Schuld und Vorurteil - Klassedrama “Lost Girls” bei Netflix

Paraderolle für eine große Charakterdarstellerin: Amy Ryan (hier bei einer Diskussionsrunde zu dem Film "Lost Girls" in New York) spielt eine Mutter, die ihre verschwundene Tochter sucht. Dokuregisseurin Liz Garbus inszenierte ihren ersten Spielfilm nach wahren Begebenheiten.

Paraderolle für eine große Charakterdarstellerin: Amy Ryan (hier bei einer Diskussionsrunde zu dem Film "Lost Girls" in New York) spielt eine Mutter, die ihre verschwundene Tochter sucht. Dokuregisseurin Liz Garbus inszenierte ihren ersten Spielfilm nach wahren Begebenheiten.

Prostituierte sind Projektionen der Überlegenheit. Die einen bedauern in den „gefallenen Mädchen“ den Verfall der Zeiten und blicken wohlgefällig und bis zu einem gewissen Grad sogar hilfsbereit auf die vermeintlich Fehlgetretenen herab. Die anderen, die „Kundschaft“, verdinglichen die „Hure“ und begreifen sie in Begriffen von Ware und Angebot. Je mehr Dollars, desto mehr geht. Zwar hat der nüchterne Begriff der „Sexarbeiterin“ eine gewisse Mündigkeit und Würde zurück ins Spiel mit den Bildern gebracht, aber noch immer ist der Job mit der überheblichen Frage versehen: „Wie konnte es soweit kommen?“

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Auch Mari Gilbert, die Mutter der „Eskortdame“ Shannan, hat ihren anderen Töchtern Sherre und Sarra tunlichst verschwiegen, womit ihre Schwester ihr Geld verdient. Wenn Mari knapp bei Kasse ist, weil der Schichtleiter bei der Arbeitseinteilung wieder einmal eine ihm wohlgefälligere Kollegin bevorzugt, springt die Tochter mit ein paar Scheinen ein, damit die Familie nicht ein weiteres Mal auseinandergerissen wird wie damals, als die bipolare Shannan mit 12 Jahren in eine Pflegefamilie gegeben wurde.

An diesem Abend hat sich „Diva“, wie ihre Teenieschwestern sie nennen, zu Besuch angekündigt. Aber sie kommt nicht. Kommt nie wieder. Etwas ist ihr zugestoßen, sie ist bei ihrem letzten Freier womöglich dem Tod begegnet.

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Der Film verspricht keine Thriller-Auflösung

Gleich vorweg hält der auf einer wahren Geschichte gründende Netflix‘-Film „Lost Girls“ eine Enttäuschung für uns bereit. Ein Schriftband spricht von einem „ungelösten amerikanischen Rätsel“. Die Ermordung der vielen „verlorenen Mädchen“ wird dem Long Island Mörder zugeschrieben, der in einem vagen Zeitraum von zehn bis 20 Jahren bis zu 16 Menschen getötet haben soll. Der Täter wurde nie gefasst, und diesbezüglich weicht Regisseurin Liz Garbus auch kein Deut von der Wahrheit ab. Sie will keinen Thriller aus den ab 2010 tatsächlich vorgefallenen Dingen schnitzen, keine Suspensegeschichte.

Wir bekommen also nicht eine uns erlösende Lösung à la „Schweigen der Lämmer“ serviert. „Lost Girls“ ist weniger und viel mehr - ein amerikanisches Gesellschaftsgemälde aus der amerikanischen Unterschicht.

Gemälde in den Farben der Trostlosigkeit

Es ist ein Gemälde in den Farben der Trostlosigkeit, das die als eine der relevantesten amerikanischen Stimmen des Dokumentarfilms gefeierte Garbus (ihre Gefängnisfilme „The Farm, Angola, USA“, „The Execution of Wanda Jean“ und „Ghosts of Abu Ghraib“ solle man gesehen haben) in ihrem ersten Spielfilm malt. Schon am Anfang hängen die Regenbäuche des Himmels fast bis zum Boden. Die Schindeln der billigen Häuser sind nass, die Zigarette schmeckt nach Lungenkrebs und die ebenfalls bipolare jüngste Tochter kokelt auf dem Schulklo mit Papierhandtüchern. Es gibt schon Sorgen und Schwermut genug, als Shannan verschwindet.

Und die Polizei unglaublich träge darauf reagiert. Es stellt sich heraus, dass Shannans Fahrer seine völlig hysterische Schutzbefohlene im Stich ließ, als diese in Panik aus dem Haus ihres letzten Freiers floh. Es stellt sich darüber hinaus heraus, dass ein Arzt, der in der Nähe des möglichen Tatorts lebte, Überwachungsbänder, die die Vorgänge festgehalten haben mussten, wie gewohnt überspielte, nur weil die Polizei nicht nach ihnen fragte. Und es stellt sich heraus, dass Beamte erst eine geschlagene Stunde nach dem panischen „Helft mir!“-Notruf Shannans in der bewachten Siedlung Oak Beach auftauchten, und niemanden finden konnten, weil Shannan da wahrscheinlich schon in ihrem Grab in der Marsch lag, in dem ihre skelettierte Leiche einige Jahre später gefunden und identifiziert wurde.

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Eine Paraderolle für die großartige Amy Ryan

Es ist diese „nur 'ne blöde Nutte“-Haltung, die Idee, dass der Tod einer Prostituierten nicht so schlimm ist wie der einer anderen (ehrbaren) Frau, die Garbus steil herausarbeitet. Und in ein nüchternes, eindringliches, spannendes, gar nicht einmal unbedingt feministisches Postulat verwandelt: Jeder Mensch ist seine Rettung wert.

Der Film ist für die großartige Amy Ryan („Gone Baby Gone“, „Capote“) was der ähnlich gelagerte, weit loser auf tatsächlichen Begebenheiten basierende „Three Billboards Ouside Ebbing, Missouri“ für Frances McDormand war. Ryans Mari ist wandelnde Aggression, aus Schuld gewachsener Zorn darüber, ihre Erstgeborene nicht besser ins Leben begleitet zu haben. Die Polizei hängt ein, als sie am Telefon laut wird, aber sie lässt sich nicht abschütteln. Mari bewegt jetzt endlich alles, um für Shannan da zu sein. Und in Commissioner Doman (Gabriel Byrne) findet sie schließlich auch einen Polizisten, der zuhört, statt ihr ins Wort zu fallen oder ihr achselzuckend die moralische Position ihrer Tochter zu bezeugen: “Was haben Sie erwartet?”

Sobald Doman sich offenkundig nicht mehr im Hirngespinst einer verzweifelten Mutter sondern in einem tatsächlichen Geheimnis bewegt, ist auch ihm die verschwundene Prostituierte nicht mehr egal, ist auch ihm eine Welt schwer erträglich, in der Mörder davon ausgehen, dass über tote Nutten ganz schnell Gras wächst. Die Unbeirrbarkeit, mit der Mari zur Not auch über ihn hinweg agiert, ermittelt, insistiert führt dann auch zu ersten Ergebnissen: Vier Leichen werden ausgegraben, strangulierte Frauen, in Jutetücher gehüllt. Shannan ist nicht dabei.

Roy Orbisons “Beautiful Dreamer” klingt wie ein Kindertotenlied

Am Ende bleibt Unruhe und Beunruhigung im Betrachter. Über das Gesehene und das Nichtgesehene. Über die, die man ausblendet, auf die man herabschaut. Und über die unglaubliche Gewalt, die Menschen verüben, die Gewalt, die hinter sauberen Gardinen lebt, die in lächelnden Köpfen steckt. Atmosphärisch dicht (und spannend wie einen Thriller) erzählt Garbus ihre Geschichte in schlanken 95 Minuten. Streicher und Seufzer verbinden sich zu einer dunklen Filmmusik, Und Roy Orbisons zuckersüßes Evergreen vom „Beautiful Dreamer“ liegt wie ein Kindertotenlied über „Lost Girls“: „Sounds of the rude world / heard in the day / led by the moonlight / have all passed away.“

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„Lost Girls“, Regie: Liz Garbus, mit Amy Ryan, Gabriel Byrne, 95 Minuten, streambar ab 13. März

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