„New York Times“ wertet geleakte Kremldokumente aus

Als Spaziergang geplant: Wie Putins Krieg zur Katastrophe für Russland wurde

Ukrainische Gräber sind auf einem Friedhof in Bachmut.

Ukrainische Gräber sind auf einem Friedhof in Bachmut.

Es ist das Protokoll eines Scheiterns, eines Scheiterns zum Preis von bislang schätzungsweise 100.000 russischer Menschenleben, Zehntausender ukrainischer Soldaten, Tausender ziviler Männer, Frauen und Kinder. Ein Scheitern zum Preis zweier zerstörter Länder, vielleicht einer ganzen kontinentalen Region.

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+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++

Die „New York Times“ hat Wladimir Putins zehnmonatigen Angriffskrieg gegen die Ukraine akribisch auf der Grundlage Hunderter geleakter Emails, Dokumente, Invasionspläne, Militärbücher und propagandistischer Anweisungen ausgewertet, zudem wurden mitgehörte Telefongespräche herangezogen, Soldaten, hochrangige Beamte und Vertraute des russischen Präsidenten befragt. „Putins Krieg“ liest sich wie das Drehbuch eines durch Größenwahn herbeigeführten Untergangs des einst stolzen und mächtigen Landes.

Was im Westen immer schon gemutmaßt wurde, scheinen die Dokumente zu bestätigen: Dieser Krieg basiert vor allem auf dem Willen, der wahnsinnigen Idee eines von Informationen und Kritik seit langem abgeschnittenen Alleinherrschers: „Putin entschied, dass sein eigenes Denken ausreichen würde“, wird ein langjähriger Berater des russischen Präsidenten zitiert. „Wenn dir alle um dich herum 22 Jahre lang sagen, dass du ein Supergenie bist, dann wirst du anfangen zu glauben, dass du das bist“, sagte Oleg Tinkow, ein ehemaliger russischer Bankmagnat.

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Putin war 16 Monate weitgehend isoliert

Aus seinem Umfeld heißt es, Putin habe sich vor allem während der strengen Isolation zu Zeiten der Pandemie radikalisiert. Er verbrachte 16 Monate, ohne einen einzigen westlichen Regierungschef persönlich zu treffen. Es gab keine Kommunikation mehr, keine kritische Stimme erreichte ihn.

Zum Verhängnis wurde dem Präsidenten dabei, dass er den eigenen Lügen glaubte und das System, dessen Produkt der ehemalige KGB-Offizier ist, geradezu sträflich missverstand. So waren zwar über die Jahre Hunderte Milliarden Dollar in eine Modernisierung der Streitkräfte investiert worden, doch durch die allgegenwärtige Korruption war nur ein Bruchteil davon tatsächlich am Bestimmungsort angekommen. Putins Armee blähte sich zu einem gewaltigen potemkinschen Dorf auf – ein Zahlenmonster ohne Substanz.

Ukrainische Soldaten inspizieren die Trümmer einer zerstörten russischen Panzerkolonne auf einer Straße in Butscha, einem Vorort nördlich der Hauptstadt Kiew.

Ukrainische Soldaten inspizieren die Trümmer einer zerstörten russischen Panzerkolonne auf einer Straße in Butscha, einem Vorort nördlich der Hauptstadt Kiew.

Putins Oligarchendynastie ist vor allem ein gigantischer Selbstbedienungsladen der herrschenden Nomenklatur. Ein militärischer Dienstleister beschreibt, wie hektisch riesige patriotische Transparente aufhängt wurden, um die heruntergekommenen Bedingungen auf einem großen russischen Panzerstützpunkt zu verbergen, in der Hoffnung, so eine hochkarätige Delegation zu täuschen.

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Die Invasion am 24. Februar begann mit einer Kette unglaublicher Fehler, die alle aufzuzählen hier der Platz nicht reichen würde. Eine Auswahl: Die Invasoren stützten sich auf alte Karten und schlechte Informationen, sie ließen die ukrainische Luftverteidigung überraschend intakt, was den Kreml alsbald seiner Luftüberlegenheit beraubte – und die Bodentruppen schutzlos werden ließ.

Russlands gepriesene Hacking-Abteilungen scheiterten im Cyber-War, die Ausrüstungen der Soldaten waren unterirdisch, Soldaten benutzten ihre Handys, um zu Hause anzurufen, was sie zu Zielen der Ukrainer machte. Schlechtes Material, geplatzte Reifen zum Beispiel, ließen die gewaltigen Konvois von Militärfahrzeugen stoppen – und machten sie so zu Zielscheiben.

27.01.2022, Polen, Tolcze: Ein bewaffneter Grenzsoldaten bewachet die Grenze zu Belarus. Polen hat mit dem Bau einer 394 Millionen Dollar teuren Mauer an seiner Ostgrenze begonnen, um von Belarus eingeschleuste Migranten daran zu hindern, illegal in das Gebiet der EU einzureisen. Die Europäische Union hat den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko beschuldigt, als Vergeltung für die EU-Sanktionen Migranten in die EU einzuschleusen, um Instabilität zu schaffen. Foto: Attila Husejnow/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Deutlich mehr illegale Migration: die vielen Wege nach Europa

Die Zahl illegaler Grenzübertritte in die EU hat gegenüber dem Vorjahr um 77 Prozent zugenommen. Wie schon 2021 drängen wieder verstärkt Flüchtlinge aus Belarus nach Polen, von denen die meisten weiter nach Deutschland wollen. Die Grünen-Politikerin Karin Göring-Eckardt kritisiert das polnische Grenzregime als „unwürdig“.

Irrtümliche Gefechte und echte Spannungen untereinander

Die fehlende Kommunikation führte immer wieder dazu, dass die aus Separatisten, ethnischen Minderheiten und Berufssoldaten zusammengewürfelten Armee sich irrtümlicherweise gegenseitig bekämpfte. Diese irrtümlichen Gefechte führten auch in verschiedenen Fällen zu echten Spannungen – zum Beispiel zwischen russischen und angeblich besser versorgten tschetschenischen Verbänden.

Interviews mit russischen Soldaten zeigen, wie fassungslos sie waren, als der Angriffsbefehl kam. Das Hauptproblem der Russen sei nach Auskunft eines russischen Militärangehörigen, der sich Oleksij nennt, die fehlende Agilität: Russlands Militär sei so starr und zentralisiert, dass es normalerweise 48 bis 72 Stunden brauche, um seine Informationen zu aktualisieren und die Genehmigung zu erhalten, neue Ziele zu verfolgen.

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Russland setzt Angriffe in Donezk fort

Der russische Angriff, einer der größten seit dem Beginn des Krieges, legte umfangreiche Teile der zivilen ukrainischen Infrastruktur lahm.

Beispiel: Ein als „Hauptstoß“ der ersten Invasionstage geplanter Fallschirmjägerangriff auf den Flughafen Kiew-Hostomel, dort war auch die legendäre An-225 stationiert, bis dato das größte Transportflugzeug der Welt, kostete Hunderten russischer Fallschirmjäger das Leben, zudem verlor der Kreml Dutzende Hubschrauber und Flugzeuge. Eine reine Prestige-Aktion. Die Russen zerstörten zwar das weltbekannte Transportflugzeug, militärisch gesehen war die Aktion aber ein Fiasko.

Zahlreiche einzelne Pannen summierten sich zu einer einzigen militärischen Katastrophe, in der kleinere Erfolge die Ausnahme bildeten. Aus zahlreichen Äußerungen Putins geht hervor, dass er sehr früh gewusst haben muss, dass sein als „Spaziergang“ (walk in the park) geplanter Einmarsch in einen extrem verlustreichen, sich hinziehenden Krieg mündet.

„Plünderungen in ihrer ganzen Pracht“

Gegenüber Insidern, aber auch dem israelischen Premier Naftali Bennett sowie amerikanischen Diplomaten gab Putin deutlich zu verstehen, dass er bereit sei, unzählige Leben zu opfern – bis zu 300.000 Soldaten, wird ein Nato-Vertreter mit Verweis auf den Kreml zitiert, also dreimal so viele Menschen wie bisher.

Die Jungs gingen von Wohnung zu Wohnung und holten große Taschen heraus – Plünderungen in ihrer ganzen Pracht.

Aus dem Tagebuch eines russischen Soldaten

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Weil die Stimmung in der von der kriegerischen Realität überraschten russischen Armee schlagartig schlechter wurde, sahen Vorgesetzte weg, wenn gestohlen, vergewaltigt, gemordet wurde.

„Die Jungs gingen von Wohnung zu Wohnung und holten große Taschen heraus – Plünderungen in ihrer ganzen Pracht“, schrieb ein russischer Soldat Mitte März in sein Tagebuch. So ließ sich zumindest anfänglich der Unmut über die katastrophale Unterversorgung der russischen Truppen auffangen. In dem Tagebuch erzählt der Soldat von der Jagd nach Medikamenten, Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Dingen und beschreibt die Freude, die seine Männer empfanden, wenn sie ein Lebensmittelgeschäft betraten. „Wir haben alles gefunden, was uns so sehr gefehlt hat, sogar Süßigkeiten“, schrieb er.

Russische Soldaten benutzten von Zivilisten gestohlene Mobiltelefone, um zu Hause anzurufen – und tauchten so plötzlich in ukrainischen Netzen auf. „Wir haben den russischen Soldaten zugehört, als sie in Panik gerieten und ihre Freunde und Verwandten anriefen“, so ein ukrainischer Beamter. Die Lauscher gaben die Details an die ukrainischen Streitkräfte weiter, um Hinterhalte und Gegenangriffe durchzuführen.

„Putins Krieg“ wird in der „New York Times“ auch als eine Art persönlicher Revanche des Kreml-Paten gegen seinen Intimfeind Wolodymyr Selenskyj beschrieben. Als dieser 2019 durch einen Erdrutschsieg gewählt wurde, sah der Kreml in ihm noch jemanden, mit dem er zusammenarbeiten könnte: ein russischsprachiger Komiker, der in Moskau gelebt hatte, im russischen Fernsehen auftrat und mit der Botschaft gewann, den Krieg in der Ostukraine beenden zu wollen.

Putin vertraute zunächst Selenskyj

Auch weil Selenskyj Jude ist, erwarteten viele in Moskau, er werde hart gegen den nationalistischen Flügel der Ukraine vorgehen. „Ich denke, er ist aufrichtig bereit“, mit Russland einen Kompromiss einzugehen, sagte Putin 2019 über Selenskyj. „Das ist seine aufrichtige Überzeugung, zumindest sein Streben.“ Doch unter „aufrichtiger Überzeugung“ verstand der Kreml Unterwerfung – und dazu war Selenskyj nie bereit.

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Anfang 2021 zerstoben sich die Hoffnungen des Kreml dann. Selenskyj ging hart gegen pro-russische Interessen in der Ukraine vor, schloss pro-russische Fernsehsender und sanktionierte ukrainische Oligarchen, die Putin nahestanden. Bereits im Oktober 2021 äußerte Putin dem israelischen Premier gegenüber, der für ein Treffen mit Selenkyj warb, „ich habe mit dieser Person nichts zu besprechen“. Da bereits schien Putin entschlossen, in Kiew militärisch einen Regimewechsel anzustreben.

Der Puma-Panzer und seine Probleme: Krisengespräch nach Pannenserie
Zwei neue Schützenpanzer Puma werden am 24.06.2015 auf dem Erprobungsgelände des Unternehmens Rheinmetall in Unterlüß in der Lüneburger Heide (Niedersachsen) offiziell vorgestellt. Die Bundeswehr hat 350 Puma für 4,3 Milliarden Euro geordert. Foto: Holger Hollemann/dpa

Nach einer Pannenserie beim Schützenpanzer Puma sollen Vertreter der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie an diesem Montag über das weitere Vorgehen beraten.

Anders als bei den begrenzteren Auslandseinsätzen wie in Syrien war die Invasion in der Ukraine „nicht das, wofür das russische Militär konzipiert war“, und versetzte es in eine Situation, auf die es wahrscheinlich „am wenigsten vorbereitet war“, resümiert der politische Analyst Clint Reach vom Thinktank RAND. Mit anderen Worten: der Kreml hat die „dümmste“ aller möglichen militärischen Optionen gewählt, indem er nach vorne gestürmt ist und versucht hat, die Ukraine zu „übernehmen“, so General Juri Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes.

So etwa, wie das im vergangenen Jahrhundert sowjetische Besatzer angesichts der Volksaufstände in Ungarn 1956 oder in Prag1968 praktiziert hatten. Als Kind des Kalten Krieges ging Putin vermutlich davon aus, dass auch Kiews Macht angesichts der rollenden Panzer schnell implodieren würde – doch die Zeiten haben sich geändert.

Selbstbetrug – der Herpes der russischen Armee

Russland habe seine Infanterie-, Luft- und Artilleriekräfte nicht darauf trainiert, zusammenzuarbeiten, sich schnell zu bewegen und sich in veränderten Situationen neu zu gruppieren, sagten Beamte. Einen Plan B gab es nach dem Scheitern des Marsches auf Kiew nicht.

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Zudem hatten Kommandeure Angst davor, ihren Chefs schlechte Nachrichten zu überbringen. „Das kollektive System des zirkulären gegenseitigen Selbstbetrugs ist der Herpes der russischen Armee“, schrieb der pro-russische Milizenkommandant Alexandr Chodakowski im Juni auf Telegram. Die Moral der einfachen Soldaten war so niedrig, dass Russland begann, seine Generäle an die Front zu schicken, um sie zu heben, was vielen von ihnen das leben kostete.

CAIRO, EGYPT - JULY 24, 2022: Russia s Foreign Minister Sergei Lavrov gives a press conference following his meeting with Egypt s Foreign Minister Sameh Shoukry at a mansion of the Egyptian Foreign Ministry. Russian Foreign Ministry Press Service/TASS PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY TS13B724

Nur noch Putins Sprachrohr: die Degradierung des Sergej Lawrow

Russlands Außenminister war einst ein geachteter Diplomat. Doch Russland pfeift auf seinen Ruf in der westlichen Welt. Am Niedergang des Sergej Lawrow zeigt sich das besonders.

„Es gibt kein einheitliches Kommando, es gibt kein einziges Hauptquartier, es gibt kein einheitliches Konzept und es gibt keine einheitliche Planung von Aktionen und Kommandos“, sagte General Leonid Iwaschow , ein russische General im Ruhestand, der früh warnte, dass dieser Krieg scheitern würde. Iwaschow: „Deshalb die Niederlagen.“

Ein Mann aus Putins Umfeld versucht in der New York Times das „Phänomen Putin“ zu entschlüsseln – und findet für diesen Krieg eine fast schon banale, weil menschliche Erklärung: „Er ist nicht verrückt und er ist nicht krank“, sagt der Mann, der Putin seit den 1990er Jahren kennt. „Er ist ein absoluter Diktator, der eine falsche Entscheidung getroffen hat – ein kluger Diktator, der eine falsche Entscheidung getroffen hat.“

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