Die fantastische Komödie „Poor Things“ mit Emma Stone

In diesem Film sind die Männer die Deppen

Er wird sich noch wundern: Emma Stone und Mark Ruffalo in einer Szene aus „Poor Things".

Er wird sich noch wundern: Emma Stone und Mark Ruffalo in einer Szene aus „Poor Things".

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Was ist denn das für ein Monster? Womöglich ein Zombie? Es stakst und grient, die gesamte Motorik wirkt schrecklich ungelenk. Es betatscht, was ihm in den Weg gerät, und wird fuchsteufelswild, wenn es nicht bekommt, was es haben möchte. Mal abgesehen davon, dass es das ungeliebte Abendessen gleich wieder auf den Teller spuckt oder eben diesen vom Tisch wischt.

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Aber dieses Monster hat neugierige Augen. Es erforscht seinen Körper und auch seine zunächst überschaubare Welt hinter den Mauern eines seltsamen viktorianischen Anwesens, in dem Chimären aus Huhn und Hund, Ente und Ziege, Schwan und Mops (oder so ähnlich) gackern, meckern und quaken.

Nein, das ist kein Zombie, sondern ein Kleinkind im Körper einer jungen Frau. In Bellas Kopf steckt das Gehirn eines Neugeborenen. Bella (Emma Stone) selbst trug es in ihrem Bauch, als sie sich von der Londoner Tower Bridge in den Tod stürzte, um ihr Leben zu beenden. Damals hieß sie noch anders, aber das kann Bella (noch) nicht wissen.

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Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) fand die klinisch tote Frau am Ufer der Themse, trug sie auf seinen Armen nach Hause und startete sein Menschenexperiment mithilfe von Knochensäge, Skalpell und Elektroschocks. Der Forscher mit dem schrecklich vernarbten Gesicht, selbst ein Opfer des Wissensdrangs seines Vaters und nun seinerseits herangereift zum Mad Scientist, taufte sie Bella. Sie nennt ihn God. Gewissermaßen ist er ja auch ihr Schöpfer, allerdings ein freundlich-väterlicher, der sich müht, Forschung und Gefühle zu trennen.

Menschenexperimente sind seine Spezialität

Menschenexperimente sind auch die Spezialität von Regisseur Yorgos Lanthimos. Der Grieche arrangiert in seinen Filmen mit abgründigem Humor soziologische Versuchsanordnungen, egal ob er sich in „Alpen“ (2011) mit Trauer und Identität beschäftigt oder in „Lobster“ (2015) den Datingwahn unserer Tage ad absurdum führt.

Zuletzt begeisterte Lanthimos in der Historiengroteske „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ (2018) mit einer dekadenzgesättigten Beziehungsgeschichte am Hofe von Queen Anne. Der einstige Anführer der „Neuen griechischen Welle“ hat sich mit erfrischend eigenwilligem Arthouse-Kino zum internationalen Regiestar gemausert.

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Nun studiert Lanthimos in der Verfilmung des gleichnamigen Romans „Poor Things“ des schottischen Autors Alasdair Gray (1934–2019) die Erschaffung eines weiblichen Frankenstein-Monsters. Wir werden Zeuge einer ungewöhnlichen Emanzipationsgeschichte. Anders gesagt: Wir erleben die Befreiung einer Frau von männlichen Fesseln. Worum das weibliche Geschlecht seit Jahrhunderten kämpft, erledigt Bella bei einer schaurig-schrägen Grand Tour quer durch Europa (inklusive eines herrlichen Disputs mit Hanna Schygulla über Sex im Alter).

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Bella macht schnelle Fortschritte. Sie lernt 15 Wörter am Tag, wie der junge Arzt Max McCandles (Ramy Youssef) akribisch aufzeichnet. Ihn hat Baxter eigens zu diesem Zwecke angestellt, und Baxter wünscht sich noch mehr: Max soll Bella heiraten, das Paar bei ihm wohnen, damit er seinem Forschungsgegenstand stets nahe sein kann.

Die Gurke am Mittagstisch

Denn noch etwas hat Bella an sich entdeckt: ihre sexuelle Lust, erstmals bei einem Experiment mit Apfel und Gurke am Mittagstisch – und alsbald mit dem Rechtsanwalt und Dandy Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo). Dabei war der Jurist nur ins Haus gekommen, um den Ehevertrag mit Max aufzusetzen.

Duncan verfällt wie alle Männer diesem genauso lustvollen wie angstfreien Wesen, mit dem er auf eine sexuelle Abenteuerreise geht, zunächst nach Lissabon. Bald aber muss er erleben, dass sich die Machtverhältnisse umkehren.

Bella nimmt sich auch als geistig zur Frau Herangereifte, was und wen sie will. Wedderburn wird Opfer unkontrollierbarer Eifersuchtsschübe. Mehr und mehr macht er sich zum Deppen – und damit ist er nicht der einzige Mann in dieser aktuellen Schauergeschichte im Gothic-Flair.

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Die Städte, egal ob Lissabon, Alexandria oder Paris, sind Theaterkulisse, aufgenommen mit verzerrendem Fischaugenobjektiv (Kamera: Robbie Ryan). Es sieht so aus, als habe sich Lanthimos von Dekorierweltmeister Wes Anderson („Grand Budapest Hotel“) und Körperhorrorkönig David Cronenberg („Crimes of the Future“) gleichermaßen inspirieren lassen.

Ein Höhepunkt auf Bellas Trip in die weibliche Freiheit: die Einführung des Sozialismus in einem Pariser Bordell. Am Ende wird Bella ihre Vergangenheit einholen. Aber da ist ihre Abnabelung von der Männerherrschaft weit fortgeschritten.

„Poor Things“ wurde beim Venedig-Festival im Herbst gefeiert und mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, dann auch mit dem Golden Globe als beste Komödie. Sowohl Stone als auch Ruffalo erhielten in Hollywood die Darstellerpreise. Mit unbändigem Furor stürzen sie sich in ihre Rollen. Die nächste Station auf dem Weg dieses klugen, witzigen, fantasievollen Films (Drehbuch: Tony McNamara) dürfte die Oscar-Verleihung am 10. März sein.

 

„Poor Things“, Regie: Yorgos Lanthimos, mit Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo, 155 Minuten, FSK 16

Bei der Oscarverleihung 2024 ist „Poor Things“ in elf Kategorien nominiert:

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  • Bester Film
  • Beste Regie (Giorgos Lanthimos)
  • Beste Hauptdarstellerin (Emma Stone)
  • Bester Nebendarsteller (Mark Ruffalo)
  • Bestes adaptiertes Drehbuch
  • Beste Kamera
  • Bestes Szenenbild
  • Bestes Kostümdesgin
  • Bestes Make-up und beste Frisuren
  • Beste Filmmusik
  • Bester Schnitt

Das sind alle Oscarnominierungen 2024 in der Übersicht.

Wir haben diesen Artikel am 10. März 2024 neu veröffentlicht.

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