Der Autor dieser wissenschaftlichen Erörterung hat sich einer
schwierigen Aufgabe unterzogen. Während eine überwältigende Fülle von
Einzeldarstellungen nicht nur aus dem geographischen Umfeld, sondern
auch von Nachbardisziplinen wie "Geschichte, Soziologie, Architektur,
Raumordnung, Ökologie, Wirtschafts- und Kommunalwissenschaften"
vorliegt, fehlte bislang eine moderne, den raschen Strukturwandel
berücksichtigende und regional differenzierende
Gesamtdarstellung. Diese in Form eines geographischen Handbuches zu
erstellen, war Ziel des Werkes. So umfaßt dieser Band der "Teubner
Studienbücher der Geographie" neben sieben Hauptkapiteln 83
Teilkapitel. Dies weist auf vielseitige Struktur und auf
Wandlungsprozesse des ländlichen Raumes hin, die z. T. nur schwer zu
durchschauen sind. Seit etwa 150 Jahren befinden sich die ländlichen
Siedlungs- und Wirtschaftsgebiete nicht nur Deutschlands in einem sich
beschleunigenden, inzwischen geradezu dramatischen Wandel. Die
ländliche Bevölkerung - ehemals größtenteils agrarisch oder
agrarisch-forstwirtschaftlich orientiert- muß neu definiert
werden. Die Sozialstruktur hat sich völlig geändert, da durch die
Mechanisierung der Landwirtschaft, den überregionalen Wettbewerb und
die geringer werdende Attraktivität landwirtschaftlicher Berufe die
Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft wie auch die Anzahl der
bäuerlichen Betriebe in den vergangenen Jahrzehnten erschreckend
abgenommen hat. An die Stelle der aufgelassenen landwirtschaftlichen
treten gewerbliche Betriebe als Folge des letzten (nach Ende des
Zweiten Weltkrieges) Industrialisierungsschubs in ländlichen Gebieten,
der zugleich die dörflichagrarisch ausgerichteten Handwerksbetr,ebe
wie "Schmiede-, Wagner-, Stellmacherund Sattlerhandwerk" aber auch
rundliche Sparten wie "Korbflechter, Besenbinder, Sattler,
Hausschlachter" verdrängte. Andererseits, so betont der Autor, gingen
aus den traditionellen Handwerken modeme, auch agrarisch orientierte
Betriebe wie Land- und Forstmaschinenbetriebe oder einseitig auf
Fenster- und Türenbau spezialisierte Handwerksbetriebe hervor.
Die ländlichen Räume, vor allem die in reizvollen Wald- oder
beispielsweise Weinbaulandschaften sind schon lange (etwa seit der
Mitte des 19. Jhs.), heute in zunehmenden Maße, Ziel des regionalen
und überregionalen Fremdenverkehrs. Dieser basiert nicht nur auf dem
"natürlichen Erholungspotential", sondern immer mehr auf dem
kulturellen Sektor wie beispielsweise dörfliche oder sakrale
Architektur; ferner spielen die sportlichen Möglichkeiten
(Wildwasserstrecken, Radwege, Wan dern) eine wichtige Rolle, so daß
sich die Infrastruktur des ländlichen Raumes diesen innovativen
Tendenzen angepaßt hat. Den natürlichen Rahmenbedingungen entsprechend
wandelten sich Dörfer in Kurorte mit ausgedehnten Kurzentren und
Parkanlagen. Beinahe flächendeckend sind die Wintersportorte von
dieser Entwicklung betroffen, in denen die historischen Siedlungskerne
durch Hotel- und Gastronomiegewerbe und andere Wirtschaftseinrichtung
extrem eingeengt werden. Das 4. Kapitel dieses Werkes beschreibt den
Wandel des Erscheinungsbildes des ländlichen Raumes. Gerade
Mitteleuropa als Achsenkreuz verschiedener Kulturströmungen weist eine
große Anzahl von regional völlig unterschiedlichen Dorf- und
Flurformen auf, die z. T. bereits in frühmittelalterlichen Zeit
entstanden waren. So erwähnt der Autor u. a. die völlig
unterschiedlichen Erbschaftsstrukturen wie das Anerbenrecht,
vorzugsweise in Norddeutschland vorherrschend, das
Realerbteilungsrecht, eher in Süd- und Südwestdeutschland
verbreitet. Ferner weist die historisch- genetische Forschung
zahlreiche Planungsformen auf, wie etwa Anger-, Straßen-, Zeilen- oder
Reihendörfer. Dazu kommen Siedlungsforrnen, die unterhalb dörflicher
Strukturen zu fassen sind wie etwa Einödhöfe, Gasthöfe, Forsthäuser,
Schloßanlagen ohne Siedlungsentwicklung, Weiler oder Drubbel und
ähnliche Kleinsiedlungen.
Gerade die Analyse von Physiognomischen Erscheinungsformen (Haus-,
Hof- und Flurformen) war eine beliebte Forschungsrichtung der
Geographie, die, wie der Autor bedauernd betont, in den jüngeren
Jahren immer mehr verkümmerte. Gerade die Bestandsaufnahme ländlicher
Siedlungen ist für zukünftige kommunale Planungsaufgaben
unverzichtbar.
So weist der Autor in seinem Schlußkapitel auf die erstaunliche
Tatsache hin, daß trotz der sich beschleunigenden
Strukturveränderungen gerade in Deutschland der Kontrast zwischen
Stadt und Land noch weitgehend besteht, daß aber in politischen
Entscheidungsgremien wie auch in der Gesellschaft der ländliche Raum
als "Restkategorie" angesehen wird, der Gefahr also ausgesetzt wird,
zur "Verfügungsmasse, zum Ausgleichsraum der Industriegesellschaft" zu
werden. Beispiele für eine zunehmende Urbanisierung ländlicher
Siedlungen, vor allem an der Peripherie industrieller Ballungsräume,
sind längst in großer Zahl vorhanden. in Westfalen am Rande des
Ruhrgebietes haben sich manche der Kirchdörfer um das zehnfache
vergrößert. Ausschlaggebend ist eine gewisse "Stadtflucht", die eine
tiefgreifende Physiognomische und kulturelle Veränderung auslöste, was
G. Henkel in einer früheren Arbeit bereits beklagte (Die moderne
Dorfentwicklung unter dem Aspekt der erhaltenden Erneuerung. Siedlung
und Landschaft im Wandel- Eingriffe und Gefahren. Schriftenreihe des
Westfälischen Heimatbundes, H.6, 1980).
"Der ländliche Raum" von G. Henkel ist das Ergebnis einer intensiven
Forschung und daher für den universitären Bereich gedacht. Die
sprachlich sehr verständlich und klar gegliederte und alle wichtigen
Aspekte der ländlichen Räume berücksichtigende Schrift darf daher auch
nicht in kommunalen Verwaltungen und Bibliotheken von Schulen fehlen.
Heimatpflege in Westfalen, 15. Jg., H. 1/2002,S.35/36