Bahnsinn

Der Bahnsinn

Baden-Württemberg / Lesedauer: 7 min

Die Deutsche Bahn steckt in der größten Krise ihrer Geschichte – Ein Ende der Probleme ist trotz Bemühungen nicht absehbar
Veröffentlicht:19.12.2016, 19:59

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Ein Freitagnachmittag im Dezember am Stuttgarter Hauptbahnhof. Die Leute drängen sich an den Bretterzäunen der Großbaustelle vorbei und fluten die Bahnsteige. Der monotone Lärm ihrer Schritte und Stimmen wird allein durch die schrillen Töne der von Glühwein beschwingten Reisegruppen durchbrochen. Es herrscht der ganz normale Ausnahmezustand, den jeder Bahnreisende, zumal zu Stoßzeiten, kennt.

Für den Bahnprofi Matthias Gastel (Grüne) ist das kein Problem, nach kurzer Begrüßung auf Gleis 5 stellt er fest: „Wir fahren heute ja keinen Zug der Deutschen Bahn.“ Wobei unklar bleibt, was er damit sagen will, etwa: „Die Chancen stehen gut, dass wir ausnahmsweise pünktlich ans Ziel kommen.“ Oder: „In einem Schweizer Zug kann ich Ihnen den Wahnsinn der Deutschen Bahn nur unzureichend erklären.“ Vermutlich von beiden etwas, wie auch immer, mit der Gäubahn geht es in einer guten Stunde von Stuttgart bis nach Rottweil, Zeit genug, um über das Lieblingshass-Objekt der Deutschen zu reden: die Bahn. Kein Unternehmen ruft bei den Leuten so viel Groll, Wut, aber auch Spott und Zynismus hervor. Doch, mal abgesehen von subjektiven Eindrucken, in welchem Zustand ist das Staatsunternehmen tatsächlich?

Tagebuch des Scheiterns

„Die Deutsche Bahn steckt in einer massiven Krise“, sagt Gastel, kaum dass er sich in den weichen Sitz des Schweizer Intercitys hat fallen lassen. Die Feststellung überrascht nicht, bekommt durch ihn aber Gewicht. Denn Gastel ist nicht nur bahnpolitischer Sprecher der Grünen in Berlin, er führt seit drei Jahren im Internet auch ein Tagebuch, in dem er minutiös jede seiner vielen Bahnfahrten dokumentiert (matthias-gastel.de). Das liest sich dann so:

„WLAN war unzuverlässig und damit unbrauchbar.“ Über eine andere Fahrt: „Ausgebuchte Sitzplätze, überheizte Wagen, defekte WCs, ein eingeschränktes Speiseangebot im Bordrestaurant, ein funktionsuntüchtiges WLAN und bei der Ankunft 30 Minuten Verspätung.“ Oder: „Besteige mit hungrigem Magen den Zug, um dort gleich mit der Durchsage ,Unser Bordrestaurant muss heute leider geschlossen bleiben‘ empfangen zu werden.“ „Ich koche. Für so viel Unvermögen musste ich 190 Euro fürs Taxi blechen!“ „Ich koche noch immer.“ „Danke Deutsche Bahn.“

Wer Gastels Tagebuch liest, muss mal den Kopf schütteln, mal staunen, mal lächeln, der skurrilen Zwischenfälle wegen, um am Ende festzustellen: Es ist ein Dokument des Scheiterns. Ein Spiegelbild dessen, was Abertausende jeden Tag erleben: von verpassten Anschlüssen, defekten Toiletten über kaputte Klimaanlagen oder Heizungen, nicht funktionierendem WLAN bis hin zu hungernden Fahrgästen und geplatzten Reservierungen, verbunden mit Steh- statt Sitzplatz. Und vor allem massenweisen Verstößen gegen das Gesetzbuch der Bahn: den Fahrplan.

Für das Jahr 2015 zog Gastel Bilanz, demnach waren knapp 40 Prozent seiner Züge im Fernverkehr verspätet, im Durchschnitt 23 Minuten, wodurch er 23 Prozent aller Anschlüsse verpasste. Und 2016? „Das hat sich nicht groß was geändert.“ Nein, hat es nicht, das bestätigt sogar die Bahn: Sie wollte ihre Pünktlichkeitsziele im Fernverkehr von 75 auf 80 und absehbar auf 85 Prozent steigern. Mitte des Jahres gab sie dann die Ziele komplett auf, weil die Wirklichkeit von der Vorgabe blamabel weit weg war und ist. So sammelt das Unternehmen weiter täglich rund 8000 Minuten Verspätung an.

Bei der Bahn scheppert, rattert und knirscht es an allen Ecken und das im wahrsten Sinne des Wortes, der Konzern fahre teils mit „dem ältesten von altem Material“, so Matthias Gastel und spricht damit nur aus, was auch andere Experten bestätigen. „Auf der Gäubahn hat man in der Vergangenheit gerade mal den Prellbock neu gestrichen“, sagt Karl-Peter Neumann, Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn, im Telefonat mit der „Schwäbischen Zeitung“. In der Tat ist man auf der Südbahn, der Donautalbahn oder der Gäubahn mit Lokomotiven und Waggons unterwegs, die teilweise 40 Jahre und älter sind. Dazu kommen flächendeckend immer länger werdende Wartungsintervalle, nur noch das Nötigste wird repariert. Nicht besser sieht es bei der Infrastruktur aus, siehe die nach wie vor ausstehende Elektrifizierung der Südbahn oder die Eingleisigkeit der Gäubahn ab Haltestelle Horb. Im Hochtechnologie-Land Deutschland schiebt die Bahn einen Investitionsstau vor sich her, womit das Unternehmen irgendwo im vergangenen Jahrhundert verharrt.

Mehdorn soll der Schuldige sein

„Die Ursachen dafür liegen in der Historie“, sagt Karl-Peter Neumann und ergänzt die Feststellungen mit einem Namen: „ Mehdorn !“ Zehn Jahre lang bis 2009 war Hartmut Mehdorn Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG. Sein ehrgeiziger Plan war, die Bahn an die Börse zu bringen, ermöglicht durch einen radikalen Sparkurs. Dafür musste das Unternehmen bluten und Investitionen mussten warten. Irgendwann wurde der Börsengang abgeblasen, Mehdorn musste gehen. Was blieb, war ein aus der Zeit gefallenes Unternehmen, das die Nerven seiner Kundschaft bis heute aufs Äußerste strapaziert.

Der gescheiterte Börsengang ist aber nicht der einzige Konstruktionsfehler, den Experten der Bahn vorwerfen. „Der Konzern ist unüberschaubar geworden“, sagt Matthias Gastel. Ob DB Regio, DB Fern, DB Cargo, DB Netz – die Bahn zählt mittlerweile mehr als 1000 Tochterunternehmen. Dabei investiert der Konzern horrende Summen im Ausland und in Unternehmen, die nichts mit der Schiene zu tun haben, etwa Schenker (heute DB Schenker), der inzwischen weltweit führende Logistikdienstleister, allerdings zu Luft, zu Wasser und vor allem auf der Straße. „Es ist völlig unklar, weshalb sich der Bund mittelbar ein Speditionsunternehmen leistet“, kritisiert Gastel und fordert: „Die Bahn muss sich viel mehr auf ihr Kerngeschäft konzentrieren.“

Dafür braucht es Unterstützung und Kontrolle vom Bund. Als das Unternehmen als Deutsche Bahn AG an den Start ging, war es schuldenfrei. Heute zählt die Bahn 18 Milliarden Euro Miese, Tendenz steigend. „Das liegt auch am Eigentümer“, sagt Gastel, verlangte der Bund doch jährlich eine Dividende von 850 Millionen Euro, komme, was wolle.

Nun soll, einmal mehr, alles besser werden. Stellvertretend dafür steht der neue ICE4, der vor wenigen Tagen offiziell vorgestellt wurde. Bahnvorstand Berthold Huber kündigte in diesem Zusammenhang an: „WLAN ist inzwischen so wichtig wie Toiletten.“ Bisher war allerdings das eine wie das andere bei Zugfahrten oft ein Totalausfall.

Fairerweise muss man sagen, dass die Bahn, wenn auch spät, ihre Probleme ernster als früher nimmt und auch angeht. So hieß es neulich aus der Vorstandschaft: „Wir werden die wirtschaftliche Situation des Unternehmens nur in den Griff bekommen, wenn wir unsere Qualitätsprobleme lösen.“ Und Bahnchef Rüdiger Grube verspricht eine kundenorientierte Unternehmenspolitik, auch der Bund zieht mit, der seine Dividenden-Erwartung ab 2017 auf 600Millionen Euro senkt.

Der Kurswechsel fällt allerdings schwer, das zeigt dieser Vorgang: In einer überraschenden Aktion gewährte der Bund der Bahn einen Zuschuss von 2,4 Milliarden Euro, für Experten Zeichen eines „Sinneswandels“ beim Eigentümer. Nun kritisierte jedoch vor wenigen Tagen der Präsident des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller: Die Bahn erhalte zwar vom Bund Geld, ohne aber „dass die Bahninfrastruktur wesentlich verbessert wird“, etwa bei den vielen maroden Eisenbahnbrücken. Anders: Die Bahn gibt ihr Geld nicht aus.

Sie kommt nicht vom Fleck

„Die Genehmigungsverfahren dauern viel zu lang“, erklärt dazu Karl-Peter Neumann von Pro Bahn. „Der Bahn fehlt es an Personal, an Ingenieuren und Ingenieurbüros.“ Dazu komme eine schlechte interne Kommunikation und fehlende Transparenz bei Haushalts- und Wirtschaftsprüfung.

Egal von welcher Seite man die Bahn betrachtet, sie kommt nicht vom Fleck, allerorts türmen sich Probleme, die sich gegenseitig bedingen. So werden die Menschen auch über Weihnachten und weit darüber hinaus über überfüllte Züge klagen, über Durchsagen auf frostigen Bahnsteigen: „Der ICE hat eine Verspätung von 10 Minuten“, dann 20 Minuten, 40, 60… Immerhin, die Fahrt mit der Gäubahn endet an diesem Spätnachmittag pünktlich in Rottweil . Matthias Gastel wird später auf demselben Weg wieder zurückreisen, wieso auch nicht: „Ich fahre ja gerne Bahn.“ Weil eine Bahnfahrt Büroarbeit erlaube, weil sie im besten Falle entspannend und auch bereichernd sein kann.

Deshalb fahren ja so viele Deutsche wirklich gerne Bahn. Eigentlich.