Dietlinde Ellsässer und Walle Sayer würdigen Leben und Werk der Bierlinger Schriftstellerin Andrea Noll. Foto: Steinmetz

Der Lyriker Walle Sayer, der aus Bierlingen stammt, und Dietlinde Ellsässer, Schauspielerin und Kabarettistin aus Hemmendorf, zeichneten am Samstag im Bierlinger Bürgerhaus ein Lebensbild der heimatverbundenen Schriftstellerin Andrea Noll.

Starzach-Bierlingen - In Reutlingen, wo sie 2019 gestorben ist, hat Andrea Noll gelebt, daheim war sie aber in Bierlingen. Sie schrieb Mundartgeschichten, Hörspiele, Gedichte, aber auch hochdeutsche Prosa.

Das Forum Kultur in Starzach hatte zu dieser Veranstaltung eingeladen. Die Idee dazu hatte allerdings Walle Sayer, der schon im vergangenen Jahr diese Hommage zum 60. Geburtstag von Andrea Noll plante. Er hielt viele Jahre lang Briefkontakt mit ihr. Daraus zitierte er, während Dietlinde Ellsässer mit ihrem unnachahmlichen Witz und schwäbischen Charme Gedichte und Texte aus dem Werk der Bierlingerin vorlas. Es war ein unterhaltsamer Abend, den die zahlreichen Besucher sichtlich genossen.

Der Humor durfte bei ihr nie fehlen

Auch wenn es um ernste Themen ging: Der Humor durfte bei Andrea Noll nie fehlen. Das hat auch etwas mit der Mundart zu tun, mit der sie aufgewachsen ist. Am 2. Dezember 1961 wurde sie in Bierlingen geboren. Sie besuchte das Eugen-Bolz-Gymnasium in Rottenburg, studierte nach dem Abitur einige Semester lang Germanistik und Anglistik. Lehrerin konnte sie nicht werden, deshalb begann sie eine Ausbildung zur Heilerzieherin, musste aber aus gesundheitlichen Gründen auch diesen Beruf aufgeben.

Mitte der 1980er-Jahre fing sie an zu schreiben. Es waren, so Dietlinde Ellsässer, Texte mit hohem künstlerischen Wert, darunter Geschichten aus ihrer Kindheit und ihrem Dorf. Sie schrieb: "So paradox es klingen mag, aber wer heute die weite Welt finden will, muss zuerst in ein Schneckenhaus kriechen."

Wenn sie sich zurückerinnerte, dann an ihre Eltern, Großeltern und überhaupt an die einfachen Menschen auf dem Land. Diese, so Ellsässer, wollte Noll in den Vordergrund stellen. Das Dorf habe sie dabei als "wechselwirksames Gefüge" gesehen.

Jugendzeit ist geprägt von Tradition und Moderne

Sie wuchs auf an der "Nahtstelle zwischen einer alten, sterbenden und einer neuen, vollkommen anderen Zeit". Als Jugendliche las sie "Bravo" und sang auf dem Traktor, wo sie der Vater am Steuer wegen des Krachs nicht hören konnte, Rock- und Popsongs. Andererseits besuchte sie die Maiandacht in der Waldkapelle, fand bei der Öschprozession oder beim "Büschele sammeln" zu einer naturreligiösen Frömmigkeit. "Wir haben sehr intensiv gelebt", berichtet sie über ihre Jugendzeit, geprägt von Tradition und Moderne.

Da hat sie auch viele Geschichten aufgeschnappt. Beispielsweise von den fünf Brüdern, die im "Rössle" gern Musik machten und lustig zusammensaßen. Der eine musste nach Ungarn auswandern, der andere starb im "Franzosenkrieg" an den Pocken, der dritte, der eine Felldorferin heiraten wollte, emigrierte nach Amerika. Die zwei Zurückgebliebenen gingen zwar immer noch ins Wirtshaus, aber Musik machten sie nicht mehr. Das hat die Mutter, für die die Fremde gleichbedeutend mit Elend war, dem "Mädle" erzählt.

Andrea Noll schrieb vom "Neidruckerle", einem vernachlässigten Nachbarskind, das, vom Hunger getrieben, in fremde Häuser drückte und in die Kochtöpfe schaute. Oder von der Ahne und dem Ehne, die am warmen Ofen in der Stube hocken. Ist der Ofen einmal aus, werde die "Welt viel kälter". Der Heimweg von Eyach hoch nach Bierlingen im Winter gerät für die Abiturientin gleich zu einer Zeitreise vom Krieg bis in die Gegenwart.

Zum Schluss gibt es eine längere Geschichte

Für Andrea Noll zeigte sich an der Fasnet auch der kulturelle Wandel, etwa wenn die Hexen die Dreikönige "ums Karree jagen". Auch das Dorf verändert sich: Die alten, krummen Schöpfe, damit Igel und Schmetterlinge verschwinden, während der öffentliche Raum mit Blumenkübeln und Wagenrädern voll- oder besser, so die Autorin, "leer gestellt" wird.

Sie ist eine genaue Beobachterin ihrer Umgebung und der Menschen. Dietlinde Ellsässer und Walle Sayer lasen am Schluss eine längere Geschichte vor: Im "Erntemond" beschreibt die Autorin die Fahrt mit dem Traktor und dem mit Getreidesäcken voll beladenen Anhänger zur Annahmestelle bei der Raiba im Gäu. Sie beobachtet dort schon wartende schwitzende und schnäuzende "Mannen", die sich darüber unterhalten, dass es sich kaum noch lohnt, das Getreide abzuliefern. Einer von ihnen, ein Mann im Unterhemd, steckt der 15-jährigen eine Zigarette hinters Ohr, heimlich, damit es der Vater nicht sieht. Bei der abendlichen Rückkehr leuchtet der Vollmond so verlockend, dass sie ihn am liebsten "herunterlangen" will.

Andrea Noll starb, wie es Walle Sayer schilderte, am 25. Mai 2019 in ihrer Reutlinger Wohnung einsam in ihrem Bett. Mit dem Abend im Bürgerhaus holten er und Dietlinde Ellsässer sie wieder "heim nach Bierlingen".