Heinrich Wölfflin
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Heinrich Wölfflin

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III. Geschlossene Form und offene Form

(Tektonisch und atektonisch)

Malerei

1.
Allgemeines

Jedes Kunstwerk ist ein Geformtes, ein Organismus. Sein wesentlichstes Merkmal ist der Charakter der Notwendigkeit, daß nichts geändert oder verschoben werden könnte, sondern alles so sein muß, wie es ist.

Allein wenn in diesem qualitativen Sinne von einer Landschaft des Ruysdael ebensogut wie von einer Komposition Raffaels gesagt werden kann, sie sei etwas absolut Geschlossenes, so bleibt doch der Unterschied, daß dieser Charakter der Notwendigkeit da und dort auf verschiedener Grundlage gewonnen worden ist: im italienischen Cinquecento ist ein tektonischer Stil seiner höchsten Vollendung entgegengetrieben worden, im holländischen 17. Jahrhundert ist es der freie atektonische Stil, der für Ruysdael als einzig mögliche Darstellungsform existierte.

Es wäre zu wünschen, daß es ein besonderes Wort gäbe, um eindeutig die geschlossene Komposition im qualitativen Sinne zu unterscheiden von der bloßen Grundlage eines tektonisch gearteten Darstellungsstils, wie wir ihn im 16. Jahrhundert haben und dem atektonischen des 17. Jahrhunderts gegenüberstellen. Wir nehmen trotz dem unerwünschten Doppelsinn die Begriffe geschlossene und offene Form in den Titel auf, weil sie in ihrer Allgemeinheit das Phänomen doch besser bezeichnen als tektonisch und atektonisch, und wieder bestimmter sind als die ungefähr synonymen wie streng und frei, regulär und irregulär und dergleichen.

Gemeint ist eine Darstellung, die mit mehr oder weniger tektonischen Mitteln das Bild zu einer in sich selbst begrenzten Erscheinung macht, die überall auf sich selbst zurückdeutet, wie umgekehrt der Stil der offenen Form überall über sich selbst hinausweist, unbegrenzt erscheinen will, obwohl eine heimliche Begrenzung immerfort da ist und eben den Charakter der Geschlossenheit im ästhetischen Sinne möglich macht.

Vielleicht daß jemand den Einwurf macht: Der tektonische Stil sei immer der Stil der Feierlichkeit und man werde zu allen Zeiten nach ihm greifen, sobald die Absicht auf eine getragene Wirkung vorliege. Darauf wäre 131 zu sagen, daß allerdings der Eindruck des Feierlichen sich gern an die bestimmt geoffenbarte Gesetzmäßigkeit hängt; die Tatsache, um die es sich hier handelt, ist aber die, daß es dem 17. Jahrhundert auch bei gleicher Stimmungsabsicht nicht mehr möglich ist, auf die Formen des Cinquecento zurückzugreifen.

Überhaupt darf man den Begriff der geschlossenen Form sich nicht nur mit der Erinnerung an höchste Hervorbringungen strenger Form vergegenwärtigen wollen, wie die Schule von Athen es ist, oder die Sixtinische Madonna. Vergesse man doch nicht, daß solche Kompositionen auch innerhalb ihrer Zeit einen besonders strengen tektonischen Typ darstellen und daß daneben immer eine freiere Form vorkommt, ohne geometrisches Rückgrat, die ganz ebensogut als »geschlossene Form« in unserem Sinn zu gelten hat: Raffaels Wunderbarer Fischzug zum Beispiel oder die Mariengeburt des Andrea del Sarto in Florenz. Man muß den Begriff weit fassen, so weit, daß auch noch die nordischen Bilder Platz finden, die schon im 16. Jahrhundert gern nach der Seite des Freien ausschlagen und doch in ihrer Gesamterscheinung sich von dem Stil des folgenden Jahrhunderts sehr deutlich abheben. Und wenn etwa Dürer in seiner »Melancholie« von dem Eindruck geschlossener Form im Interesse der Stimmung absichtlich sich entfernen möchte, so ist selbst hier die Verwandtschaft mit Zeitgenössischem immer noch größer als die Verwandtschaft mit Stücken des Stils der offenen Form.

Was allen Bildern des 16. Jahrhunderts eigentümlich ist: daß die Vertikale und die Horizontale als Richtungen nicht nur da sind, sondern daß ihnen eine herrschende Rolle zugewiesen ist. Das 17. Jahrhundert vermeidet es, diese elementaren Gegensätze laut werden zu lassen. Sie verlieren, auch wo sie tatsächlich noch rein vorkommen, ihre tektonische Kraft.

Die Bildteile ordnen sich im 16. Jahrhundert um eine mittlere Achse oder, wo diese nicht vorhanden ist, doch im Sinne eines vollkommenen Gleichgewichtes der Bildhälften, das, nicht immer leicht zu definieren, durch den Gegensatz der freieren Ordnung des 17. Jahrhunderts für das Gefühl doch sehr bestimmt faßbar wird. Es ist ein Gegensatz, wie ihn die Mechanik mit den Begriffen stabiles und labiles Gleichgewicht bezeichnet. Gegen die Festlegung einer mittleren Achse aber hat die darstellende Kunst des Barock die entschiedenste Abneigung. Die reinen Symmetrien verschwinden oder werden durch Ungleichgewichtigkeiten aller Art unscheinbar gemacht.

Dem 16. Jahrhundert war es natürlich, sich in der Bildfüllung nach der 132 gegebenen Fläche zu richten. Ohne daß damit ein bestimmter Ausdruck erreicht werden soll, ordnet sich der Inhalt innerhalb des Rahmens derart, daß der eine für den andern da zu sein scheint. Randlinien und Eckwinkel werden als verbindlich empfunden und klingen nach in der Komposition. Im 17. Jahrhundert hat sich die Füllung dem Rahmen entfremdet. Man tut alles, um den Eindruck zu vermeiden, daß diese Komposition gerade für diese Fläche erfunden worden sei. Trotzdem eine versteckte Kongruenz natürlich fort und fort wirksam ist, soll das Ganze mehr als ein zufälliger Ausschnitt aus der Sichtbarkeit erscheinen.

Schon die Diagonale als Hauptrichtung des Barock ist eine Erschütterung der Tektonik des Bildes, indem sie die Rektangularität der Bühne negiert oder doch verdunkelt. Die Absicht auf das Nichtgeschlossene, Zufällige hat dann aber die weitere Folge, daß auch die sogenannten »reinen« Ansichten der entschiedenen Front und des entschiedenen Profils zurücktreten. Die klassische Kunst hatte sie in ihrer elementaren Kraft geliebt und gern als Gegensätze herausgearbeitet, die Kunst des Barock vermeidet es, die Dinge in diesen Uransichten sich verfestigen zu lassen. Wo sie etwa noch vorkommen, wirken sie mehr zufällig als gewollt. Es liegt kein Akzent mehr darauf.

In letzter Instanz aber geht die Neigung überhaupt dahin, das Bild nicht als ein für sich bestehendes Stück Welt erscheinen zu lassen, sondern als ein Schauspiel, das vorübergeht und an dem der Beschauer nur gerade auf einen Augenblick teilzunehmen das Glück hat. Nicht um Vertikalen und Horizontalen, um Front und Profil, Tektonik und Atektonik handelt es sich letzten Grundes, sondern darum, ob die Figur, das Bildganze als Sichtbares gewollt erscheint oder nicht. Das Aufsuchen des vorübergehenden Augenblicks in der Bildfassung des 17. Jahrhunderts ist auch ein Moment der »offenen Form«.

 

2.
Die Hauptmotive

Versuchen wir diese Leitbegriffe mehr ins Einzelne auseinanderzulegen.

1. Die klassische Kunst ist eine Kunst der ausgesprochenen Horizontalen und Vertikalen. Die Elemente werden in voller Klarheit und Schärfe augenscheinlich gemacht. Ob es sich um ein Porträt handelt oder um eine Figur, um eine Historie oder um eine Landschaft, immer ist das Bild von dem Gegensatz des Senkrechten und des Wagrechten durchwaltet. An der reinen Urform werden alle Abweichungen gemessen.

Demgegenüber hat der Barock die Neigung, diese Elemente zwar nicht zu unterdrücken, aber doch in ihrer offenen Gegensätzlichkeit zu verhüllen. 133 Ein allzu deutliches Durchscheinen des tektonischen Gerüstes wird von ihm als starr empfunden und der Idee einer lebendigen Wirklichkeit widersprechend.

Das vorklassische Jahrhundert ist ein unbewußt tektonisches Zeitalter gewesen. Man spürt überall das Netz des Vertikalismus und Horizontalismus, aber die Neigung der Zeit ging eher dahin aus diesen Maschen sich heraus zu wickeln. Es ist merkwürdig, wie wenig Verlangen nach einer entschiedenen Wirkung der Richtungen diese Primitiven gehabt haben. Auch wo die Senkrechte rein vorkommt, spricht sie nicht mit Nachdruck.

Wenn man nun dem 16. Jahrhundert ein starkes Gefühl für Tektonik nachsagt, so heißt das nicht, daß jede Figur – nach dem volkstümlichen Ausdruck – einen Ladstock im Rücken haben müßte, aber im Bildganzen lebt die Vertikale als Dominante und die Gegenrichtung spricht ebenso klar. Die Richtungsgegensätze wirken faßbar und entschieden, auch wo nicht der extreme Fall einer Begegnung im rechten Winkel vorliegt. Es ist typisch, wie fest eine Gruppierung von Köpfen mit verschiedenen Neigungswinkeln sich bei den Cinquecentisten darstellt und wie dann das Verhältnis mehr und mehr ins Atektonisch-Unmeßbare übergeführt wird.

Und so braucht die klassische Kunst die reinen Ansichten der Front und des Profils durchaus nicht als die ausschließlichen, aber sie sind da und bezeichnen für das Gefühl die Norm. Nicht das ist das Wichtige, wie groß der Prozentsatz reiner Frontansichten im Porträt des 16. Jahrhunderts gewesen sei, sondern daß die Front einmal für Holbein etwas Natürliches sein konnte und für Rubens etwas Unnatürliches war.

Diese Ausschaltung der Geometrie verändert natürlich die Erscheinung auf allen Gebieten. Für den klassischen Grünewald war der Lichtschein, der seinen auferstehenden Christus umgibt, selbstverständlich ein Kreis, Rembrandt hätte bei gleicher Absicht auf Feierlichkeit auf diese Form nicht zurückgreifen können, ohne archaistisch zu wirken. Die lebendige Schönheit haftet nicht mehr an der begrenzten, sondern an der unbegrenzten Form.

Für die Geschichte der farbigen Harmonie läßt sich ein Gleiches nachweisen. Die reinen farbigen Kontraste kommen im gleichen Augenblick, wo die reinen Richtungskontraste erscheinen. Das 15. Jahrhundert hat sie noch nicht. Erst allmählich, parallel mit dem Prozeß der Festigung des tektonischen Linienschemas, kommen die Farben heraus, die als Komplemente sich gegenseitig steigern und dem Bild eine feste koloristische Basis geben. Mit der Entwicklung in den Barock bricht sich dann auch hier die Kraft 134 der unmittelbaren Gegensätze. Die reinen Farbkontraste können wohl noch vorkommen, aber das Bild ist nicht darauf aufgebaut.

2. Die Symmetrie ist auch für das 16. Jahrhundert nicht die allgemeine Kompositionsform gewesen, allein sie hat sich leicht eingestellt und wo sie nicht im greifbaren Sinne ausgebildet wurde, finden wir doch immer ein deutliches Gleichgewicht der Bildhälften; das 17. Jahrhundert hat dieses stabile Verhältnis des Gleichgewichtes in ein labiles umgesetzt, die Bildhälften werden sich unähnlich und die reine Symmetrie wird vom Barock nur noch innerhalb der gebundenen Sphäre der architektonischen Form als natürlich empfunden, während die Malerei sie völlig überwindet.

Wo von Symmetrie die Rede ist, da denkt man zunächst an die Feierlichkeit der Wirkung: jede Absicht auf monumentalere Erscheinung wird nach ihr verlangen, während sie einer profanen Gesinnung unerwünscht bleibt. Zweifellos ist sie in diesem Sinne als Ausdrucksmotiv immer verstanden worden, aber es ergibt sich doch ein Unterschied des Zeitalters. Das 16. Jahrhundert hat auch die freibewegte Szene der Symmetrie unterwerfen dürfen, ohne Gefahr, tot zu wirken, das 17. beschränkt die Form auf die wirklichen Momente der Repräsentation. Was aber wichtiger ist: auch dann bleibt die Darstellung eine atektonische; gelöst von der gemeinsamen Grundlage mit der Architektur verkörpert die Malerei Symmetrie nicht an sich, sondern gibt sie nur als eine gesehene und in der Ansicht so oder so verschobene. Es können symmetrische Anordnungen dargestellt sein, das Bild selbst ist nicht symmetrisch aufgebaut.

Im Ildefonsoaltar des Rubens (Wien) gruppieren sich die heiligen Frauen allerdings zu zwei und zwei neben der Maria, aber die ganze Szene ist in Verkürzung gesehen und damit wird das an sich Gleichförmige doch für das Auge ungleich.

Rembrandt hat für das Abendmahl von Emmaus (Louvre) die Symmetrie nicht missen wollen und Christus sitzt genau in der Mitte der großen Nische der Rückwand, aber die Achse der Nische fällt nicht zusammen mit der Achse des Bildes, das nach rechts hin breiter ist als nach links.

Reliefkopie von Raffaels Disputa

Wie stark sich die Empfindung gegen das Rein-Symmetrische sträubt, sieht man endlich sehr gut an jenen einseitigen Anstückungen, die der Barock da und dort an Bildern des gleichgewichtigen Stils vorzunehmen beliebt hat, um sie lebendiger zu machen. Die Galerien sind nicht arm an solchen BeispielenVgl. Münchner Pinakothek 169: Hemessen, Wechsler (1536) mit der angestückten großen Figur eines Christus aus dem 17. Jahrhundert.. Wir zitieren hier den noch merkwürdigern Fall einer 135 barocken Reliefkopie von Raffaels Disputa, wo der Kopist einfach eine Hälfte kürzer als die andere gezeichnet hat, trotzdem die klassische Komposition gerade von der absoluten Gleichheit der Teile zu leben scheint.

Auch hier hat das Cinquecento das Schema nicht als ein fertiges Erbe von seinen Vorgängern übernehmen können. Die strenge Gesetzlichheit ist nicht eine Eigenschaft der primitiven Kunst, sondern erst der klassischen. Im Quattrocento wird sie nur lax angewendet oder kommt, wo sie rein auftritt, doch nur zu einer laxen Wirkung. Symmetrie und Symmetrie ist nicht immer dasselbe.

Erst in Lionardos Abendmahl ist durch Isolierung der einen Mittelfigur und gegensätzlicher Behandlung der Seitengruppen die Form der Symmetrie wirklich lebendig geworden. Die älteren Darsteller lassen Christus entweder überhaupt nicht als Zentralfigur erscheinen oder doch wenigstens als solche nicht wirksam werden. Und so ist es auch im Norden. Im Löwener Abendmahl des Dirk Bouts sitzt Christus wohl in der Mitte, und die Mitte des Tisches ist auch die Mitte des Bildes, aber es fehlt der Anordnung die tektonische Kraft.

In anderen Fällen aber ist die reine Symmetrie überhaupt nicht erstrebt. Botticellis Primavera ist nur scheinbar ein symmetrisches Bild, die 136 Zentralfigur steht nicht in der Mitte, und ebenso ist es mit Roger van der Weydens Anbetung der Könige (München). Es sind Zwischenformen, die wohl wie die spätere entschiedene Asymmetrie dem Eindruck der lebendigen Bewegung dienen sollten.

Auch bei Kompositionen ohne ausgebildete Mitte ist das Gleichgewichtsverhältnis im 16. Jahrhundert ein gefühlteres als früher. Es scheint nichts Einfacheres und für die primitive Empfindung Natürlicheres zu geben, als das Nebeneinander von zwei gleichwertigen Figuren, und doch haben Bilder wie das Geldwäger-Ehepaar des Massys (Louvre) keine Parallelen in der archaischen Kunst. Die Maria mit dem hl. Bernhard vom Meister des Marienlebens (Köln) zeigt den Unterschied: Es bleibt hier für den klassischen Geschmack immer ein Rest von Ungleichgewichtigkeit.

Der Barock aber betont dann mit Bewußtsein die eine Seite und schafft damit, da das wirklich Ungleichgewichtige für die Kunst ausscheidet, das Verhältnis des schwebenden Gleichgewichts. Man muß Doppelbildnisse des Van Dyck mit ähnlichen Stücken bei Holbein oder Raffael vergleichen. Immer ist, oft mit ganz unscheinbaren Mitteln, die Gleichwertigkeit der Erscheinung aufgehoben. Auch da, wo es nicht zwei Bildnisköpfe, sondern etwa zwei Heilige sind, wie die zwei Johannes des Van Dyck (Berlin), die sachlich gewiß nicht verschieden gewertet sein sollten.

Jede Richtung bekommt im 16. Jahrhundert ihre Gegenrichtung, jedes Licht, jede Farbe ihre Ausgleichung. Der Barock gefällt sich im Überwiegenlassen der einen Richtung. Farbe und Licht aber sind so verteilt, daß nicht ein Verhältnis der Sättigung, sondern ein Verhältnis der Spannung resultiert.

Auch die Klassik duldet die Schrägbewegung im Bild. Wenn aber Raffael im Heliodor von einer Seite her schräg nach der Tiefe hineingeht, so geht er auf der andern auch wieder schräg aus der Tiefe heraus. Die spätere Kunst macht die einseitige Bewegung zum Motiv. Und so verschieben sich die Lichtakzente im Sinne des aufgehobenen Gleichgewichts. Ein klassisches Bild erkennt man von weitem an der Art, wie die Helligkeiten gleichmäßig über die Fläche verteilt sind, wie dem Lichten des Kopfs zum Beispiel in einem Porträt das Lichte von Händen das Gleichgewicht halten. Der Barock rechnet anders. Ohne den Eindruck der Störung zu erwecken, kann er sein Licht auf eine Seite werfen, nur der lebendigen Spannung zuliebe. Die gesättigten Verteilungsarten sind ihm das Tote. Das stille Flußbild mit der Ansicht von Dordrecht von van Goyen (Amsterdam), 137 wo die höchste Helligkeit ganz am einen Rande sitzt, enthält damit eine Lichtanordnung, die dem 16. Jahrhundert auch da nicht zugänglich gewesen wäre, wo es etwa die leidenschaftliche Erregung als Ausdruck gesucht hätte.

Als Beispiele des verschobenen Gleichgewichtssystems im Kolorit seien Fälle genannt wie die Andromeda des Rubens (Berlin), wo eine leuchtende Masse Karmin – der abgeworfene Mantel – als starker asymmetrischer Akzent unten in der rechten Ecke sitzt oder die badende Susanna des Rembrandt (Berlin) mit dem weithin wirkenden kirschroten Kleid ganz am Rande rechts: hier ist die exzentrische Anordnung mit Händen zu greifen. Aber man wird auch bei weniger auffallenden Dispositionen die Wahrnehmung machen, daß der Barock dem satten Eindruck der klassischen Kunst durchaus aus dem Wege geht.

3. Im tektonischen Stil nimmt die Füllung Bezug auf den gegebenen Raum, im atektonischen wird das Verhältnis zwischen Raum und Füllung ein scheinbar zufälliges.

Ob das Feld rechtwinklig sei oder rund: man findet im klassischen Zeitalter den Grundsatz befolgt, die gegebenen Bedingungen zum Gesetz des eigenen Willens zu machen, das heißt das Ganze so erscheinen zu lassen, als ob diese Füllung gerade für diesen Rahmen da wäre und umgekehrt. Mit gleichlaufenden Linien bereitet man auf den Abschluß vor und befestigt die Figuren am Rand. Es können Bäumchen sein, die einen Kopf begleiten, oder architektonische Formen, jedenfalls erscheint das Porträt jetzt fester verankert im Grund des gegebenen Raumes als früher, wo diese Beziehungen immer nur lässig empfunden worden sind. Man kann finden, daß beim Gekreuzigten aus dem Balkenwerk des Kreuzes ein gleicher Gewinn für die Stabilisierung der Figur innerhalb des Rahmens gezogen wird. Jedes Landschaftsbild wird die Neigung haben, mit einzelnen Bäumen am Rande sich festzusaugen. Es ist ein ganz neuer Eindruck für den, der von den Primitiven herkommt, wie in den weitgedehnten Gegenden des Patenier die Horizontalen und die Vertikalen als etwas der Tektonik des Rahmens Verwandtes durchschlagen.

Demgegenüber sind auch die so ernsthaft gebauten Landschaften des Ruysdael doch wesentlich durch die Absicht bestimmt, das Bild dem Rahmen zu entfremden: daß es nicht so aussehe, als empfinge es sein Gesetz vom Rahmen. Das Bild löst sich aus dem tektonischen Zusammenhang oder will ihn wenigstens nur als ein im geheimen Weiterwirkendes gelten lassen. Noch immer wachsen die Bäume dem Himmel entgegen, allein man 138 vermeidet es, den Gleichklang mit den Senkrechten des Rahmens merkbar werden zu lassen. Wie sehr hat Hobbemas Allee von Middelharnis die Fühlung mit den Randlinien verloren!

Wenn die alte Kunst so viel mit architektonischen Gründen arbeitet, so spricht dabei mit, daß sie in dieser Formenwelt ein der tektonischen Fläche verwandtes Material besaß. Der Barock hat zwar auf Architektur nicht verzichtet, allein er bricht ihren Ernst gern durch Draperien und dergleichen: die Säule soll nicht als Senkrechte mit den Senkrechten des Rahmens in Beziehung treten.

Und so ist es mit der menschlichen Gestalt. Auch ihr tektonischer Gehalt wird möglichst verhehlt. Wild sezessionistische Bilder des Übergangs, wie Tintorettos Drei Grazien im Dogenpalast, die sich ungebärdig in dem Bildrechteck herumwerfen, wollen durchaus unter diesem Gesichtspunkt beurteilt sein.

Mit dem Problem der Anerkennung oder Verleugnung des Rahmens berührt sich dann auch das Weitere: Wie weit das Motiv innerhalb des Rahmens zur Erscheinung kommt oder von ihm überschnitten wird. Der natürlichen Forderung nach vollständiger Sichtbarkeit kann sich auch der Barock nicht entziehen, aber er vermeidet es, Bildausschnitt und Sache offensichtlich zusammenfallen zu lassen. Man muß unterscheiden: Auch die klassische Kunst ist natürlich ohne Randüberschneidungen nicht ausgekommen und trotzdem wird das Bild vollständig wirken, weil es dem Beschauer doch über alles Wesentliche Bescheid gibt und die Überschneidungen sich nur auf Dinge beziehen, die keinen Akzent haben. Die Spätern suchen den Schein einer gewaltsamen Überschneidung, aber in Wirklichkeit opfern auch sie (was immer unangenehm wäre) nicht irgend etwas Wesentliches.

Janssens: Lesende Frau

In dem Hieronymus-Stich von Dürer ist der Raum nach rechtshin unbegrenzt und es kommen ein paar leichte Überschneidungen vor, als Ganzes wirkt das Bild vollkommen geschlossen: wir haben einen rahmenden Seitenpfeiler links, einen rahmenden Deckenbalken oben und die Stufe vorn geht mit dem unteren Bildrand parallel; die zwei Tiere passen sich in vollständiger Erscheinung der Breite der Bühne gerade ein und in der Ecke oben rechts hängt der Kürbis, schließend und füllend, in voller Sichtbarkeit. Damit vergleiche man das Interieur des Pieter Janssens in der Münchner Pinakothek: die Ansicht ist eine ganz verwandte, mit Offenlassung der einen Seite. Aber alles ist ins Atektonische umgesetzt. Es fehlt der Deckenbalken, der mit dem Bild- und Bühnenrand 139 zusammenfällt: die Decke bleibt teilweise überschnitten. Es fehlt der Seitenpfeiler: der Winkel wird nicht ganz sichtbar, und auf der andern Seite findet sich ein Stuhl mit einem Kleidungsstück darüber, ganz scharf überschnitten. Wo der Kürbis hing, läuft das Bild mit einem halben Fenster gegen die Ecke an und – im Vorbeigehen gesagt – statt der ruhigen Parallele der zwei Tiere stehen hier zwei unordentlich hingeworfene Pantoffeln im Vordergrund. Trotz aller Überschneidungen und Inkongruenzen wirkt das Bild Janssens aber nicht als Unbegrenztes. Das scheinbar nur zufällig Eingefriedigte ist doch ein durchaus in sich Befriedigtes.

4. Wenn auf Lionardos Abendmahl Christus als die betonte Mittelfigur zwischen symmetrischen Seitengruppen sitzt, so ist das eine tektonische Anordnung, von der bereits die Rede gewesen ist. Es ist aber etwas Anderes und Neues, wenn dieser Christus gleichzeitig auch zur Konsonanz mit den begleitenden Architekturformen gebracht ist: er sitzt nicht nur in der Mitte des Raumes, sondern seine Gestalt fällt auch mit dem Lichten der zentralen Türe so genau zusammen, daß dadurch eine erhöhte Wirkung, eine Art Glorienerscheinung für ihn gewonnen wird. Eine derartige Unterstützung der Figuren durch die Umgebung ist dem Barock natürlich in gleicher Weise erwünscht, unerwünscht ist ihm nur das Unverhehlte und Absichtliche dieses Zusammentreffens der Formen.

Das Motiv des Lionardo ist kein vereinzeltes. An bedeutender Stelle, in der Schule von Athen, hat es Raffael wiederholt. Immerhin bedeutet es auch für die italienische Hochrenaissance nicht das Unumgängliche. Freiere Schiebungen sind nicht nur erlaubt, sondern bilden die Überzahl. Wichtig ist für uns allein, daß die Disposition einmal überhaupt möglich war, 140 während sie später nicht mehr möglich ist. Rubens als der typische Vertreter des italienisierenden Barock im Norden liefert den Beweis. Er rückt beiseite und dieses Auseinandergehen der Achsen wird jetzt nicht als eine Abweichung von der strengeren Form empfunden, wie im 16. Jahrhundert, sondern einfach als das Natürliche. Das andere würde unerträglich »gemacht« aussehen (vgl. Abraham und Melchisedek).

Rubens: Abraham und Melchisedek

Bei Rembrandt findet man in der späteren Zeit wiederholt den Versuch, sich die Vorteile der italienischen Klassik im Sinn der Monumentalität zu sichern. Allein wenn auch sein Christus im Emmausbild zentral in der Nische sitzt, so ist die reine Konsonanz zwischen Nische und Figur doch aufgehoben: die Figur versinkt im übergroßen Raum. Und wenn er in einem andern Fall – beim großen Ecce homo in Querform (Radierung) – mit deutlichem Anschluß an italienische Muster eine symmetrische Architektur aufbaut, deren mächtiger Atemzug die Bewegung der kleinen Figuren trägt, so ist wieder das Interessanteste, daß er trotz allem den Schein der Zufälligkeit auf diese tektonische Komposition fallen zu lassen weiß.

5. Der abschließende Begriff des tektonischen Stils wird in einer Regelmäßigkeit zu suchen sein, die sich nur teilweise geometrisch fassen läßt, die aber als Eindruck des Gesetzlich-Gebundenen sehr klar aus Linienführung, Lichtsetzung, perspektivischer Abstufung usw. herausspricht. Der atektonische Stil fällt nicht ins Regellose, aber die zugrunde liegende Ordnung ist eine so viel freiere, daß man wohl von einem Gegensatz von Gesetz und Freiheit überhaupt sprechen kann.

Was die Linienführung anbetrifft, so ist der Gegensatz einer Zeichnung Dürers und einer Zeichnung Rembrandts schon früher beschrieben worden; die Regelmäßigkeit der Strichführung dort und der schwer zu bestimmende Rhythmus der Linien hier aber läßt sich aus den Begriffen linear und malerisch doch nicht unmittelbar ableiten, man muß die Erscheinung auch einmal unter dem Gesichtspunkt des tektonischen und atektonischen Stils betrachtet haben. Und wenn der malerische Baumschlag im Bild mit Flecken arbeitet, statt mit begrenzten Formen, so gehört das wohl mit in diesen Zusammenhang, der Fleck an und für sich aber ist noch nicht alles: In der Austeilung der Flecken herrscht ein ganz anderer, freierer Rhythmus als in all den Linienmustern der klassischen Baumzeichnung, wo man über den Eindruck einer gebundenen Gesetzlichkeit nicht hinauskommt.

Wenn Mabuse in dem Bild der Danae von 1527 (München) den goldenen Regen malt, so ist das ein tektonisch stilisierter Regen, in dem nicht nur 141 die einzelnen Tropfen gerade Strichelchen sind, sondern auch das Ganze eine gleichmäßige Ordnung einhält. Ohne daß geometrische Konfigurationen sich ergeben, ist die Erscheinung doch wesentlich anders als jede barocke Tropfenfolge. Vergleiche etwa das fallende Wasser der überquellenden Brunnenschale bei Rubens, Diana und Nymphen von Satyrn überrascht (Berlin).

So haben die Lichter in einem Kopf des Velasquez nicht nur die unbegrenzten Formen des malerischen Stils, sondern sie führen unter sich einen Tanz auf, der einen entbundeneren Charakter hat als irgend eine Lichtdisposition der klassischen Zeit. Noch immer ist eine Gesetzlichkeit da, sonst wäre es kein Rhythmus, aber die Gesetzlichkeit gehört einer anderen Gattung an.

Und so kann man die Betrachtung auf alle Bildmomente ausdehnen. Die Räumlichkeit der klassischen Kunst ist, wie wir wissen, eine abgestufte, sie ist aber auch eine gesetzmäßig abgestufte. »Obgleich die dem Auge gegenüberstehenden Dinge«, sagt LionardoLionardo, Traktat von der Malerei ed. Ludwig 31 (34)., »wie sie allmählich hintereinander folgen, in ununterbrochenem Zusammenhang eins das andere berühren, so werde ich nichtsdestoweniger meine Regel (der Abstände) von 20 zu 20 Ellen machen, ebenso wie der Musiker zwischen den Tönen, obwohl diese eigentlich alle in eins aneinanderhängen, einige wenige Abstufungen von Ton zu Ton angebracht hat (die Intervalle).« Die bestimmten Maße, die Lionardo gibt, brauchen nicht verbindlich zu sein, in der flächenhaften Schichtung auch der nordischen Bilder des 16. Jahrhunderts waltet jedenfalls ein fühlbares Gesetz der Folge. Umgekehrt ist ein Motiv wie das des übergroßen Vordergrundes erst möglich, als man die Schönheit nicht mehr im Gleichmaß suchte, sondern den Reiz eines abrupten Rhythmus zu genießen imstande war. Natürlich geht es auch dann immer noch mit rechten Dingen zu, das heißt es liegt auch da ein Gesetz zugrunde, aber es ist nicht die unmittelbar einleuchtende Verhältnismäßigkeit und darum wirkt das Gesetz als freie Ordnung.

Der Stil der geschlossenen Form ist ein baumeisterlicher Stil. Er baut, wie die Natur baut, und sucht in der Natur, was ihm verwandt ist. Die Neigung zu den ursprünglichen Formen der Senkrechten und Wagrechten verbindet sich mit dem Bedürfnis nach Grenze, Ordnung, Gesetz. Nie hat man die Symmetrie der menschlichen Gestalt stärker gefühlt, nie den 142 Gegensatz der horizontalen und vertikalen Richtungen und die geschlossene Proportionalität nachdrücklicher empfunden als damals. Überall drängt der Stil auf die festen und bleibenden Elemente der Form. Die Natur ist ein Kosmos und die Schönheit ist das geoffenbarte GesetzVgl. L. B. Alberti, de re aedificatoria lib. IX. passim..

Für den atektonischen Stil tritt das Interesse am Gebauten und in sich Geschlossenen zurück. Das Bild hört auf, eine Architektur zu sein. In der Figur sind die architektonischen Momente die sekundären. Das Bedeutsame der Form ist nicht das Gerüste, sondern der Atemzug, der das Starre in Fluß und Bewegung bringt. Dort sind es Werte des Seins, hier Werte der Veränderung. Dort liegt die Schönheit im Begrenzten, hier im Unbegrenzten.

Wieder rühren wir an Begriffe, die hinter den künstlerischen Kategorien eine verschiedene Weltanschauung sichtbar werden lassen.

 

3.
Betrachtung nach Stoffen

Wer vom 15. Jahrhundert herkommt, empfindet es als ein neues Schauspiel, wie im Bildnis der klassischen Meister die Erscheinung sich gefestigt hat. Das Herausarbeiten der bestimmenden Formgegensätze, das Einstellen des Kopfes in die Vertikale, das Heranziehen von tektonisch-stützenden Begleitformen, symmetrischen Bäumchen und dergleichen, es wirkt alles im gleichen Sinne. Nehmen wir den Carandolet des Barend van Orley als Beispiel, so wird man sich leicht überzeugen, wie sehr die Auffassung bedingt ist von dem Ideal eines festen tektonischen Gefüges, wie die Parallelität von Mund und Augen und Kinn und Jochbein betont und von der klar ausgesprochenen Gegenrichtung der Vertikale abgehoben ist. Die Horizontale wird unterstrichen durch die Kappe und wiederholt sich im Motiv 143 des aufgelegten Armes und der Brüstung der Wand, die ragenden Formen werden gehalten von den Hochlinien der Tafel. Durchweg spürt man die Verwandtschaft von Figur und tektonischer Basis. Das Ganze ist der Fläche so eingepaßt, daß es als unverrückbar festliegend erscheint. Dieser Eindruck behauptet sich, auch wenn der Kopf nicht in der breiten Ansicht aufgenommen ist, die aufrechte Haltung aber bleibt die Norm und im Zusammenhang einer solchen Anschauung begreift man, daß auch die reine Frontalität nicht als etwas Gesuchtes, sondern als eine natürliche Form empfunden werden konnte. Dürers Selbstbildnis in München ist als solch reines Frontbild nicht nur ein Geständnis im Namen seiner Person, sondern im Namen der neuen tektonischen Kunst. Holbein, Aldegrever, Bruyn – alle sind ihm gefolgt.

Van Orley: Bildnis des Carandolet

       

Rubens: Bildnis des Dr. Thulden

Dem festen zusammengefaßten Typ des 16. Jahrhunderts stellen wir in dem Dr. Thulden des Rubens den Barocktyp gegenüber. Was dabei als Kontrasteindruck herausspringt, ist wohl zunächst der Mangel an Haltung. Allein man muß sich hüten, die zwei Bilder ausdrucksmäßig nach demselben Maßstab zu beurteilen, als ob sie mit den gleichen Mitteln ihr Modell charakterisiert hätten. Die ganze Grundlage der Bildgestaltung hat sich verschoben. Das System der Horizontalen und Vertikalen ist nicht gerade beseitigt, aber doch absichtlich unscheinbar gemacht worden. Man sucht nicht die geometrischen Verhältnisse in ihrer Strenge wirken zu lassen, sondern geht spielend darüber hinweg. In der Zeichnung des Kopfes wird das tektonisch-symmetrische Element zurückgedrängt. Die Bildfläche ist noch immer eine rechtwinklige, allein die Figur nimmt auf das Achsensystem keinen Bezug und auch im Hintergrund ist wenig getan, die Form dem Rahmen 144 anzuschließen. Im Gegenteil, man sucht den Eindruck, als ob Rahmen und Füllung gar nichts miteinander zu tun hätten. Die Bewegung läuft diagonal.

Es ist natürlich, daß man der Frontalität ausweicht, die Vertikalität dagegen ist nicht auszuschalten. Auch im Barock gibt es »aufrechte« Leute. Aber merkwürdig: die Vertikale hat ihre tektonische Bedeutung verloren. Mag sie noch so rein ausgeprägt sein, sie geht nicht mehr mit dem System des Ganzen zusammen. Man vergleiche die Halbfigur der Bella des Tizian im Palazzo Pitti mit der Luigia Tassis des van Dyck bei Lichtenstein: dort lebt die Figur innerhalb eines tektonischen Ganzen, von dem sie Kraft empfängt und dem sie Kraft gibt, hier ist die Figur der tektonischen Basis entfremdet. Dort hat die Figur etwas Fixiertes, hier ist sie beweglich.

So ist die Geschichte der männlichen Stehfigur vom 16. Jahrhundert her die Geschichte einer fortschreitenden Lockerung des Verhältnisses zwischen Rahmung und Füllung. Bei Terborch, wenn er seine stehenden Einzelfiguren im leeren Raum erscheinen läßt, scheint sich die Beziehung der Figurenachse zur Bildachse vollständig verflüchtigt zu haben.

Scorel: Magdalena

Über das Bildnis hinaus führt uns die Darstellung einer sitzenden Magdalena des Scorel, wo zu irgend einer bestimmten Haltung gewiß keine Verpflichtung vorlag, aber es war zu jener Stunde selbstverständlich, daß das Gerade und Aufrechte die Tonart des Bildes bestimmte. Dem 145 Vertikalismus der Figur antwortet der Vertikalismus in Baum und Fels. Das Sitzmotiv an sich enthält schon die Gegenrichtung des Gelagerten, sie wiederholt sich in der Landschaft und in den Zweigen des Baumes. Mit diesen rechtwinkligen Begegnungen ist die Bilderscheinung nicht nur gefestigt, sie gewinnt auch in besonderem Maße den Charakter des In-sich-Geschlossenen. Die Wiederholung analoger Verhältnisse befördert sehr den Eindruck, daß Fläche und Füllung aufeinander angewiesen sind.

Guido Reni: Magdalena

Vergleicht man mit diesem Scorel einen Rubens, der ja die weibliche Sitzfigur als Magdalena mehrfach behandelt hat, so ergeben sich die gleichen Unterschiede wie bei dem vorhin besprochenen Bildnis des Dr. Thulden. Gehen wir aber von den Niederlanden nach Italien, so zeigt auch ein Guido Reni, obwohl er zu den Zurückhaltenden gehört, dieselbe Erweichung des Bildhabitus ins Atektonische. Die Rektangularität der Tafel ist als wirkendes, formbestimmendes Prinzip schon wesentlich negiert. Die Hauptströmung ist eine diagonale und wenn auch die Massenverteilung sich noch nicht weit vom Gleichgewicht der Renaissance entfernt, so genügt doch die Erinnerung an Tizian, um den barocken Charakter dieser Magdalena zum Bewußtsein zu bringen. Das Gelöste der Büßerin ist dabei nicht das Ausschlaggebende. Freilich entfernt sich auch die geistige Fassung des Motivs von der Art des 16. Jahrhunderts, aber das Kräftige würde jetzt ebenso wie das Weiche auf atektonischer Basis entwickelt werden.

Keine Nation hat so überzeugend wie die italienische den tektonischen Stil im Nackten zum Vortrag gebracht. Hier möchte man 146 sagen, aus der Anschauung des Körpers heraus sei der Stil erwachsen, und man könne dem herrlichen Gewächs des menschlichen Leibes überhaupt nicht anders gerecht werden als wenn es sub specie architecturae aufgefaßt werde. Man wird diesen Glauben solange festhalten, bis man sieht, was ein Künstler wie Rubens oder Rembrandt mit einer anderen Form der Anschauung aus dem Gegenstand gemacht hat und daß auch in dieser Fassung die Natur nur sich selbst zur Darstellung gebracht zu haben scheint.

Franciabiagio: Venus

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Lorenzo di Credi

Wir exemplifizieren mit dem bescheidenen aber klaren Beispiel von Franciabigio. Verglichen mit quattrocentistischen Figuren, etwa mit jener schon früher abgebildeten Venus des Lorenzo di Credi, sieht es aus, als sei in diesem Bilde die Gerade von der Kunst zum erstenmal entdeckt worden. Beidemal haben wir eine völlig aufrechte Stehfigur, aber die Senkrechte hat im 16. Jahrhundert eine neue Bedeutsamkeit gewonnen. So wenig wie Symmetrie und Symmetrie immer dasselbe bedeutet, so wenig ist der Begriff der Geraden immer gleichwertig. Es gibt eine laxe und eine strenge Fassung. Unabhängig von allen Qualitätsunterschieden im Imitativen, hat Franciabigio jenen ausgesprochen tektonischen Charakter, der die Disposition innerhalb der Bildfläche ebenso bedingt wie die Darstellung des Formgefüges im Körper selbst. Die Figur ist auf ein Schema gebracht, daß, wie beim einzelnen Kopf, die Formteile in elementaren Kontrasten gegeneinander wirken und das Bildganze ist durchwaltet von tektonischen Kräften. Bildachse und Figurenachse stärken sich gegenseitig. Und wenn der eine Arm sich hebt und die Frau in der Muschelschale sich bespiegelt, so entsteht – ideell – eine reine Horizontale, die die Wirkung der Vertikalen wieder mächtig unterstützt. Bei einer solchen Figurenkonzeption wird die architektonische Begleitung (Nische mit Stufen) dann immer als etwas ganz Natürliches erscheinen. – Aus demselben Antrieb heraus, wenn auch nicht mit derselben Strenge der 147 Durchführung, haben im Norden damals Dürer, Cranach, Orley ihre Venus- und Lucretienbilder gemalt, deren entwicklungsgeschichtliche Bedeutung vor allem nach der Tektonik der Bildfassung beurteilt sein will.

Rubens: Andromeda

Wenn dann später Rubens das Thema weiterführt, so erstaunt man, wie rasch und wie selbstverständlich die Bilder den tektonischen Charakter abstreifen. Die große Andromeda mit den hochgebundenen Armen vermeidet durchaus nicht die Vertikale, aber es kommt nicht mehr zu einer tektonischen Wirkung. Das Rechteck des Bildausschnittes erscheint in seinen Linien der Figur nicht mehr verwandt. Die Abstände der Figur vom Rahmen zählen nicht mehr als konstitutive Bildwerte. Der Körper, auch wenn er frontal gegeben ist, nimmt diese Frontalität nicht von der Bildfläche her. Die reinen Richtungsgegensätze sind aufgehoben und im Körper spricht das Tektonische nur noch verhehlt und wie aus der Tiefe. Der Wirkungsakzent ist auf die andere Seite übergesprungen.

Das feierliche Repräsentationsbild, das kirchliche Heiligenbild vor allem, scheint auf tektonische Haltung immer angewiesen zu sein. Allein, wenn auch die Symmetrie im 17. Jahrhundert dauernd weitergebraucht wird, so ist diese Art der Komposition für den Bildaufbau doch nicht mehr verbindlich. Die Figurenordnung kann symmetrisch gemeint sein, die Bilderscheinung ist es nicht. Wenn eine symmetrische Gruppe – was der Barock gern tut – verkürzt dargestellt wird, so kommt eben keine Bildsymmetrie mehr heraus. Verzichtet man aber auf Verkürzung, so stehen diesem Stil auch sonst Mittel genug zur Verfügung, dem Beschauer das Bewußtsein beizubringen, der Geist der Darstellung sei kein tektonischer, auch wenn man sich bis zu einem gewissen Grade auf Symmetrien einläßt. Das Werk des Rubens enthält sehr augenfällige Beispiele solcher symmetrisch-asymmetrischen 148 Kompositionen. Es genügen aber schon ganz kleine Verschiebungen und Ungleichgewichtigkeiten, um den Eindruck tektonischer Ordnung nicht aufkommen zu lassen.

Als Raffael den Parnaß malte und die Schule von Athen, hat er auf eine allgemeine Überzeugung sich stützen können, daß für solche Versammlungen von idealer Stimmung das strenge Schema einer betonten Mitte das Rechte sei. Poussin in seinem Parnaß (Madrid) ist ihm darin gefolgt, allein trotz aller Bewunderung Raffaels hat er, als Mann des 17. Jahrhunderts, seiner Zeit doch gegeben, was sie forderte: mit unscheinbaren Mitteln ist die Symmetrie ins Atektonische transponiert worden.

Eine analoge Entwicklung hat die holländische Kunst mit dem vielfigurigen Schützenstück durchgemacht. Die Rembrandtsche »Nachtwache« hat ihre cinquecentistischen Ahnen in rein tektonisch-symmetrischen Bildern. Natürlich kann man nicht sagen, Rembrandts Bild sei die Auflösung eines alten Symmetrieschemas: sein Ausgangspunkt liegt gar nicht auf dieser Linie. Aber Tatsache ist, daß für diese Porträtaufgabe die symmetrische Komposition (mit Mittelfigur und gleichmäßiger Verteilung der Köpfe auf beiden Seiten) einmal als die angemessene Form der Darstellung empfunden worden war, während das 17. Jahrhundert, selbst wo es sich ganz steif und gravitätisch gebärdet, sie schlechterdings nicht mehr als etwas Lebendiges anzuerkennen vermochte.

Rubens: Maria mit Heiligen

So hat der Barock auch im Historienbild das Schema abgelehnt. Schon für die klassische Kunst war die zentrische Anordnung nie die allgemeine Form gewesen, in der das Geschehen dargestellt wurde – man kann tektonisch komponieren ohne Betonung der Mittelachse –, allein sie erscheint doch sehr häufig und scheint in jedem Fall die Stimmung der Monumentalität für sich zu haben. Wenn nun Rubens die Himmelfahrt Mariä gibt, so ist seine Absicht gewiß nicht minder auf das Feierliche gerichtet gewesen, als es bei der Assunta Tizians der Fall war, allein was im 16. Jahrhundert selbstverständlich war, die Hauptfigur auf der Mittelachse des Bildes emporzuführen, ist für Rubens bereits etwas Unerträgliches. Es beseitigt die klassische Vertikale und gibt der Bewegung einen schrägen Anlauf. Im gleichen Sinn hat er die tektonische Achse des Jüngsten Gerichts, wie er sie bei Michelangelo fand, ins Atektonische verschoben usw.

Noch einmal: Die zentrische Komposition ist nur eine singuläre Steigerung des Tektonischen. Man kann also eine Anbetung der Könige so redigieren, Lionardo hat es getan und es gibt im Süden und Norden 149 berühmte Bilder, die diesem Typ folgen (vgl. den Cesare da Sesto in Neapel und den Meister des Marientodes in Dresden), aber man kann auch azentrisch komponieren und braucht trotzdem nicht ins Atektonische zu verfallen. Im Norden ist das die beliebtere Form (vgl. die Anbetung der Könige des Hans von Kulmbach im Berliner Museum), aber sie ist auch dem italienischen Cinquecento durchaus vertraut. Die Raffaelschen Teppiche rechnen gleichmäßig mit den zwei Möglichkeiten. Was hier relativ frei wirkt, erscheint doch vollkommen gebunden, sobald eine Vergleichung mit barocker Gelöstheit möglich wird.

Isenbrant: Ruhe auf der Flucht

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Van Orley: Ruhe auf der Flucht

Wie auch die ländlich-idyllische Szene mit dem Geist der Tektonik sich durchsetzt, ersieht man vortrefflich an der kleinen »Ruhe auf der Flucht« von Isenbrant. Von allen Seiten ist der tektonischen Wirkung der Mittelfigur vorgearbeitet. Die Anordnung auf der Achse allein tut es nicht, die Vertikale wird von den Seiten her gestützt und im Hintergrund weitergeführt und die Formation des Bodens und der Gründe sorgt dafür, daß auch die Gegenrichtung zu Worte kommt. So unscheinbar und bescheiden das Motiv ist, das Bildchen wird damit ein Glied der großen Familie, der 150 die »Schule von Athen« angehört. Aber das Schema geht durch, auch wenn die Mittelachse unbetont bleibt, wie Barend van Orley beim gleichen Thema es gemacht hat. Hier sind die Figuren zur Seite geschoben, ohne daß doch das Gleichgewicht erschüttert wäre. Natürlich kommt viel an auf den Baum. Er steht nicht in der Mitte, aber man spürt trotz der Abweichung sehr genau, wo die Mitte liegt; der Stamm ist keine mathematische Vertikale, aber man fühlt, daß er ein Verwandter der Rahmenlinien des Bildes ist; das ganze Gewächs geht rein in der Bildfläche auf. Damit ist der Stil schon festgelegt.

Gerade bei Landschaften sieht man sehr deutlich, wie das Maß der Bedeutsamkeit, das den geometrischen Werten im Bilde zugewiesen ist, hauptsächlich über den tektonischen Charakter entscheidet. Landschaften des 16. Jahrhunderts haben alle jenen nach Vertikalen und Horizontalen ausgerichteten Habitus, der trotz aller »Natürlichkeit« die innere Beziehung zu architektonischem Werk vollkommen fühlbar werden läßt. Die Stabilisierung des Gleichgewichtes der Massen, das Gefestigte der Flächenfüllung vollendet den Eindruck. Es sei gestattet, der Deutlichkeit halber mit einem Beispiel zu demonstrieren, das kein reines Landschaftsbild ist, aber eben deswegen das Gepräge des Tektonischen um so klarer aufweist: Pateniers Taufe Christi.

Patenier: Taufe Christi

Das Bild ist zunächst ein vorzügliches Beispiel für Flächenstil. Christus in einer Ebene mit dem Täufer, dessen Arm die Fläche nicht verläßt. Der Baum am Rande ist in dieselbe Zone einbezogen. Ein (brauner) Mantel, am Boden liegend, vermittelt. Lauter Breitformen in paralleler Schichtung, durch alle Gründe durch. Christus gibt den Grundton an.

Ruysdael: Blick auf Haarlem

Aber ebensogut läßt sich die Bildanordnung dem Begriff des Tektonischen unterstellen. Man wird dann von der reinen Vertikalität des 151 Täuflings ausgehen und wie diese Richtung durch Gegensätze herausgehoben ist. Der Baum ist durchaus in Beziehung zum Bildrand empfunden, von dem er Kraft empfängt, wie er andrerseits den Bildabschluß festigt. Die Horizontalität der landschaftlichen Schichten geht ebenso zusammen mit den Grundlinien der Bildtafel. Spätere Landschaften lassen diesen Eindruck nie mehr aufkommen. Die Formen sperren sich gegen das Rahmenwerk, der Ausschnitt erscheint als zufällig und das Achsensystem bleibt unbetont. Dazu bedarf es keiner Gewaltsamkeiten. Bei jenem oft schon genannten »Blick auf Haarlem« gibt Ruysdael das flache Gelände mit stillem tiefem Horizont. Es scheint unvermeidlich, daß diese eine, stark sprechende Linie als tektonischer Wert wirksam werde. Allein der Eindruck ist ein ganz anderer: man spürt nur die grenzenlose Weite des Raumes, für die kein Rahmen Bedeutung hat, und das Bild ist das typische Muster für jene Schönheit des Unendlichen, die erst der Barock zu fassen imstande gewesen ist.

 

4.
Historisches und Nationales

Für die geschichtliche Erkenntnis dieses besonders vielfältigen Begriffspaares ist es wesentlich, sich von der Vorstellung frei zu machen, daß die primitive Stufe der Kunst die eigentlich tektonisch-gebundene gewesen sei. Gewiß gibt es für die Primitiven tektonische Schranken, nach allem Vorausgesagten wird man aber einsehen, daß die Kunst erst dann streng geworden ist, als sie zu vollkommener Freiheit gelangt war. Die ältere Malerei besitzt nichts, was sich an tektonischem Gehalt mit Lionardos Abendmahl oder Raffaels Wunderbarem Fischzug vergleichen ließe. Ein Kopf des Dirk Bouts ist als Architektur lax empfunden gegenüber dem festen Gefüge bei 152 Massys oder Orley. Das Meisterwerk des Roger van der Weyden, sein Dreikönigsaltar in München, hat etwas Unsicheres und Schwankendes in den Richtungen, verglichen mit dem einfach klaren Achsensystem des 16. Jahrhunderts, und der Farbe fehlt der geschlossene Charakter, weil sie nicht mit den elementaren Kontrasten rechnet, die sich gegenseitig im Gleichgewicht halten. Und selbst in der nächsten Generation – wie weit entfernt ist noch Schongauer von der satten tektonischen Wirkung der Klassiker. Man hat die Empfindung, nichts sei recht verankert. Senkrechte und Wagrechte packen sich nicht. Die Front bleibt ohne Nachdruck, die Symmetrie wirkt schwach und das Verhältnis von Fläche und Füllung behält etwas Zufälliges. Zum Beweis sei die Schongauersche Taufe Christi genannt, die man mit der klassischen Komposition des Wolf Traut (Germanisches Museum, Nürnberg) zusammenhalten möge: frontal in der Hauptfigur und rein zentrisch entwickelt, gibt sie den Typ des 16. Jahrhunderts in einer besonders strengen Fassung, wie ihn der Norden nicht lange festgehalten hat.

Bouts: Männliches Bildnis

Während in Italien die geschlossenste Form als die lebendigste empfunden wurde, drängt die germanische Kunst, ohne sich auf die letzten Formulierungen überhaupt einzulassen, alsbald ins Entbundenere hinüber. 153 Altdorfer überrascht uns hier und da mit so freier Empfindung, daß er sich einer geschichtlichen Ordnung kaum zu fügen scheint. Allein auch er ist aus seiner Zeit nicht herausgesprungen. Wenn die Mariengeburt der Münchner Pinakothek so aussieht, als ob sie aller Tektonik widerspräche, so würde doch allein die Art, wie der Engelkranz im Bilde sitzt und wie der große weihrauchspendende Engel rein zentral angeordnet ist, jeden Versuch unmöglich machen, die Komposition in einen späteren Zusammenhang einzuschmuggeln.

In Italien ist es Correggio, der bekanntlich sehr früh mit der klassischen Form bricht. Er spielt nicht mit einzelnen Verschiebungen, hinter denen man das tektonische System doch immer noch als normgebend durchfühlt, wie etwa Paolo Veronese, sondern er ist innerlich und von Grund aus atektonisch geartet. Immerhin sind es erst Anfänge und es wäre von vornherein unrichtig, ihn als Lombarden an florentinisch-römischen Mustern zu messen. Ganz Oberitalien hat über streng und nicht-streng sich immer ein eigenes Urteil vorbehalten.

Eine Geschichte des tektonischen Stils kann nicht geschrieben werden, 154 ohne auf nationale und landschaftliche Unterschiede einzugehen. Der Norden, wie gesagt, hat von jeher atektonischer empfunden als Italien. Richtung und »Regel« erscheint hier leicht als das Lebentötende. Nordische Schönheit ist nicht eine Schönheit des In-sich-Geschlossenen und Begrenzten, sondern des Grenzenlosen und Unendlichen.

 


 


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