Machterhalt nach Moskauer Art

Der Feldzug im Feldzug: Begleicht Putin in Russland jetzt offene Rechnungen?

Wladimir Putin am Tag des Sieges in Moskau.

Wladimir Putin am Tag des Sieges in Moskau.

Moskau. Es kommt einem manchmal wie ein Krieg der Worte vor: Inzwischen vergeht kaum ein Tag, an dem in deutschen Talkshows nicht Wehrexpertinnen und Wehrexperten wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) oder Roderich Kiesewetter (CDU) mit Protagonistinnen und Protagonisten wie Sarah Wagenknecht (Die Linke) oder Harald Welzer darüber streiten, ob Waffenlieferungen in die Ukraine sinnvoll sind, oder nicht.

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Die Debatte darüber, wie der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine in einen nachhaltigen Frieden überführt werden könnte, wird dabei zuweilen sehr hitzig geführt. Selten ist man sich so oft ins Wort gefallen. Der Fokus der Diskussionen liegt dabei fast immer auf der Geo- und Außenpolitik.

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Genau das könnte allerdings ein Grund dafür sein, dass in diesen TV-Debatten viel leidenschaftliches Pulver umsonst verschossen wird. Und zwar, weil die Kontrahenten und Kontrahentinnen möglicherweise noch gar nicht alle Ziele aufs Korn genommen haben. Dafür spricht zumindest, dass russische Kommentatoren, die im Machtgefüge des Kremls besser vernetzt sind als deutsche Expertinnen und Experten, auch in der russischen Innenpolitik die Erklärung dafür suchen, warum der Konflikt mit der Ukraine in einer Weise eskaliert ist, die zunächst kaum vernünftig erklärbar erscheint.

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Die Ausdeutungen laufen dabei oft darauf hinaus, dass Russlands Kampf gegen das Nachbarland und den Westen insgesamt ein Vehikel darstellt, die autoritäre Macht des Regimes nach innen hin abzusichern.

Putin: „Wirtschaftlicher Blitzkrieg des Westens gescheitert“
ST PETERSBURG, RUSSIA  JUNE 18, 2022: Russia s President Vladimir Putin attends a meeting with Milorad Dodik, the Serb member of the Bosnia and Herzegovina Presidency, on the sidelines of the 2022 St Petersburg International Economic Forum SPIEF held at the ExpoForum Convention and Exhibition Centre. Gavriil Grigorov/TASS Host Photo Agency PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY TS136839

Bei einer Rede auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg hat sich der russische Präsident Wladimir Putin zu westlichen Sanktionen geäußert.

In einem vielbeachteten Artikel in der angesehenen US-Fachzeitschrift „Foreign Policy“ beschäftigte sich vor wenigen Tagen etwa die Politologin Tatiana Stanovaya mit Annahmen über Putin, bei denen der Westen ihrer Ansicht nach falsch liegt. Eine dieser unzutreffenden Auffassungen sei etwa die Mutmaßung, dass dem russischen Präsidenten eine Destabilisierung der innenpolitischen Lage in Russland bis hin zum Putsch drohen könnte: „Das Gegenteil ist der Fall, zumindest im Moment“, schreibt Stanovaya. „Die russische Elite ist so besorgt darüber, wie sie politische Stabilität gewährleisten und Proteste vermeiden kann, dass sie sich um Putin als den einzigen Führer schart, der das politische System festigen und Unruhen verhindern kann. Heute etwas gegen Putin zu unternehmen, käme einem Selbstmord gleich.“

Kampf gegen den illoyalen Geldadel

Die Isolation Russlands in der westlichen Welt spielt Putin nach Auffassung des Politologen Kirill Rogov auch deswegen in die Hand, weil die westlichen Sanktionen vor allem jenen Teilen der russischen Elite schadeten, die ihr in Russland angehäuftes Geld ins Ausland geschafft haben. Das beträfe etwa die Mitglieder der alten Oligarchie aus den Neunzigerjahren wie Michail Fridman, Roman Abramowitsch, Oleg Deripaska und andere. Der Kreml habe die Mitglieder, die er dem Staat gegenüber als illoyal betrachtet, zwar schon politisch entmachtet, durch die Sperrung ihrer westlichen Konten würden sie nun aber weiter geschwächt werden.

Die regimetreuen Gruppen im Sicherheitsapparat, die ihr Vermögen in Russland gelassen hätten, würden nun im Vergleich dazu gestärkt: „Ihre Vermögenswerte, die auf Energieeinnahmen beruhen“, schreibt Rogov in einem Essay für das Exil-Nachrichtenportal „Meduza“, „sind durch die isolationistische Tendenz des Landes vor westlichem Zugriff sicher. Und die Untergrabung ihres politischen Einflusses ist nur möglich, wenn sie mit der Untergrabung der russischen Wirtschaft als Ganzes einhergeht.“

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Teil der alten Oligarchie: Roman Abramowitsch, Milliardär und  ehemaliger Besitzers des FC Chelsea.

Teil der alten Oligarchie: Roman Abramowitsch, Milliardär und ehemaliger Besitzers des FC Chelsea.

Das ist bislang nicht abzusehen, denn Russlands Wirtschaft hat sich bisher erstaunlich widerstandsfähig gegen die westlichen Sanktionen gezeigt, wie die „New York Times“ Ende vergangener Woche ausführlich darlegte.

Der Publizist Maxim Trudoljubow hat noch eine ganz andere Interpretation dafür, warum der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine derartig ausgeartet ist: „Das ist nicht nur ein Kampf zwischen zwei Armeen und zwei Gesellschaften, sondern auch zwischen zwei Generationen“, schreibt er in einem Beitrag für „Meduza“. Zwischen der russischen und der ukrainischen Führungsspitze gebe es einen eklatanten Altersunterschied. Wladimir Putins enge Vertraute und wichtige Beamte seien größtenteils um die 20 bis 30 Jahre älter als die ukrainische Führung und das Team von Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Die „letzte sowjetische Generation“

Auch innerhalb Russlands bestehe ein Generationenkonflikt, schreibt Trudoljubow weiter. Und zwar zwischen der „letzten sowjetischen Generation“ (geboren zwischen den späten 1940ern bis in die frühen 1960er) und jenen Leuten, die im Westen als „Generation X“ bezeichnet werden, also den Jahrgängen der späten 1960er bis in die frühen 1980er.

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Trudoljubow bezieht sich dabei auf den Anthropologen Alexej Jurtschak, der in seinem Buch „Alles war für immer, bis es nicht mehr da war“ schon im Jahr 2006 argumentierte, dass die sowjetische Gesellschaft während der Stagnation in der späten UdSSR, also in der Zeit, in der Putin aufwuchs, jeglichen kollektivistischen Idealismus früherer Zeiten verlor und sich dem materiellen Wohlstand und den Werten des Individualismus zuwandte. Diese Menschen hätten eine tiefe Desillusionierung in Bezug auf die Perspektiven ihres Landes erfahren. Und sie seien es gewesen, die, ohne sich ein idealistisches Ziel zu setzen, das sowjetische System zu Grabe trugen.

 Paris, France, June 19, 2022 - Leader of left wing coalition NUPES Nouvelle Union Populaire Ecologique et Sociale Jean Luc Melenchon delivers a speech after the first results of the parliamentary elections. PUBLICATIONxNOTxINxFRA Copyright: xAlexisxSciardx

Putins nützliche Idioten in Frankreich

Die zweite Runde der Parlamentswahl wurde zu einem neuem Paukenschlag des Popu­lismus in Europa: Radikale von links und rechts sind jetzt in Frankreich so stark wie noch nie. Die Mitte gerät in die Zange. Und die Nation, die mehr als andere eine Führungsrolle in der EU beansprucht, droht ihren eigenen Kompass zu verlieren.

Dieser „letzten sowjetischen Generation“, wie sie Jurtschak im Untertitel seines Buches nennt, stellt Trudoljubow die Altersgruppe gegenüber, die unter Gorbatschow und Jelzin in den Perestroika-Jahren aufwuchs. Der soziale und kulturelle Kontext ihrer Jugend unterscheide sich grundlegend vom Bezugsrahmen, in dem ihre Vorgänger groß wurden, stellt er klar. Die Kinder der Stagnationszeit hätten Enttäuschungen erlebt – die Kinder der Perestroika Hoffnungen.

Alte Rechnung aus den Neunzigerjahren

Trudoljubow macht an dieser Konstellation ein entscheidendes Problem fest: „Gäbe es in Russland funktionierende Wahlen und andere demokratische Verfahren, um den Wechsel der politischen und wirtschaftlichen Macht zu organisieren“, schreibt er, „wären diejenigen, die unter Breschnew aufgewachsen sind, durch diejenigen ersetzt worden, die unter Gorbatschow und Jelzin ihre Jugend erlebten.“

Doch genau das wolle die heutige Nomenklatura verhindern, unter anderem wegen einer alten Rechnung: Die ehemaligen Sicherheitskräfte der Sowjetunion (die sogenannten Silowiki), die heute das Regime stellen, hätten es als Demütigung empfunden, dass sie in den 1990er Jahren nur die zweite Geige spielten, während Mitglieder der Generation X wie Abramowitsch oder Deripaska enorm einflussreich geworden seien. „Die Putin-Jahre waren ihre Rache“, schreibt Trudoljubow, „ihr Kampf gegen Autonomie, Unabhängigkeit und die Jugend als solche.“ Ganz ähnlich argumentiert die britische Journalistin Catherine Belton in ihrem Bestseller „Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“, der im Februar einen Tag vor Beginn der russischen Offensive in der Ukraine in deutscher Sprache erschien.

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Treffen mit Selenskyj: US-Filmstar Ben Stiller in der Ukraine

In seiner Rolle als Sonderbotschafter will der US-Filmstar ein Zeichen setzen und ruft zur globalen Solidarität mit Geflüchteten auf.

Auch der Soziologe Michail Anipkin erkennt diesen speziellen Clash der 70-Jährigen gegen die 40- bis 55-Jährigen in seinem Land. „Putins Generation vertraut meiner Altersgruppe – der Perestroika-Generation – am wenigsten und glaubt (zu Recht), dass wir einen Groll gegen sie hegen“, schreibt er in einer Studie. Er und Gleichaltrige hätten das Gefühl, dass Putins Generation sie „verarscht“ habe – nicht nur wegen ihrer Weigerung abzutreten, sondern auch, weil sie ihre eigenen Kinder (in der Regel Millenials, geboren zwischen 1980 und 2000) nun in die Positionen bugsiere, die der völlig übergangenen Perestroika-Generation schon lange zugestanden hätten.

Maximale Kontrolle

Doch genau diesen Zustand will die russische Machtelite mit aller Gewalt konservieren, ist sich Trudoljubow sicher: „Indem sie den Einsatz ständig erhöhen und ihre Herrschaft immer extremer anlegen“, schlussfolgert er, „nutzen Putin und sein innerer Zirkel mehr und mehr Mechanismen, um den Zugang zu Einfluss und Politik zu kontrollieren. Die Angst vor der Preisgabe der Macht ist die eigentliche Ursache für den Konflikt, den der russische Präsident entfesselt hat.“

Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel posiert  in ihrem Buero fuer ein Foto. Berlin, 15.06.2022

„Jetzt bin ich frei“

Sechs Monate nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft hat Angela Merkel das RedaktionsNetzwerk Deutschland zu dem ersten Interview in ihrem neuen Büro empfangen. In dem sehr persönlichen Gespräch blickt die Bundeskanzlerin a.  D. zurück auf ihre Russland-Politik und die Entscheidung für Nord Stream 2. Und erklärt, warum sie nie offen Partei für die Ostdeutschen ergriffen hat.

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Ob Rogovs und Trudoljubows These von der außenpolitischen Eskalation aus innenpolitischen Gründen tatsächlich zutreffend ist, werden Historiker wohl erst in einigen Jahren herausfinden können. Doch sollte es so sein, dann ist die Tragödie, die sich derzeit in der Ukraine abspielt, aus Sicht der russischen Machthaber strategischer angelegt, als es den Beteiligten der deutschen Debatte bewusst zu sein scheint.

Ein Feldzug des Feldzugs willen, das könnte nicht nur ein außen-, sondern auch ein innenpolitisches Kalkül des Kremls sein, so beunruhigend dieser Gedanke ist.

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