des Mutes und des Gemütes gezüchteten und vor den organisatorischen Notwendigkeiten der Zeit versagenden Adel in der Staatsverwaltung ab – es ist zu Ende des Rokokos weder sittenstrenger noch gesunder, es ist eben nur, weil die Zeit nicht den Florettfechter, sondern den Organisator benötigt, »aktueller« im Sinne der damaligen Zeitwende. Und bei Licht betrachtet schrumpft die Revolution zusammen zu einem Prozess, der diesen auf der politischen Bühne neuerschienenen girondistischen Menschen mit dem Wirtschaftsliberalismus und mit der Möglichkeit beschenkt, sich als Erwerbswesen hinfort frei zu tummeln.

Der wirklich Arme aber – nicht etwa der Bauer, sondern der im Schoss des anhebenden Hochkapitalismus eben erst gezeugte Massenmensch der Städte: entliess die Revolution ihn wirklich freier, als er zuvor unter dem Königtum gewesen war?

Doch wohl kaum! Er hat nach der Verschwörung des Gracchus Baboeuf 1797 genau so gehungert wie unter den Bourbonen, er ist im Vendémiaire von dem jungen Napoleon nicht weniger grausam niederkartätscht worden als im April 1789, da die Grenadiere Ludwigs XVI. die aufbegehrenden Arbeiter von Réveillons Tapetenfabrik zusammengeschossen hatten.

82 Er war, nicht ohne Grund, misstrauisch geworden auf diese Revolution. Er sah, dass, ungeachtet des Terrors, der Reiche noch reicher wurde, dass seine Kutscher, seine Diener, seine Pferde, seine Feste und seine Mätressen denen der Ci-Devant-Marquis nichts nachgaben, und er begann, sich seinen Vers darauf zu machen . . .

Er hat es nicht gewusst, dass das Grossbürgertum den berühmten Bastillesturm, bei dem der Mann der Strasse bluten durfte, auf seine Weise nebenher zu einer an der Londoner Börse gestarteten Baissespekulation in französischen Staatspapieren benützt hatte, er hat nichts gewusst von jenen riesigen Inflationsgewinnen, die das Bankhaus der Gebrüder Frey aus der Assignatenwirtschaft erzielte und an denen es auch den mit den beiden Inhabern verschwägerten Exkapuziner und Konventsdeputierten Chabot kräftig teilhaben liess . . .

Nein, der Sansculottismus hat diese Dinge eben nur geahnt. Er sah, dass Elend eben Elend blieb und dass der noch reicher gewordene Reiche ebenso vergeudete wie der gestürzte Hof . . . er ahnte, dass hier etwas nicht stimmte, und sah sich um nach einem berufsmässigen Enthüller und Entlarver. Er rief, mit einem Wort, nach dem Manne, der »es denen da oben einmal ordentlich sagte«, und suchte sich einen Cato, ohne zu wissen, dass dieser Cato eigentlich selbst 83 nichts anderes war als so etwas wie ein durchgefallener Notabler.

Da er das nicht weiss, so verlangt den Sansculottismus nach Marat, wie Marat den Sansculottismus als Schallempfänger für seine Ausbrüche und Tiraden braucht, die hysterische und . . . ich möchte sagen betrunkene Popularität, die er gegen Ende seines Lebens geniesst, konnte nur durch diese wechselseitige Beziehung zustande kommen. Marat steht innerhalb der neueren Geschichte da als das erste Beispiel jener »Prominenz«, die heilig gesprochen wird durch den namenlosen Massenmenschen und die ein für alle Male den Asphalt braucht, um eine geile, wenn ja auch immer nur sehr kurzlebige Pflanze zu treiben. –

Im Mai 1789 hat man ihn unter den eintausendvierhundert Deputierten der Versailler Ständeversammlung bemerkt, und im Juli, unmittelbar vor dem Bastillesturm, liest Paris unter dem Titel »Avis au peuple ou les ministres dévoilés« eine von Jean Paul Marat verfasste Broschüre, in der er mit dem hungernden Volk kokettiert, immerhin aber »vor allen Gewalttätigkeiten« warnt. Diese Broschüre war eben noch in der tödlichen, in Paris damals allgemein verbreiteten Angst vor der noch unversehrten königlichen Gewalt geschrieben worden. Unmittelbar nach dem Bastillesturm aber sehen wir ihn wieder in einer Mission, die anscheinend keinem revolutionären 84 Literaten erspart bleibt, ein in den Strassen von Paris ratlos umherirrendes Husarenregiment zum Kapitulieren überreden, und gleichfalls in diese zweite Hälfte des Schicksalsjahres 1789 fällt ein höchst persönliches Erlebnis, das symbolisch ist für seine Verwandlung: er lernt jene Frau kennen, die seine Lebensgefährtin wird.

Wo und wie der ehemalige Seladon der Angelika Kauffmann die Fabrikarbeiterin Simonne Evrard und ihre Schwester Cathérine kennenlernte, ist unbekannt – wir wissen nur, dass wir den Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung in jenem schicksalsschweren Spätherbst und den der Regierung naturgemäss verdächtig gewordenen Pamphletisten als Schützling der beiden Mädchen auf dem Dachboden ihrer gemeinsamen Wohnung zu suchen haben.

Es mag immerhin Mut verlangt haben, ihn zu verstecken: damals erschienen die ersten Nummern des »Ami du Peuple«, damals hat er soeben die Nationalversammlung ein »Gremium von Schwätzern und Dummköpfen« genannt und ihr den Rat gegeben, sich schleunigst aufzulösen. Er ist also nicht eben beliebt. Gleichwohl findet er hier einen Unterschlupf, und aus seiner Begegnung mit der Simonne wird dann bald jene phantastische »Eheschliessung«, bei der sie beide, Kinder ihrer Zeit, angesichts der aufgehenden Sonne einander schwören, im Leben und im 85 Sterben sich nicht zu verlassenSimonne Evrard, die sich späterhin immer als »Witwe Marats« bezeichnet, stirbt erst 1817 nach einem Sturz von einer Treppe und überlebt, eine derbe, vierschrötige Frau, Marat mithin um fast fünfundzwanzig Jahre.
    Im Nachlass Marats fand sich übrigens in einer Brieftasche der folgende, am Vorabend einer Englandreise verfasste Zettel:
            »Da die guten Eigenschaften der Fräulein
        Simonne Evrard mein Herz bestrickt haben,
        so hinterlasse ich ihr angesichts einer Reise
        als Unterpfand meine Verpflichtung, ihr unverzüglich
        am Tage meiner Heimkehr die Hand zu reichen.
            Genügt ihr als Bürge meiner Treue mein
        für sie gehegtes Gefühl nicht, so erkläre
        ich hiermit, dass der Bruch dieser Ver-
        pflichtung mich mit ewiger Schande
        bedecken soll.
            Paris am ersten Januar 1792
                                                        Jean Paul Marat.«
    Ob die Simonne diesen Zettel je gelesen hat, ist ebensowenig bekannt wie der Grund, der die Erfüllung eines so feierlichen Versprechens verhindert hat.
. Woher sie dann, die kleine Uhrmachergehilfin, die Mittel nahm, um für vierhundertundfünfzig Livres die gemeinsame Wohnung in der Rue école médicine zu mieten und hinfort sogar die Druckkosten des nicht eben gut gehenden »Ami du Peuple« aufzubringen, lässt sich bislang ebensowenig beantworten wie die Frage, welch geheimnisvoller Geldgeber ihm einst die teure Studienzeit in England bezahlt haben mag. Jedenfalls bezieht man schon jetzt diese Wohnung, in der sich vier Jahre später sein hypokritisches Leben erfüllen wird: ein finsteres und ärmlich möbliertes Gelass, das 86 nicht viel mehr als eine Arbeiterwohnung jener Tage darstellt und ausser Marat und der Simonne auch Marats Schwester AlbertineSie war angeblich mit dem Setzer am »Ami du Peuple«, Corne, verheiratet, doch führt das Zeugenverzeichnis des Corday-Prozesses sie nicht als Madame Corne, sondern auffälligerweise als »Cathérine Evrard, dite Marat la jeune«, auf. und neben der Köchin Jeannette Maréchal auch Cathérine Evrard beherbergen muss, ausserdem aber Tag für Tag auch die mannigfachen mit der Herstellung des »Ami du Peuple« beschäftigten Leute in den engen Räumen sieht.

Dort also, bewacht von diesen vier grimmigen Weibern, haust inmitten alter, auf dem Trödelmarkt erstandener Möbel der ehemalige Hofarzt des Grafen von Artois, und wenn man sich auf die Memoiren der Madame Roland verlassen darf, so ist er schon um diese Zeit jener Unflat geworden, der in schmieriger Lederhose und mit offenem Hemd seinen Besuchern eine seit langem nicht mehr gewaschene Hand ausstreckt und im Interesse seiner Popularität anscheinend alles tut, um diese Vernachlässigung seines Aeusseren noch zu unterstreichen.

Denn je höher nun auf dem Manometer der Revolution der Zeiger des innerpolitischen Druckes klettert, desto mehr gilt er, Jean Paul Marat, nun als Fürsprecher der Allerärmsten, als Wortführer der 87 Unterwelt, als Spezialist für immer neue und immer mehr auf die Nerven gehende Enthüllungs- und Korruptionsskandale. Man kann nicht sagen, dass sein »Ami du Peuple« in Ton und Stil jenen Tiefstand erreichte, auf dem sich mit seinen volkstümlichen Kraftausdrücken Héberts »Père Duchèsne« bewegte – eher war Marats Blatt geschrieben für Intellektuelle, die an Zynismen, an dialektischen Saltos und einem wie Schwefelsäure alles verätzenden Radikalismus sich erlaben wollten. Man soll aber bedenken, dass damals diese Sprache, die hinterher Marat um fast anderthalb Jahrhunderte überlebt hat, etwas Neues, etwas Unerhörtes war, und dass sie von der Menge so gierig aufgenommen wurde wie ein Medikament, das der Kranke zum ersten Male anwendet. So also wütet er – mündlich und im Konvent übrigens noch ärger und gehässiger als daheim auf dem Manuskriptpapier. Geht es hart auf hart, so sind die Gegner Wucherer, Betrüger und vor allem Verräter . . . ein Girondist, der ihn anzugreifen wagt, »hat Schaum vor dem Munde und dürfte von der Hundwut befallen sein« . . . fällt ihm nichts Schlimmeres ein, so zischt das schlichte Wort »Merde« in den Saal . . .

»Des Thrones unwürdiger Mensch, treuloser Verräter, feiger Henker deiner Mitbürger, stelle dich barfuss in einem Aschensack und mit einem Büsserstrick auf die Strasse . . .«

88 Dieser Hassgesang richtet sich 1790 gegen den König, der zwar noch vor einem Jahr »kein Unrecht tun konnte«, jetzt sich aber erlaubt hat, durch seinen General Bouillé die Meuterei des Regiments »Chateaux vieux« mit einiger Energie niederwerfen zu lassen. Jetzt soll »die Stimme des unschuldig vergossenen Blutes ihn stets verfolgen«, es sollen »nachts die Geister der Toten seinen Schlaf stören«. Den alten Verfolgungswahn, in dem er den Misserfolg seiner Bücher auf akademische Verschwörungen zurückführte, er hat ihn nun in die politische Publizität übernommen und sieht nun, was sein Blatt natürlich noch interessanter macht, allenthalben Verschwörungen gegen die Republik, Unterschleife, Skandalaffären . . .

»Oh peuple babbilard . . . oh, du Volk von Schwätzern, könntest du dich doch endlich aufraffen zum Handeln . . .«

Was ihn anbetrifft, so handelt er! Es ist zwar nicht die freimütige Tat des Ungebrochenen, es ist ein unentwegtes Umherschleichen im Halbdunkeln, es ist ein permanentes Bespüren und Beschnüffeln des Gegners, das Hineinmengen der eigenen Hand in jedwedes trübe Spiel. Keine Heereslieferung, in der er nicht den Betrug, keine Reise eines Generals, in der er nicht gegenrevolutionären Verrat witterte, keine Knappheit an Brot, an Seife für die Pariser 89 Waschfrauen, hinter der sich nicht notwendigerweise ein Anschlag »gegen das Volk« verstecken muss! Als Dumouriez in den Wochen nach Valmy sich in Paris aufhält und Talma ihm ein Fest gibt, taucht inmitten der eleganten Gäste in seinem Sansculottenaufzuge Marat auf und stellt, ein ungebetener Befrager, den General wegen etwelcher schlecht behandelter Patriotenkompanien zur Rede. »Ah, c'est vous, qu'on apelle Marat . . . Sie sind also dieser berüchtigte Marat«, sagt Dumouriez und dreht ihm den Rücken. Der Hausherr weist ihm die Tür, irgendeiner der Gäste nimmt eine brennende Ambrakerze und räuchert hinter dem abziehenden Marat her, als müsse er das Haus von einem Schwaden schlechter Luft befreien. Revolutionstoll, wie er nun ist, kontrolliert er an den Wagen der Ci-Devants die Kutschenschläge, ob die ehedem dort angebrachten Wappen nunmehr wirklich ausgetilgt oder nur übermalt sind. Er zetert über Mirabeau, der sich von seinen Lakaien nach wie vor »Herr Graf« nennen lässt, er zetert über die dreihundert Spielhöllen und über alle »Schlupfwinkel der Unzucht«, die es in Paris gibt. Er schilt, sehr zum Gefallen der Sansculotten, alles, was sauber gebürstet oder gar elegant herumläuft, er bemängelt den teuren Aufwand für das Pikenfest und schreibt, sehr zum Gefallen der hungrigen Strassenmegären, dass man mit dem Gelde für alle diese Girlanden, Festons und 90 Kasseoletten Paris in seiner Armut gut und gern einige Tage hätte sättigen können. »Ihr habt ein Recht zu leben wie Louis XVI . . . wer kann sagen, er habe ein Recht zu essen, solange Ihr ohne Brot seid?« Das wird gehört in einem Paris, das wirklich hungert, und langsam gleitet er so, je mehr das Zyklonzentrum dieser Revolution sich nähert, hinein in den blutrünstigen Jargon des Schreckens. »In jedem Lande, wo die Rechte des Volkes nicht leere, auf prunkvollem Papier stehende Versprechungen sind, würde die Plünderung einiger Magazine, vor deren Türen man dann die Wucherer und Ausbeuter hängte, allen Unterschleifen bald ein Ende machen.« So spricht freilich nicht der Terrorist, so spricht eher der Revolutionsliterat, der meist kein Blut mit eigenen Augen sehen kann, anderseits aber »nur zweihundert neapolitanische Bravos benötigt, von denen jeder statt mit einem Muff mit einem Dolch und mit einem Schilde ausgestattet sein müsste«. Alles dies, wohlgemerkt, um »endlich die wahre Revolution zu machen«, nachdem die bisherige Revolution leider ein elendes Theater gewesen ist.

Besessen und käuzisch und verliebt in irgendeine dialektische Wendung wie nur je ein Mann der Feder, versteift er sich auf »zweihundertundsechzigtausend Aristokratenköpfe«, die in Frankreich zur Rettung des Vaterlandes fallen müssten. Alle Augenblicke 91 kommt er mit diesen allbekannten »zweihundertundsechzigtausend« daher, wiederholt die Wendung bei jeder Gelegenheit, bis schliesslich nicht nur seine Widersacher die berühmten »zweihundertundsechzigtausend« belächeln. »Er liess mich zu sich kommen«, schreibt in seinen Memoiren der Girondist Barbaroux, »und ich ging auch wirklich hin und erkannte äusserlich auch meinen alten Lehrer in der Optik wieder. Als ich ihn freilich sprechen hörte, glaubte ich zuerst, er habe den Verstand verloren. Er meinte nämlich wieder einmal, die Franzosen seien miserable Revolutionäre, und er meinte, dass er allein das Mittel zur Aufrichtung der Freiheit kenne . . .«

Und dann fängt Marat, wieder einmal und zu Barbaroux' Erheiterung, von seinen zweihundert Bravos und seinen zweihundertundsechzigtausend Köpfen an und will mit den Bravos, um die bekannte »wirkliche« Revolution zu machen, persönlich und eigenfüssig »Frankreich durchrasen«.

»Er hatte nun einmal«, schliesst Barbaroux diesen Bericht, »eine Vorliebe für diese Zahl, denn seither hat er immer wieder genau zweihundertundsechzigtausend verlangt. Selten ging er auf dreihunderttausend hinauf.«

So populär ihn diese Sprache macht – den Behörden geht sie auf die Nerven. In den ersten beiden »Kerenski-Jahren« der französischen Revolution hat 92 man anfänglich ein gegen ihn zu verhängendes Schreibeverbot erwogen, hat ihm dann angedroht, man werde ihn, wofern er fortfahre in solchen Ausbrüchen, auf einem Wagen der städtischen Latrinenabfuhr durch die Strassen kutschieren. Wegen seiner Broschüre »Das wohlfeile Brot« hat man ihn 1789 vor die konstituierende Versammlung geladen, an der Jahreswende 1791/92 hat er nach England flüchten, nach seiner Heimkehr kurz vor dem Tuileriensturm sich bei der Schauspielerin Fleury, bei dem späteren Konventsdeputierten Saint-Sauveur, ja sogar in Metzger Legendres Eiskellern verstecken müssen. In der improvisierten Kommune gleich nach dem 10. August 1792 erzwingt der Pöbel für ihn zwar einen Ehrensitz – seinen engeren Kollegen aber und sogar seinen Gesinnungsgenossen aus dem Jakobinerklub ist seine lärmende und manische Betriebsamkeit seit jeher auf die Nerven gegangen. Dass Danton sein Bildnis »auf jedem Abtritt Frankreichs« sehen wollte, ist hier schon gesagt worden. Tatsache ist, dass auch Robespierre, bei aller zur Schau getragenen Hochachtung, ihn als arge Belastung des Klubs empfunden und, nicht ohne Eifersucht auf Marats Popularität, seinen Tod mit geheimer Genugtuung begrüsst hat. Dem Klub selbst ist dieses »Maximum des Patriotismus« (ein Spitzname, der von Camille Desmoulins stammt) immer verdächtig vorgekommen, verdächtig nicht 93 nur wegen der monarchistischen VergangenheitDer Vorwurf des geheimen Kokettierens mit der Monarchie hat Marats Leben überdauert. Er wurde übrigens am heftigsten und unverhohlensten geäussert bei der hier schon geschilderten »Depanthéonisierung« im Februar 1795 – notabene von Blättern, die selbst als »monarchistisch« galten., sondern wohl auch, weil am Ende diesem vom Pariser Pöbel vergötterten Menschen ein Streben nach einer Diktatur zuzutrauen war. In einer der ersten dem Tuileriensturm folgenden Konventssitzungen verlangt Danton mit deutlicher Anspielung auf das »Maximum des Patriotismus« die Todesstrafe für alle, die nach solcher Diktatur streben sollten; Marat, der sich von der Tribüne aus verantworten will, wird mit hämischen Bemerkungen empfangen, beginnt zu stottern, schreit schliesslich wütend den fortwährend zwischenrufenden Deputierten die giftige Frage zu, ob hier etwa Feinde von ihm sässen . . .

Und erhält die Antwort: »Alle!«

Völlig um die Besinnung gebracht, schreit er in den Saal, dass in der Tat nur seine Diktatur Frankreich retten könne . . . er entgeht mit genauer Not einer offiziellen Anklage und zieht, als man diese Anklage fallen lässt, auf der Rednertribüne pathetisch eine Pistole: wäre es zu solcher Anklage gekommen, so hätte er »sich eben das Hirn zerschmettert«.

Mit dem Prozess des Königs wächst beides ins Ungemessene – sein Einfluss auf die Pariser Unterwelt 94 und sein irrsinniger Radikalismus. »Geistlichen und Aristokraten«, so verkündet das »Journal de la République«, das nun den »Ami du Peuple« ersetzt hat, »beiden sollte man, um sie sofort zu erkennen, ein Ohr abschneiden.« Wenn nun der auf den Konventsgalerien sich herumlümmelnde Mob die Reden der Abgeordneten mit Zitaten aus Marats Schriften unterbricht, wenn die Deputierten auf der Strasse beleidigt oder tätlich angegriffen werden, so weiss die Gironde jedenfalls, bei wem sie sich für diese Zustände zu bedanken haben wird. »Kein Mensch kann mich verhindern, kraft meines überlegenen Verstandes, Verräter und Rolands zu durchschauen.« Das ist, im alten Marat-Ton, eine rhetorische Probe aus diesem Winter, der ja der letzte seines Lebens war. »Wenn einer Mangel an allem hat, so hat er doch das Recht, einem anderen von dem Ueberfluss fortzunehmen, mit dem er sich vollstopft . . ., um sein Leben zu erhalten, hat er das Recht, fremdes Eigentum anzutasten, um sich dem Druck zu entziehen, hat er das Recht, zu unterdrücken.« Wie wirkte das wohl in einer Stadt, die durch vier Jahre Revolution nicht nur um jedwede Besonnenheit, sondern schliesslich wohl auch um die notwendigsten Vorräte gebracht worden war? Gewiss ist Paris, damals wenigstens, noch nicht Frankreich, wohl aber lässt sich sagen, dass im Augenblick Paris eben Marat ist. Man bedenke, 95 dass es im Februar 1793 in Paris kein Brot, keinen Zucker, keine Butter, kein Fleisch und auch keine Seife, wohl aber in jener lichteren Oberwelt der neuen »hommes d'état« rauschende Feste, extravagante Moden, Luxusfrauen, Kabrioletts, Rennpferde und Jockeis und zu all diesem in der Rue école médicine einen Mann gibt, der immer wieder den Finger auf diese schreienden Gegensätze legt. Er ist nicht gar so oft sichtbar seit der Jahreswende, hässlicher AusschlagSchon 1791 bringt die Zeitung »Orateur du Peuple« folgende Notiz: »Wer da behaupten will, das Vaterland bringe keine Leiden, würde anderer Ansicht werden, wenn er Marat auf dem Krankenlager sähe: gepeinigt von Migräne, zerrissen von heftigem Fieber, mit geschwollenem Kopf, mit Pflastern auf den Schenkeln, ohne die Möglichkeit, auch nur die Stellung zu wechseln.«
    Im Frühjahr 1793 verschlechterte sich dieser Zustand rasch. Naheliegende Schlüsse auf eine Lues sind medizinisch nicht recht zu stützen, die Art der Krankheit bleibt vielmehr rätselhaft.
    Von einer Paralyse oder von Schizophrenie zu sprechen, wie französische Autoren (Nichtärzte!) das vielfach getan haben, erscheint abwegig: die Spuren seines eigenartigen Verfolgungswahnes und der mit ihm verknüpften Uebergeschäftigkeit lassen sich durch mehrere Jahrzehnte verfolgen, ohne dass ein Verfall der Intelligenz oder eine eigentliche »Wahnbildung« nachzuweisen wäre. Fraglos aber wird man zugeben müssen, dass es sich hier um eine jener unglückseligen und missratenen Erbanlagen handelte, die im höheren Alter schwere Stoffwechselstörungen und eine chronische Selbstvergiftung bedingte, die dann ihrerseits ständig das seelische Zustandsbild trüben musste und nicht zuletzt auch die als »Ueberkompensierung« aufzufassenden Ausbrüche der Exaltiertheit verursachte.
    Die bei seinem Morde im Konvent verbreitete Ansicht, er habe sowieso nicht mehr lange leben können, erscheint nachträglich, soweit 150 Jahre zeitlichen Abstandes ein Urteil noch ermöglichen, unbegründet. Nach unserer heutigen Kenntnis solcher Störungen hätte sich der Zustand, sehr zum Leiden der Mitwelt, noch durch viele Jahre hinschleppen können . . .
und furchtbare Kopfschmerzen beginnen ihn zu quälen, er muss strenge Diät halten und muss, um tätig zu sein, sein freudloses, von den vier grimmigen Weibern bewachtes Leben mit Kaffeeorgien hochpeitschen, und im Konvent die Kollegen flüstern sich zu, er sei nun endgültig wahnsinnig geworden, bedeute eine öffentliche Gefahr, müsse unschädlich 96 gemacht werden. So steht es drei Monate nach dem Königsmord. Und im Frühjahr fliegt diese mit dem Sprengstoff des »Maratismus« geladene Mine endlich hoch. –

Im Februar, in einer Zeit tiefsten Mangels und verzweifelter vor den Bäckerläden veranstalteter Brotpolonäsen, hat er jenen schon zitierten Brandartikel veröffentlicht, der alle »Brotwucherer und Betrüger vor ihren Läden aufgehängt« wissen wollte, und da man daraufhin mehrere Lebensmittelgeschäfte vor den Augen der jammernden Besitzer geplündert hat, so sieht die Gironde die Stunde gekommen, wo sie durch eine Anklage wegen Verhetzung der öffentlichen Meinung Marat endlich unschädlich machen kann.

Einen anderen hätte eine Anklage dieser Art immerhin leicht auf die Guillotine gebracht – Marat 97 nimmt die Angelegenheit, von der man im Konvent seit einigen Tagen tuschelt, nicht sonderlich ernst. Zunächst schreibt er den Herren Kollegen, dass er »nicht die mindeste Lust verspüre, sich vom Ungeziefer der Gefängnisse belästigen zu lassen, und dass er sich deswegen an einen sicheren Ort begeben habe«, dann hält er es aber doch für geraten, persönlich zu erscheinen und einer schlimmen Entwicklung zuvorzukommen. Der Konvent hat einen seiner grossen Tage, die Galerien sind überfüllt von jenem Mob, der seit diesem Winter sich in jede wichtige Verhandlung der Deputierten einmischt. Unten steht auf der Rednerkanzel Marat und übertrifft an solchem Tag sich selber: »Wir haben immerhin ein Mittel, diese Reichen in Sansculotten zu verwandeln – man darf ihnen eben nicht so viel lassen, dass sie auch nur den Hintern bedecken können, man muss sie plündern und die gegenwärtigen Sansculotten zu Besitzern ihrer Habe machen.« Das hat er unter dem Beifallsgebrüll der Galerie in den Saal geschrien, er hat es nicht unterlassen können, die Herren von der Rechten des Hauses »Verräter« zu nennen. Pétion von der Gironde springt auf und beantragt die sofortige Ausweisung eines Mannes, der andersdenkende Mitglieder dieses Hauses Verräter tituliere, Marat seinerseits beantragt zu protokollieren, dass »er auf den Antrag Pétions sch . . . .«.

98 Als der Girondist daraufhin einen Beschluss herbeiführen will, der Marat für wahnsinnig erklärt, mischen sich mit Geschrei erneut die Galerien ein, schliesslich aber erzwingt die Gironde, die heute den »letzten Mann« zur Abstimmung bereithält, einen Akt, der gegen Marat in aller Form Anklage erhebt.

Dieses Mal macht er wirklich für vierzehn Tage Bekanntschaft mit der Conciergerie, die sonst das Vorzimmer der Guillotine ist. Er freilich nimmt den Aufenthalt nicht sonderlich tragisch – man hat ihm ein Staatszimmer gegeben, der Untersuchungsrichter ist der nämliche Montané, der vier Monate später den Prozess gegen Marats Mörderin leiten wird. »Bürger, nicht ein Schuldiger, sondern ein Märtyrer der Freiheit steht vor euch.« Sehr schwer hat man ihm offenbar die Verteidigung nicht gemacht, und als er freikommt, äussert er, dass »diese Richter, hätten sie ihn wirklich verurteilt, auf der Strasse sofort gehängt worden wären«. Als er, freigesprochen, die Conciergerie verlässt, erwartet ihn mit Eichenkränzen der Pöbel, umarmt ihn, schleppt ihn auf den Schultern in den Konventsaal zurück, der langbärtige Sappeurunteroffizier Rocher, der ihn trägt, versichert drohend, dass, »wer Marats Kopf haben wolle, erst den seinen sich holen müsse«. Man soll seinen Gegner nicht reizen, wenn man ihn nicht vernichten kann: durch diese fehlgegangene Anklage hat die Gironde 99 jene Erbitterung geschaffen, die ihren späteren Sturz erst ermöglichte. Was nun folgte, musste notwendigerweise zwischen Marat und diesen neuen »Notablen« der Kampf auf Leben und Tod sein.

Es ist nicht Aufgabe dieses Werkes, den Höllensturz dieser Notabilität zu schildern. Der letzte Mai ist es, da ist jener Kessel, unter dem er solange das Feuer schürte, endlich explodiert. Da sind die verhassten Herren der Rechten aus dem Saal gedrängt, da irren sie, geführt von ihrem eleganten Hérault de Sechelles, als verirrte Schafherde herum, da ist Marats grosse Stunde gekommen.

Wissend, dass es wirklich ein Kampf um Sein oder Nichtsein war, hat er sich in den letzten Wochen seit seiner Rehabilitierung wieder einmal verborgen, nun zischt er, wie aus dem Termitenhaufen die wütende Kobra, plötzlich hervor aus seinem Versteck, ist plötzlich zur Stelle, versperrt mit hundert Sansculotten dem Feind den Weg. »Zurück in den Saal.« Und der Feind, zermürbt an Leib und Seele, ist in den Saal zurückgewichen und hat, unter Püffen, Speichelregen und Kleiderzerreissen, über den verlangten Verzicht auf seine Mandate verhandelt . . .

So weit ist es gekommen, und es ist die grosse Stunde seines endlichen Triumphes. »Kein Verzicht, man verhandelt mit Verrätern nicht!« Und als man daraufhin im Saale die Verhaftung der berühmten 100 Zweiundzwanzig von der Gironde diskutiert, gibt es für ihn sogar einen Sondertriumph: jetzt gerade, wo in diesem Saale die Hölle tobt, erscheint eine Deputation von Negern, die gekommen sind, »Marat, den Märtyrer der Freiheit«, zu grüssen.

Sie kommen und führen mit sich ein uraltes Weib, das einhundertundvierzehn Jahre alt ist und elf Kinder geboren hat. Sie kommen mit einer Dankesadresse an ihn, der »so tapfer die Aristokraten bekämpft« . . .

Hergeweht sind sie vom Wahn der Zeit, nach dem alle Völker, Rassen und Menschen einander gleichen, sie glauben an philanthropische Bruderschwüre, an Küsse, die man der ganzen Welt verabfolgt, und an jenen allgemeinen Fortschritt, kraft dessen die Menschen nun ja wohl zu friedfertigen Paradiesbewohnern sich entwickeln werden.

Ja, daran glauben diese Neger aus Martinique. Geküsst wird übrigens auch hier, und den Bruderkuss des grossen, weithin berühmten Volksfreundes Marat empfängt sowohl das alte Weib wie der Anführer dieser schwarzen Abordnung. Und dies ist denn ja wohl der Gipfel seines kranken und elenden Lebens gewesen – im Wirrwarr des Girondesturzes eine kurz bemessene und vielleicht allzu lyrisch geratene Atempause, von der nur wenig Chronisten jenes Schreckenstages etwas berichtet haben. Im übrigen 101 hat sie wohl auch nur ein paar Minuten gedauert und hat am Verlauf des Tages nichts ändern können, und der Lärm der parlamentarischen Schlacht ist gleich wieder aufgelebt, und sie ist geendet mit der gänzlichen Vernichtung des Feindes. Haftbefehl ergeht für die verhasste Zwölferkommission der Gironde, Haftbefehl somit für die Deputierten Lebrun, Clavière, Barbaroux, Guadet, Vergniaud, Lasource, Lanjuinais, Rabaut, Louvet, Gensonné, Buzot und Brissot. Haftbefehl sozusagen für alles, was noch elegante Kleider trägt, in Kutschen fährt, die Haare pudert, Musik und geistvolles Geplauder liebt und' der schönen Frau des Exministers Roland den Hof macht. Das alles bedeutet im Grunde nichts anderes als Vernichtung und Austilgung der Gironde, und vier Monate später, wenn Marat längst tot ist, werden diese Männer, stoisch wie alte Römer, in philosophischen Gesprächen über das Glück der Völker zur Guillotine marschieren, und ihr Tod wird Marats Werk sein, immerhin.

Der Hass aber – dieser Hass des Kranken gegen den Gesunden, er ist schon mit diesem Maitag gestillt, das Lebenshaus, morsch vom Fundament bis zum First, ist immerhin noch zu Ende gezimmert.

Und wenn das Haus fertig ist, kommt bekanntlich der Tod. Bis dahin aber werden, gerechnet vom Tage des Girondesturzes, immerhin noch volle sechs 102 Wochen vergehen, und wir werden sehen, dass diese Wochen ebenso den endgültigen Zerfall wie den Triumph seines Lebens bedeuten.

Seltsames Geschöpf, missraten schon in Keim und Mutterschoss, vollgestopft mit solchen Widersprüchen, dass der Nachgeborene, der die Dokumente dieses Lebens liest, schaudernd sich fragt, weswegen Gott wohl solche Kreatur schuf! Im Januar war es, da kam während des Königsprozesses die Schauspielerin Fleury, um für Ludwigs Leben beim bösen, grimmigen Marat zu bitten – er hat die auf dem Boden vor ihm Liegende damals aufgehoben mit der Mahnung, dass man nur vor Gott knie, er hat ihr gar gestanden, dass »er ihn selbst tief bedaure, den Sturz der Könige von Frankreich«, und hat dann zu der Weinenden noch ein Wort gesprochen, so furchtbar und schneidend wie an der Guillotine die Axt . . .

»Ich bin die Strafe Gottes.«

Das also sagte er zur Fleury vor fünf Monaten, und nie hat ein Sterblicher sich so mit einem Wort gerichtet, und nirgends gibt es in allen Marat-Briefen und -Dokumenten ein Wort, das so wie dieses Licht wirft auf ihn und auf diese letzten sechs Wochen, in denen sein hypokritisches Leben sich vollendet. Denn jetzt, nach dem Sturz der Gironde und dem Sieg über alle Notabilitäten, jetzt hat er solch weiche Stunde nicht mehr. Er ist jetzt ausgereift, ist Sieger 103 und ist doch schon umrauscht von den Fittichen des Todes. Nach dem Sturz der Reichen gilt er dem Sansculottismus noch weit mehr, er ist ihm der allgewaltige Volksheld, er ist den hungrigen Weibern von St. Antoin der einzige verlässliche Freund der Armen geworden. So ist er, zum Schluss, doch so etwas wie ein mächtiger, gesuchter Mann. Bittsteller belagern die Tür, Deputationen aus entfernten Provinznestern kommen, und es kommen, um Royalisten anzugeben und geheime Verschwörungen der Gegenrevolution aufzudecken, Denunzianten und Kuriere.

Er hat eine Korrespondenz zu bewältigen, wie sie ihm nie zuvor ins Haus gebracht wurde, dabei ist er nun ernstlich krank, muss den Juckreiz, der von diesem bösartigen Ausschlag kommt, mit Dauerbädern bekämpfen; muss Essigwickel um den schmerzenden Schädel legen und mit noch stärkerem Kaffee als zuvor die schlaffen Nerven aufpeitschen . . .

Aber er wacht.

Nie hat er so selbstmörderisch gearbeitet, nie ging diese halbzerbrochene Maschine auf so hohen Touren wie eben jetzt, da doch der Tod schon unterwegs ist, die Korrespondenz mit den Tochtergesellschaften des Klubs ist zu erledigen, Bittgesuche müssen beschieden und an die Behörden weitergeleitet werden, die, so sagt es ihm wenigstens sein verfolgungswahnsinniges Hirn, auch jetzt von Verrätern wimmeln.

104 Peinliche Korrespondenzen führt er mit dem Konvent, in dem er nicht mehr erscheinen kann und der anscheinend heilfroh ist, den lästigen Schreier los zu sein . . .

»Meine entzündliche Erkrankung, als Folge aller Mühen, mit denen ich mich zur Verteidigung der Freiheit ohne Unterlass seit vier Jahren unterzogen habe, belästigt mich seit fünf Monaten und hält mich heute im Bett. Bei der Unmöglichkeit, im Konvent zu erscheinen, muss ich um Lektüre der beigeschlossenen Anlage bitten. Diese Lektüre wird Sie dann sicherlich sehr bald von der Notwendigkeit überzeugen, den Bürger ChalierDer Jakobiner Chalier haderte in dem girondistischen Lyon mit dem Maire und begab sich nach Paris, um eine Strafexpedition gegen die Stadt zu erwirken. Nach seiner Heimkehr schickte Lyon ihn auf die Guillotine. sofort vor die Konventsbarre zu zitieren, nicht nur, um ihn der Raserei der Lyoneser Aristokraten zu entziehen, sondern auch, um uns Unterlagen über die ständigen Unruhen in dieser Stadt zu verschaffen. Ich verlange beschleunigte Erledigung, ich verlange ferner einen Erlass des gleichen Dekretes für Lyon, wie es für Marseille bereits erlassen worden ist. Schliesslich verlange ich, dass in der ganzen Republik die Permanenz der Sektionen verboten wird, da die 105 Reichen, die Intriganten und Uebelwollenden in hellen Haufen in die Sektionen eintreten, sich ihrer bemächtigen und sich auf diese Weise Waffen gegen die Freiheit verschaffen, während die Journalisten, Arbeiter, Künstler, Krämer und Bauern . . . kurz die ganze von ihrer täglichen Arbeit lebende Masse gar nicht mittun kann, um die von den Freiheitsfeinden drohende Gefahr abzuwenden.

Schon vor zwölf Tagen habe ich diese Massnahme dem öffentlichen Wohlfahrtsausschuss empfohlen. Er kennt die Wichtigkeit und versprach Bericht.

Ich kenne die Ursache seines Schweigens nicht.

Jean Paul Marat
Deputierter.«  

Ich verlange . . . ich verlange .  . . ich verlange. Dem Konvent geht dieses ewige Verlangen auf die Nerven, da Marat von Tag zu Tag mehr verlangt! Er verlangt den Kopf des Generals Ligonnier, der in der Vendée geschlagen ist, er will, dass man die im Ausland lebenden Bourbonen durch gedungene Meuchelmörder verfolge, er setzt für die Armee schwarze Listen durch, auf die die Namen aller Verdächtigen und Unsicheren kommen. Welche Uebergeschäftigkeit selbst jetzt, an der Schwelle der Todespforte, welch reptilienhaftes Umsichbeissen und welche mit 106 Furcht und Hysterie vermischte Anmassung! Da der Konvent sich weigert, die verhafteten Girondisten sofort und ohne Prozess zu bestrafen, wünscht er seine Beziehungen zu einem so lässig verfahrenden Parlament zu lockern und erklärt sich selbst für suspendiert, und da der Konvent dieses Schreiben keiner Antwort würdigt, schreibt er von seiner Badewanne aus Brief auf Brief . . .

»Seit den Tagen meiner Suspension habe ich dem Konvent mehrfach geschrieben und mehrfach in allerwichtigster Sache zweckdienliche Massnahmen vorgeschlagen. Meine Briefe werden nicht einmal gelesen . . . noch gestern hatte ein an den Präsidenten gerichtetes Schreiben das gleiche Schicksal. So rufen denn die Gefahren des Vaterlandes mich auf meinen Posten zurück, und ich erkläre, dass ich meine Obliegenheiten wieder aufnehme.«

Will sagen, er nahm diese »Suspension« wieder zurück und wollte wieder erscheinen. Aber er kam nicht wieder. Der Konvent las, nachdem es bei der Verlesung der obenerwähnten Anträge Skandalszenen gegeben hatte, seine Briefe erst recht nicht mehr vor, er schickte allenfalls von Zeit zu Zeit Abordnungen, um sich »nach dem Befinden seines lieben Bruders Marat« zu erkundigen . . .

107 Und so wird die Luft um ihn eisig und dünn. Die vier Weiber, die ihn bewachen, ahnen wohl, dass der Tod ums Haus schleicht, sie bewachen argwöhnischer denn je die Tür. Er selbst hört wohl davon, dass ein Rest der girondistischen Abgeordneten nach Caen entkommen ist und dass dort Pétion und Barbaroux, sein ehemaliger Schüler in der Optik, eine gegenrevolutionäre Freiwilligenarmee gegen Paris sammeln. »Vielleicht«, so notiert er bitterlich in seinem Journal, »vielleicht kommen sie und schauen sich den Diktator Marat an! Was werden sie denn finden? Einen armen Teufel, der, bettlägerig wie er ist, alle Würden der Erde hergäbe für ein paar gesunde Tage und freilich auch jetzt hundertmal mehr mit den Leiden des Volkes als mit seiner Krankheit beschäftigt ist.«

Das schreibt er zehn Tage vor seinem Tode nieder, während in Caen die Corday sich das Billett für die Mordfahrt nach Paris besorgt – wie wir noch sehen werden. Inzwischen bringen die Pariser Blätter Alarmnachrichten von einer ernsten Wendung in seinem Befinden, die Cordeliers schicken ihrem Ehrenpräsidenten gar eine Abordnung, die ihn kniefällig und unter Tränen um Schonung und Rücksichtnahme auf sein leibliches Wohl bittet. »Wir fanden ihn«, erzählt hinterher der Deputierte von der Yonne, Maure, »wir fanden ihn also im Bade, 108 Tisch, Tintenfass und Zeitungen auf einem Brettchen vor sich, fanatisch verbohrt in seine Sorge um die Republik. Es ist nicht so sehr diese Krankheit, es ist vielmehr ein gut Teil ekstatischer Patriotismus, der seinen dürftigen Körper zerstört, und nichts anderes tötet ihn als seine furchtbaren Ueberanstrengungen.«

So also sieht es aus gegen das Ende! Musterschüler, Hauslehrer, Augen- und Blasendoktor, Psycholog, Optiker und Elektrotherapeut, Hof- und Modearzt und Galan zarter Hofdamen, behinderter Royalist und behinderter Gelehrter und zum Schluss behinderter Schreckensmann, den die wirklichen Praktiker des Schreckens nicht recht für ernst nehmen wollen und der auf diese Weise beides ist: tragisch und komisch zugleich.

Und damit mag es ein Ende haben mit dieser Erörterung, die notwendigerweise zuerst ihm allein gelten musste. Denn wie hätte ich wohl die Mörderin und ihre Tat verständlich machen sollen, ohne sein Lebensbild und seine Bedeutung für die Revolution zu zeichnen, und wie wäre ich wohl dem Vorwurf der Ungerechtigkeit und des Schematismus entgangen, hätte ich nicht so weit ausgeholt und dieses Bild befreit von der konventionellen Uebertünchung des neunzehnten Jahrhunderts?

Was davon bleibt, ist für die Augen des nachdenklichen Betrachters schlimm genug – ja, es ist am 109 Ende schlimmer als jenes überlieferte Terroristenporträt. Es ist mir gar nicht zweifelhaft, dass dieser Mann, wie so mancher, der täglich die Schreibfeder in Blut taucht, ein wirkliches Blutvergiessen persönlich gar nicht hätte ansehen können, und es ist gut, von Zeit zu Zeit sich daran zu erinnern, dass der eigentliche Schrecken ja erst nach seinem Tode begann. Als man gedankenlos ihn immer mit den eigentlichen Schreckensmännern in einem Atem nannte, hat man das Gefährliche bei ihm dort vermutet, wo es gar nicht vorhanden war, und hat es folgerichtig dort übersehen, wo es de facto lauerte. Denn ein Terrorist des Hirnes kann unter Umständen sich weit schlimmer auswirken als einer, der die Hand tatsächlich am Hebel der Guillotine hält.

Mit seinem manischen »Denken um jeden Preis« ist er nicht nur einer von jenen grossen Intellektualisten, die mit dem unabänderlichen Hang zur Analyse den auf Irrationale und Mystik gestimmten Geschichtsablauf des Abendlandes stören . . .

Er ist zugleich der erste jener Pamphletisten, die als Produkte und als Stimmführer des Mobs den Asphalt für das Mass aller menschlichen Dinge halten und nichts so hassen, wie samt allen seinen Auswirkungen jenes ungeschriebene Gesetz der Landschaft, das die Geschichte steuert. Als er starb, gab es zwei Frankreichs. Das eine war französisch und bestand 110 aus der gesamten Provinz. Das andere war maratistisch und beschränkte sich im wesentlichen auf Paris.

Er ist als Mensch nirgends gross . . . grosse Männer leben, auch wenn sie in breitester Oeffentlichkeit wirken, in schaurigen Einsamkeiten . . . er ist lediglich das, was man gestern »prominent« genannt hätte. Ja, er ist mit seinem brennenden Geltungsbedürfnis, das als Schallempfänger immer die Masse braucht, wirklich, wie ich einmal schon sagte, das erste Beispiel der Prominenz. Nur so ist der hysterische Ausbruch nach seinem Tode, nur so ist, da Prominenz ja doch eine höchst vergängliche Blüte bleibt, dieser schaurige Kloakensturz vier Monate nach seiner Panthéonisierung zu verstehen.

In ruhigen Zeiten, etwa um 1880, wäre er sicher ein gefürchteter Oppositionsführer geworden, er hätte es um 1920 in gewissen, für Leute seines Schlages gleichsam geschaffenen Weltstädten Europas als Publizist, Politiker oder Gelehrter fraglos zu einer geradezu phantastischen Boulevardberühmtheit gebracht.

Inmitten einer Revolution aber war er mit allen Farben, in denen er schillerte, mit all seiner Polypragmasie, seiner widerspruchsvollen Ideenwelt und mit seiner gewalttätigen Menschenliebe eine ungeheuerliche Gefahr. Er war, wie die rätselhafte Natur 111 ihn nun einmal geschaffen hatte, nicht so der Keim eines heftigen politischen Fiebers, das über eine Krise hinweg zur Genesung führen kann . . .

Er war mit seinem wachsenden Einfluss ein Abszess, an dem auf die Dauer ein ganzes Land verfault wäre – Frankreich hatte die Wahl, duldend zu verwesen oder in blutiger Operation ihn abzustossen.

So stiess es ihn ab.

Was sich im Juli 1793 in der Rue école médicine vollzog, war kein Anschlag, hinter dem eine weitverzweigte Verschwörung sich verbarg, es entsprang nicht einmal einem lange und besonders sorgfältig vorbereiteten Plane. Es war ein reflektorisches Abschütteln . . . triebhaft wie der Griff der Hand, die im letzten Augenblick den stichbereiten Skorpion auch ohne bewusste Ueberlegung fortschleudert. Ja, das war es.

Die Geschichte aller Nationen kennt solches Reagieren, es hat in irgendeinem Winkel der Geschichte eine jede ihren Harmodios und ihren Tell, und es hatte in entscheidender Stunde auch Frankreich wieder seine legendäre Helferin.

Im Grunde war es nämlich wieder Jeanne d'Arc, die erschien, in letzter Stunde ihr Haus vor der Zerstörung durch einen von der Kette gekommenen bösen grossen Affen zu retten.

 


 


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