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Napoleon 1812

Napoleon fasziniert – so auch unseren Sohn, der dieses Gewehr nach der Lektüre von „1812“ geschnitzt hat.

Napoleon fasziniert – so auch unseren Sohn, der dieses Gewehr nach der Lektüre von „1812“ geschnitzt hat.

„Am meisten im Leben bedaure ich, daß ich 1812 kein Mann war.“ Dies sagte Katharina, die Schwester Zar Alexanders, nach dem gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons. Ich bin ziemlich froh, 1812 nicht als Mann gelebt zu haben. Das damalige Königreich Württemberg war nämlich von 1806 bis 1813 als Teil des Rheinbundes dem Einfluss französischer Interessen unterworfen. Als Wehrfähiger in dieser Zeit bedeutete dies mit großer Wahrscheinlichkeit eine Teilnahme am Russlandfeldzug Napoleon Bonapartes und damit womöglich auch einen erbärmlichen Tod.

1812 – Napoleons Feldzug in Russland

Ich will es gleich vorweg sagen, ich habe selten ein so spannendes und zugleich so lehrreiches Buch gelesen wie 1812, das 720 Seiten starke Werk des amerikanisch-polnischen Historikers Adam Zamoyski. Ich habe das Buch im Urlaub atemlos verschlungen, litt allerdings bisweilen auch an Alpträumen.

Dabei ging es mir mit dem Russlandfeldzug Napoloens wie wahrscheinlich vielen Menschen. Man hat davon gehört, erinnert sich vielleicht an ein, zwei Details, und das war’s auch schon. Dabei war Napoleons russischer Feldzug im Jahr 1812

eine der eindruckvollsten Episoden in der Geschichte Europas, ein Ereignis mit epischen Dimensionen, das sich tief in die Vorstellungswelt der Völker eingegraben hat.

So schreibt Zamoyski im Vorwort. Dabei erhebt er nicht den Anspruch, alle historischen Fragen erschöpfend zu beantworten. Wie sollte das auch gehen?! Was die Lektüre dieses Buches so besonders macht, ist die Tatsache, dass der Autor es schafft, die großen historischen Zusammenhänge mit zahlreichen persönlichen, häufig dramatischen Erlebnissen der Menschen zu verweben, die an diesem gewaltigen Feldzug teilgenommen haben. Für Zamoyski ist der Russlandfeldzug

eine menschliche Geschichte schlechthin, von Hybris und Nemensis, von Triumph und Katastrophe, von Ruhm und Elend, von Freude und Leid.

Menschliche Katastrophen

Der Autor hat enorme Recherchearbeit geleistet, und er erdet die historischen Fakten immer wieder auf einer menschlichen Ebene, indem er Briefe, Tagebücher, Skizzen von einfachen Soldaten, Offizieren, Ärzten, Politikern, aber auch von Händlern, die die Grande Armée begleiteten (Marketender), in seine Erzählung einflicht.

So schreibt Karl von Suckow, Leutnant in einer württembergischen Einheit auf Seiten der Franzosen, nach der dramatischen Überquerung der Beresina auf dem Rückzug:

Der Boden war mit Tieren und Menschen übersät, lebendigen und toten … Jeden Augenblick fühlte ich, wie ich über Leichen stolperte; zugegeben, ich fiel nicht, aber nur, weil ich nicht konnte, nur weil mich die Menge, die mich von allen Seiten einquetschte, aufrecht erhielt. Ich habe in meinem Leben nie etwas Grausigeres erlebt als das Gefühl, über lebende Kreaturen hinwegzugehen, die versuchten, sich an meinen Beinen festzuklammern, und die sich in ihrem Bemühen, sich wieder zu erheben, meine Bewegungen lähmten.

Innerhalb von nur drei Tagen verlor Napoleon bei der Schlacht an der Beresina Ende November 1812 bis zu 25 000 Menschen, die russische Armee Alexanders hatte ungefähr 15 000 Tote zu beklagen.

Bis heute sehen die Franzosen Napoleon lieber als Sieger: Sondermarke zur Schlacht von Austerlitz

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Historisches Wimmelbuch

Die gekonnte Verknüpfung historischer Fakten mit den persönlichen Erzählungen der Zeitzeugen machen aus 1812 ein beeindruckendes historisches Wimmelbuch, das entlang des chronologischen Verlaufs erzählt wird. Adam Zamoyski, der in heute in England lebt, zeigt sich dabei nicht nur als exzellenter Historiker, sondern auch als brillianter Stilist. Die Übersetzer Ruth Keen und Erhart Stöltling haben auch ganze Arbeit geleistet: einmal angefangen, will man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Zum Verständnis tragen 24 Karten sowie 60 historische Abbildungen (meist Zeichnungen und Skizzen, auch vom Kriegsgeschehen) bei.

Besonders eindrucksvoll war für mich, wie der Autor aufzeigt, wie Frankreich und Russland – Napoleon und Alexander – in diese Katastrophe mehr oder weniger unbeabsichtig, ja halbherzig, aber unaufhaltsam hineinschlittern. Dazu brauchte es als Zutaten auf beiden Seiten: Ehrgeiz, Misstrauen, Intrigen, Ruhmsucht und Hybris. Von allen haben die Protagonisten Napoleon und Alexander reichlich im Tornister.

„Der Wein ist eingeschenkt“

„Der Wein ist eingeschenkt, er muß getrunken werden“, entgegnet Napoleon nach der Schlacht von Smolensk (August 1812) seinen Generälen, die der Überzeugung sind, die Grande Armée solle nicht mehr weiter nach Russland vordringen, es seien für einen einzigen Feldzug genügend Strapazen ertragen worden. Für Napoleon, den einstmals strahlenden Strategen, ist Rückzug jedoch keine Option. Er will weiter, immer weiter und damit der Katastrophe entgegen.

Adam Zamoyski, 1812. Napoleons Feldzug in Russland. Von den 550 000 bis 600 000 Mann, die auf französischer Seite für Napoleon kämpften, kehrten im Dezember 1812 nur rund 120 000 zurück. Auf russischer Seite fielen bis zu 400 000 Soldaten in einem Krieg, der die Menschen bis heute bewegt und „für politsche Zwecke vereinnahmt“ wird. Zamoyskis Verdienst ist es, dass er mit zahlreichen Mythen, Fehleinschätzungen und propagandistischen Interprationen aufräumt und zeigt, dass ein Krieg vor allem Opfer und kaum Helden hervorbringt.

Wer glaubt, Geschichte sei eine trockene Angelegenheit, lese 1812. Dieses Buch ist ein spannendes und bewegendes Meisterwerk über eine große menschliche Katastrophe!

Buchinformation

Adam Zamoyski
1812. Napoleons Feldzug in Russland
aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting
Verlag C.H. Beck, München, 2012
ISBN: 978-3-406-63170-2

Zum 250sten Geburtstag von Napoleon Bonaparte erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Aufsatz über „Frankreichs Nationalmythos – und was ihn mit Emmanuel Macron verbindet“. Kann man hier online nachlesen.

N.K. | C.K.

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