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Die Kopfgeburt der Athene, oder: Wie die griechische Götterwelt entstand

Die Kopfgeburt der Athene

Die Kopfgeburt der Athene
Bildquelle: Martina Hoffmann

– Transkript –

    

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer):
LASST UNS BEGINNEN!

Daniela Summa:
αἵ νύ ποθ' Ἡσίοδον καλὴν ἐδίδαξαν ἀοιδήν,
ἄρνας ποιμαίνονθ' Ἑλικῶνος ὕπο ζαθέοιο.
τόνδε δέ με πρώτιστα …

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik):
„Vielen Trug verstehen wir zu sagen, als wäre es Wahrheit, doch können wir, wenn wir es wollen, auch Wahrheit verkünden.“ So sprachen die beredten Töchter des großen Zeus, brachen den herrlichen Zweig eines üppig grünenden Lorbeers, schenkten ihn mir als Stab und hauchten mir göttlichen Sang ein, damit ich Künftiges und Vergangenes rühme. (…) Auf also! Beginnen wir mit den Musen, die durch ihr Lied den hohen Sinn ihres Vaters Zeus auf dem Olympos erfreuen und in harmonischem Sang verkünden, was ist, was sein wird und was zuvor war.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Heute führt uns die Darstellung der „Kopfgeburt der Athene“ auf einer antiken Vase von der Entstehung der Welt bis vor die Tore Trojas und auf die Trinkgelage etruskischer Adliger in Mittelitalien.
Was hat es mit der Kopfgeburt der Athene auf sich? Wie wurde Zeus zum Götterkönig? Und was wird denn da gezählt …?

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik):
Pasithee … Erato … Agaue … Proto … Eulimene … Kymodoke

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Mein Name ist Sophie Ruch und Sie hören:

„Die Kopfgeburt der Athene, oder: Wie die griechische Götterwelt entstand“

Aus der Reihe:
(Jingle) Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer):
DIE KOPFGEBURT DER ATHENE

Nina Zimmermann-Elseify:
Dem Mythos nach war dem Zeus geweissagt worden, seine Gattin Metis würde zwei Kinder zur Welt bringen. Das Zweite würde ein Sohn sein, der seine Herrschaft beenden und ihn stürzen würde. Um das zu vermeiden, verschlingt Zeus die Metis, als sie gerade mit dem ersten Kind schwanger ist. Das Kind will aber zur Welt kommen und sucht den Ausweg. Den findet es im Kopf, und Zeus merkt plötzlich, dass er furchtbare Kopfschmerzen hat, und fordert den Handwerkergott Hephaistos, der immer Werkzeug zur Hand hat, auf, ihm den Schädel damit zu spalten. Hephaistos tut das, und in dem Moment, wo er den Schädel spaltet, springt die Athena vollgerüstet hervor.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
So fasst Nina Zimmermann-Elseify den Mythos von der Kopfgeburt der Athene für uns zusammen. Eine Kopfgeburt nennen wir im heutigen Sprachgebrauch etwas Erdachtes, dem es an Bezug zur Realität mangelt. Eine Idee oder ein Plan, der losgelöst von praktischen Bezügen im Kopf von jemandem entsteht. Die „Kopfgeburt“, um die es in dieser Folge geht, führt dazu, dass eine neue Göttin – die Göttin Athene – den antiken Kosmos betritt. Aber werden im sechsten Jh. v. Chr. außer Göttinnen auch Gedanken im Kopf geboren?

Christian Vogel:
Das Denken, die Klugheit, der kluge Sinn und so weiter – die φρένες (phrenes), das ist eigentlich das Wort für das Zwerchfell, das, was ursprünglich dort verortet wurde, daher kommt dann φρόνησις (phronēsis), die Klugheit und so weiter – haben alle ihren Ursprung in dem Wortsinn des Zwerchfells. Und interessant ist, dass ein paar Jahrhunderte später ein Philosoph im dritten Jh. v. Chr. sich genau die Frage stellt, wo haben wir denn eigentlich, an welchem Körperteil befindet sich denn eigentlich das seelische Leitorgan. Und greift auf diese Geschichte der Kopfgeburt zurück, um zu zeigen, dass das Denken seinen Ursprung im Herzen hat, im Inneren, denn dort sitzt ja Metis und gebiert die Athene. Und die Athene kommt aus dem Kopf, und er sagt, das ist quasi der Ort, wo dann die Ergebnisse des Denkens herauskommen. Und der Arzt Galen wird sich im zweiten Jahrhundert wiederum auf diese Deutung dieses Philosophen aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert beziehen, um zu zeigen, dass er falsch lag. Und Galen hatte nun mittlerweile den Vorteil, dass er auf anatomische Forschungen zurückgreifen konnte und kann zeigen, dass die Nerven ihren Ursprung im Gehirn haben, und sagt das Denken und das Leitorgan befinden sich eigentlich im Kopf.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Im Alten Museum in Berlin ist eine bemalte Amphore aus dem sechsten Jh. v. Chr. ausgestellt. Die zentrale Abbildung auf der Vase zeigt die Göttin Athene, wie sie dem Kopf des Göttervaters Zeus entsteigt.
Gemeinsam mit dem Gräzisten und Philosophen Christian Vogel, den wir gerade gehört haben, der Klassischen Philologin und Philosophin Gyburg Uhlmann und der Kuratorin der griechischen Vasen in der Antikensammlung, Nina Zimmermann-Elseify, gehen wir der Geschichte dieser verblüffenden Kopfgeburt nach. Nina Zimmermann-Elseify:

Nina Zimmermann-Elseify:
Es handelt sich um eine Amphora, um ein Vorratsgefäß. Es ist etwa 44 cm hoch und hat einen eiförmigen Körper sowie einen kurzen, abgesetzten Hals und zwei Rundstabhenkel, die vom Hals ausgehen und in der Schulterzone enden. Das Gefäß ist bemalt in der sogenannten attisch-schwarzfigurigen Maltechnik. Das bedeutet, die Figuren sind mit schwarzem Glanzton als Silhouette auf den leuchtend roten Tongrund aufgetragen. Details sind eingeritzt, sodass der Tongrund durchscheint. Außerdem werden Einzelheiten mit Purpurrot betont und mit Weiß, speziell die Haut der Frauen. Das Gefäß ist an seinem Körperansatz mit einem Strahlenkranz verziert und darüber ist die Fläche in vier umlaufende Friese eingeteilt. Die ersten drei zeigen Tiere – reale Tiere, aber auch mythologische. Der wichtigste Fries ist der oberste in der Schulterzone. Im Zentrum des Frieses, also in der Mittelachse, findet man die beiden Hauptpersonen, nämlich den Göttervater Zeus. Der sitzt auf einem verzierten Thron, trägt lange, verzierte Gewänder, hat als Göttervater einen kurzen Vollbart und lange Haare, das war in der Entstehungszeit der Vase typisch für die adligen Männer. Der Zeus ist gut zu erkennen an dem Blitzbündel, das er in der Hand hat. Er sitzt jetzt aber äußerst angespannt, sehr aufrecht, hat die Augen weit aufgerissen. Das setzt der Maler um, indem er die Augen größer zeichnet als die der anderen Figuren und mit doppelter Ritzlinie umrandet, bei den anderen ist es jeweils nur eine. Und der Grund ist klar zu sehen: Aus seinem Kopf springt in diesem Moment die Göttin Athena hervor und zwar als kleine Miniaturfigur, wie wir die Athena auch kennen, mit langem Gewand, einem Helm mit Helmbusch. Sie erhebt ihren Rundschild und schwingt ihren Speer, als wollte sie gleich zustoßen.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Links von Zeus entfernt sich der Gott Hephaistos mit großen Schritten. In der Hand trägt er eine Doppelaxt, mit der er zuvor Zeus’ Schädel gespalten hat. Weitere Gottheiten rahmen die Geburtsszene: Eileithyia, die Geburtshelferin, Demeter, Hermes, Apoll, Aphrodite, Dionysos und wahrscheinlich auch Poseidon.

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer):
DER ANFANG DER EUROPÄISCHEN LITERATUR

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Schilderungen von Athenes Geburt sind deutlich älter als die Amphore. Sie existierten bereits viele Jahrhunderte vor dem Entstehen der Vase und wurden in verschiedenen Fassungen weitergegeben. Zu dieser Zeit gab es in Griechenland noch keine Schrift, so dass die Stoffe und Geschichten ausschließlich mündlich überliefert wurden. Eines der ersten schriftlich fixierten Werke ist die „Theogonie“ von Hesiod. Dieses Gedicht, das übersetzt „Entstehung der Götter“ heißt, ist wohl ca. 700 v. Chr. entstanden. Gemeinsam mit Homers „Ilias“ und „Odyssee“ zählt es zu den frühsten und einflussreichsten Werken der europäischen Literatur. Diese Texte haben, so hieß es viele Jahrhunderte später, den Griechen ihre Götterwelt gegeben. Während sich in den Epen Homers Hinweise darauf finden, dass Athene von Zeus abstammt, kommt ihre Geburt hier nicht vor. In Hesiods „Theogonie“ aber gibt es folgende Beschreibung:

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik):
Als letzte erkor Zeus Hera zur blühenden Gattin; diese gebar, mit dem König der Götter und Menschen in Liebe vereint, Hebe, Ares und Eileithyia.
Er selbst gebar aus seinem Haupt die helläugige Athene, die schreckliche, Kämpfe erregende Heerführerin und unbesiegliche Herrin, der Kampflärm gefällt und Kriege und Schlachten. Hera aber gebar den berühmten Hephaistos, doch ohne Liebesgemeinschaft (sie grollte ihrem Gatten und stritt mit ihm); dieser Sohn überragt alle Himmlischen an Kunstgeschick.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Angesichts der aufwändigen Darstellung auf der Amphore irritiert die Kürze, in der hier der Geburtsvorgang geschildert wird. Keine anderen Götter sind anwesend oder beteiligt. Und Hephaistos, der auf der Amphore kraftvoll den Schädel spaltet, wird in der „Theogonie“ überhaupt erst nach Athene geboren. Warum Hesiod die Geburt der Athene in der „Theogonie“ in dieser Form darstellt, erfahren wir von Christian Vogel, der uns diesen anspruchsvollen Text im Folgenden entschlüsseln wird.

Christian Vogel:
Die „Theogonie“, vielleicht um es erstmal inhaltlich zu sagen, ist ein Gedicht über die Entstehung, Entwicklung und Ordnung des Kosmos und der griechischen Götterwelt. Angefangen bei den Anfängen der Welt, endend in der Ordnung der Gegenwart, und das heißt, Gegenwart in der Zeit, die Herrschaft des Zeus über den Kosmos. Das wäre vielleicht eine der kürzesten und prägnantesten Zusammenfassungen. Formal ist sie ein Epos, ein episches Gedicht. Das heißt, sie ist in der Form, in einer metrisch gebundenen Form überliefert, die Form des Hexameters.

Daniela Summa:
ἤτοι μὲν πρώτιστα Χάος γένετ'· αὐτὰρ ἔπειτα
Γαῖ' εὐρύστερνος, πάντων ἕδος ἀσφαλὲς αἰεὶ
ἀθανάτων οἳ ἔχουσι κάρη νιφόεντος Ὀλύμπου,
Τάρταρά τ' ἠερόεντα μυχῷ χθονὸς εὐρυοδείης,

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Bereits mehrere Jahrhunderte vor Hesiod gab es an Adelshöfen auftretende Dichtersänger. Man muss wissen, dass zu dieser Zeit in Griechenland wie auch in anderen Gebieten des Mittelmeerraums eine Palastkultur blühte. Königshöfe und Fürstenresidenzen waren kulturelle Zentren, in denen die Sänger als mündlich improvisierende Wortkünstler Götter- und Heldengeschichten vortrugen. Sie berichteten auch von aktuellen politischen Ereignissen, die sie kommentierten und interpretierten. Unter anderem Stoffe wie die Schlacht um Troja und die Irrfahrt der heimkehrenden Griechen wurden in den Gesängen wiedergegeben. Mit ihren Geschichten setzten die Sänger die Adelsschicht ins rechte Licht und mehrten ihren Ruhm. Den Dichtersängern kam darüber hinaus eine bedeutende Rolle dabei zu, das kollektive Gedächtnis zu bewahren, Wissen und Lebensklugheit zu vermitteln und auf ästhetische Weise zu unterhalten. Etwa 1200 v. Chr. ging diese Palastkultur mit ihren kulturellen Zentren unter; über die darauffolgenden Jahrhunderte war lange Zeit mangels Schriftquellen nur wenig bekannt.

Christian Vogel:
Diese Geschichten wurden aber weitererzählt. Sie waren dann keine aktuellen Geschichten mehr. Der Themenbestand ist quasi eingefroren. Und dann wurden die Geschichten von den alten Helden immer weitererzählt. Und da haben wir die wandernden Sänger, die improvisierten und zu bestimmten Anlässen kamen und Geschichten von außerhalb erzählten und sie zusammenknüpften und so weiter. Nun ist Hesiod so eine Zwischenfigur – so ähnlich wie die Dichter, die danach folgen. Er dichtet selbst, und er schreibt seine Dichtung auf – das können wir aufgrund der Dichte seiner Verse und aufgrund der Komplexität und der Systematik seiner Stammbäume lässt sich das klar so sagen –, er schreibt das auf und dichtet aber für einen bestimmten Wettbewerb, um das vorzutragen. Und hier ist er kein wandernder Sänger, sondern er ist Dichter, der für bestimmte Feste seine Dichtung verfasst und die dann vorträgt.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
In seiner Dichtung greift Hesiod diese mündlich überlieferten Erzählungen und Heldengeschichten auf. Auch die Mythen von den olympischen Göttern und das wohl eher bruchstückhafte Wissen über noch ältere Gottheiten bindet er in seinen Text ein. Es ist schwer abzuschätzen, an welchen Stellen er interpretiert, etwas verändert oder hinzudichtet. Sicher ist, dass auch Erzählstränge aus dem Orient in die „Theogonie“ eingeflossen sind.    

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer)
DER ANFANG DER EUROPÄISCHEN LITERATUR – ZU QUELLEN UND EINFLÜSSEN FRAGEN SIE IHREN ALTPHILOLOGEN ODER GRÄZISTEN

Christian Vogel
Also, wenn wir uns die „Theogonie“ anschauen und die Motive, die darin vorkommen, dann sehen wir, dass es mindestens zwei zentrale Motive in der „Theogonie“ gibt, die sich an die Tradition der orientalischen Mythologie und Religion anschließen, wie sie in babylonischen Texten, in hurritisch-hethitischen Texten und Erzählungen, in phönizischen Erzählungen sich finden lassen. Und da sind Elemente drin, die sich bis ins zweite und dritte Jahrtausend zurückverfolgen lassen und die so ähnlich sind, dass die Verbindung auch kein Zufall sein kann. Das sind unter anderem die Elemente, dass Himmel und Erde in irgendeiner Art und Weise getrennt werden müssen, die sind zusammen, und damit sich die Entwicklung der Welt weiter, damit die weiter vorangetrieben werden kann, müssen Himmel und Erde getrennt werden. Und das andere zentrale Element sind die Kämpfe verschiedener Göttergenerationen um die Herrschaft. Dass neue Götter mit alten Göttern um die Herrschaft kämpfen und dass es Ablösungen gibt.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Diese Erzählstoffe wandern demnach in den griechischen Raum. Die Forschung nimmt in diesem Zusammenhang bestimmte Handelsknotenpunkte in den Blick, über die sich solche Transferrouten nachzeichnen lassen.

Christian Vogel
Und da lässt sich vor allen Dingen immer wieder eine Route erkennen, die auch für die Entwicklung der Schrift im Kulturraum entscheidend ist, und das ist die Route Al Mina. Das befindet sich nördlich von Syrien an der östlichen Mittelmeerküste. Das ist ein Ort, an dem wir viele griechische Keramik gefunden haben. Das muss ein Handelsumschlagsplatz gewesen sein, damals der Herrschaftsraum der Phönizier. Das ist der Start- oder Endpunkt. Dann über Euböa, das ist die Insel in Mittelgriechenland, zu der Hesiod eben auch Zugang hatte und wo er sein Gedicht auch vorgetragen hat, bis nach Italien, so dass sich hier Kulturgut, materielles Kulturgut, mündliches Kulturgut und eben auch so Dinge wie die Schrift verbreiten konnten.

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer)
DER ANFANG DES ATHENISCHEN AMPHORENEXPORTS NACH ITALIEN

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Unsere Amphore aus dem Alten Museum ist ca. 150 Jahre nach Hesiod, also etwa 560 v. Chr., auf einer ähnlichen Route von Mittelgriechenland nach Italien gewandert. Dort wurde sie um 1870 bei Ausgrabungen in Cerveteri, einer Stadt nordwestlich von Rom, als Grabbeigabe gefunden und 1872 von den Königlichen Museen zu Berlin angekauft.

Nina Zimmermann-Elseify
Die meisten dieser Gefäße wurden in Etrurien gefunden. Das ist eine Landschaft in Italien, die etwa deckungsgleich mit der heutigen Toskana ist, und die Etrusker wurden von den Griechen als τυρρηνοί (tyrrhēnoi) bezeichnet – daher der Name „tyrrhenische Amphoren“.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Die Amphoren dienen ja ursprünglich als Vorratsgefäße für feste oder flüssige Nahrung.

Nina Zimmermann-Elseify
Für Etrurien wissen wir, dass die tatsächlich benutzt wurden, denn wir haben in etruskischen Gräbern Malereien, auf denen bemalte griechische Amphoren auf Beistelltischen für das Symposion, das festliche Trinkgelage, stehen. Da wissen wir, die wurden tatsächlich für diese Trinkfeste primär verwendet. Als sekundäre Verwendung sind sie dann als Beigabe in die Gräber mitgegeben worden. Dadurch haben wir so viele erhaltene Amphoren, weil die in den Gräbern gelandet sind und dadurch auch ganz gut erhalten sind.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Etrurien war im sechsten vorchristlichen Jahrhundert als Absatzmarkt offenbar umkämpft. Die Amphore zeugt von dem Wettbewerb der Keramik produzierenden griechischen Städte untereinander.

Nina Zimmermann-Elseify
Ein anderes Produktionszentrum für Keramik war Korinth. Und die haben im siebten und sechsten Jahrhundert, zumindest am Anfang des sechsten Jahrhunderts, diesen etruskischen Markt stark dominiert. Und für korinthische Keramik waren diese Tierfriese typisch. Die Stärke der Athener Vasenhersteller waren mythologische Bilder, die durchaus größerformatig waren. Und jetzt gibt es die Theorie, dass die Athener mit diesen tyrrhenischen Amphoren gezielt versucht haben, den korinthischen Töpfern Konkurrenz zu machen. Man übernahm die Tierfriese, die bekannt und beliebt waren, und ergänzte sie um diese mythologischen Motive. Und man brachte das Ganze auf die Amphora, die in Etrurien sehr beliebt und stark nachgefragt war, denn die korinthischen Töpfereien, die haben die Amphora eher weniger produziert. Also das war so ein gezieltes Produkt, um in diesen etruskischen Markt vorzustoßen und sich da Marktanteile zu erobern.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Die Keramik aus Athen war ein begehrter Importartikel in Etrurien. Sie zeichnete sich durch die Darstellungen mythologischer Szenen wie beispielsweise die Kopfgeburt der Athene aus. Solche faszinierenden Szenen und Motive lassen sich an vielen Stellen der „Theogonie“ finden.

Christian Vogel
Für mich ist das Faszinierende an diesem Text, dass es ein Text ist, der über Anfänge berichtet. Ein Text, bei dem es um Anfänge geht, und wenn man das griechische Wort für Anfang nimmt, ἀρχή (archē), und das dann wiederum ins Lateinische übersetzt, principium, dann merkt man, dass es nicht nur um zeitliche Anfänge geht, sondern um Grundlagen. Und das sind die Anfänge der Welt, die Anfänge der Politik, die Anfänge der Dichtung, und das eben verstanden als die Prinzipien der Welt, die Prinzipien der Politik und die Prinzipien der Dichtung. Das ist eigentlich das Spannende, was diesen Text ausmacht. Zugleich, das hatte ich schon erwähnt, ist dieser Text selber ein Anfang. Die ganze Literaturgeschichte und Kunstgeschichte und Philosophiegeschichte ist voller Motive, die sich auf die Theogonie zurückführen lassen, voller Deutungen, Interpretationen, so dass es natürlich spannend ist, diesen Anfang selbst in den Blick zu nehmen. Und schließlich ist es ein Text über Ordnung, über die Entstehung von Ordnung, über das Wesen von Ordnung und vielleicht das Spannendste auch, über die Erhaltung von Ordnung, dass das schon mitgedacht ist.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Und tatsächlich endet der einleitende Gesang, das sogenannte Proömium, mit den Worten: „Dies kündet mir Musen, die ihr auf dem Olympos wohnt, von Anbeginn und sagt, was davon zuerst entstand.“

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer)
DER ALLERALLERERSTE ANFANG VON ALLEM

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
Zuerst nun war das Chaos …

Christian Vogel
Und dieses „zuerst nun“ ist im Griechischen ein πρωτιστα (protista), nicht nur ‚das Erste‘, sondern ‚das Allererste‘ – das ist die Steigerungsform, der Superlativ von ‚dem Ersten‘. Ganz am Anfang entstand nun ‚Chaos‘. Chaos wurde, Chaos entstand, Chaos ist nicht schon immer da gewesen. Wir haben hier ein Entstehen, und dann haben wir Chaos. Was ist das? Also, oft wird es verstanden als ‚gähnende Leere‘. Das kommt vermutlich aus dem griechischen Verb χάσκω (chaskō): klaffen, oder χάσμα (chasma): Kluft. Wir haben hier irgendwie so etwas wie eine Leere, eine Kluft.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Darin unterscheidet es sich von der dominanten Wortbedeutung unserer Zeit, in der Chaos für Unordnung, ein völliges Durcheinander, steht.

Christian Vogel
Hier haben wir einfach nur die Aussage: „Zuallererst war das Chaos.“ Und dass hier nichts weiter steht, scheint schon eine Art der Charakterisierung des Chaos zu sein. Denn normalerweise werden Gottheiten, Mächte und so weiter in der „Theogonie“ charakterisiert über ihren Namen, dann kommt oft ein Beiname, dann kommt irgendeine Familienkonstellation oder noch eine Geschichte. Und all das zusammen führt dazu, dass wir verstehen, was eigentlich mit dieser Gottheit gemeint ist. Hier steht jetzt nur „Chaos“. Eine Möglichkeit zu verstehen, was Hesiod damit meint, ist, wenn wir mal weiterlesen oder uns weiteranschauen, wie es dann weitergeht, und aus dieser Negation, aus dem Nichterklären heraus, aus dem Verhältnis zu den anderen Dingen noch einmal darauf zurückschauen, was denn Chaos eigentlich meinen sollte.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
Zuerst nun war das Chaos, danach die breitbrüstige Gaia, niemals wankender Sitz aller Unsterblichen, die den Gipfel des beschneiten Olymps und den finsteren Tartaros bewohnen in der Tiefe der breitstraßigen Erde.

Christian Vogel
So, jetzt haben wir Gaia. Und wir sehen, das ist die Erde und die ist charakterisiert. Sie ist breitbrüstig, sie nimmt Raum ein. Sie hat Größe, Länge, Dimension, es ist etwas Körperliches. Es ist ein Sitz für Gottheiten. Es ist ein Ort. Man kann damit etwas anfangen. Sie ist sicher, niemals wankend. Und wenn man hiervon ausgehend noch einmal zurück auf Chaos blickt, wird deutlich, Chaos ist im Gegensatz zu Gaia, zur Erde, das Unkörperliche, das Formlose, das nicht Sichere und so weiter.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
Weiter entstand Eros (Liebesbegehren), der schönste der unsterblichen Götter, der gliederlösende, der allen Göttern und Menschen den Sinn in der Brust überwältigt und ihr besonnenes Denken.

Christian Vogel
Mit Eros kommt jetzt also das Wirkprinzip in die Welt. Wir haben am Anfang die Formlosigkeit. Wir haben dann Gaia, die Erde, die Festigkeit hat. Und dann haben wir mit Eros das Prinzip, das dafür sorgt, dass die Erdgeschichte überhaupt in Gang kommt, dass die Entwicklung fortlaufen kann. Eros ist Welt bildend, ist das Prinzip von Zeugung und Vermehrung. Und Eros aktiviert quasi den kosmischen Prozess, ohne aber selbst etwas zu erzeugen. Ja, das ist wichtig. Und so scheint es eine Idee des Hesiod zu sein, die Prinzipien der Welt – das, ohne das Welt nicht gedacht werden kann – hier genannt zu haben. Wir brauchen etwas Formloses, eine formlose, körperlose Potenz. Wir brauchen die Potenz des Struktur Gebenden, des Körper Gebenden, des Festigkeit Gebenden. Und wir brauchen ein Wirkprinzip, das dafür sorgt, dass die Fortpflanzung, dass der Prozess, dass der eben in Gang kommt.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Halten wir mal den Anfang der Welt daneben, wie wir ihn aus der Bibel aus der Genesis kennen.

Christian Vogel
Da haben wir fast die gleichen Elemente, die wir jetzt hier am Anfang in der „Theogonie“ finden. Wir haben die Erde, die wüst und leer ist, Tohuwabohu, was ganz gerne immer mit dem Chaos übersetzt wird. Aber wir haben auch hier dieses Leere irgendwie am Anfang. Wir haben die Finsternis, und dann kommt Tag und dann kommt Nacht. Und aus der Flut gestalten sich dann Himmel und Erde und Land und so weiter. Und diese Elemente kommen ja auch vor, teilweise in der gleichen Reihenfolge. Aber der entscheidende Unterschied ist, wir haben einen Schöpfergott in der Genesis – Gott schuf Himmel und Erde –, und hier ist es so, dass diese drei Elemente in die Welt kommen, weder geschöpft wurden von irgendjemandem, noch schon immer da waren.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
Aus dem Chaos gingen Erebos (finsterer Grund) und die dunkle Nacht hervor, und der Nacht wieder entstammten Aither (Himmelshelle) und Hemere (Tag), die sie gebar, befruchtet von Erebos’ Liebe.

Christian Vogel
Ja, und da merken wir schon, Chaos ist nicht das Nichts, und Chaos ist auch nicht Unordnung, sondern Chaos ist ein körperloses Prinzip, das selber in der Lage ist etwas zu schöpfen.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
Gaia brachte zuerst, ihr gleich, den sternreichen Uranos hervor, damit er sie ganz bedecke und den seligen Göttern ein niemals wankender Sitz sei.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
In seiner „Theogonie“ schildert Hesiod nun, wie aus diesen drei Urprinzipien die zahlreichen griechischen Gottheiten entstehen.
    
Christian Vogel
Man wird recht schnell stutzig, wenn man sieht, wer da so alles auftaucht. Also wir haben zum einen natürlich Götter des Kults, die er erwähnt. Das sind Zeus, Hekate, das sind Götter, von denen es Kultorte gibt, die er in seine „Theogonie“ integriert. Wir haben Götter und Gottheiten des Mythos. Das sind die Sphinx oder Atlas und so weiter, das sind Gottheiten, die im Mythos übermittelt sind, die auch Hesiod probiert in diese Ordnung mit einzubringen. Dann haben wir ganz viele Gottheiten, die uns jedenfalls unbekannt sind aus Mythos und Kult. Und da ist die Frage, sind das alte Kulte, die nicht mehr überlebt haben, auf die er zurückgreift, die er noch über das Hörensagen kennt? Oder sind das Götter, die er erfunden hat? Und dann kommen aber eben mindestens zwei Dinge hinzu, die überraschend sind. Das sind die Elemente der sichtbaren Welt. Wir haben Uranos – den Himmel, Pontos – das Meer, Sterne, Flüsse … – das sind bei ihm alles Gottheiten, auf der einen Seite. Und dann solche unsichtbaren, unzerstörbaren Wirkmächte: Tod, Schlaf, Streit und Gewalt und so weiter, also solche Art von Abstraktionen. Und diese Gemeinsamkeit von all den Dingen, könnte man vielleicht sagen, die Gottheiten und die Götter bei Hesiod, die vergehen nicht, die sind ewig. Und es sind in irgendeiner Art und Weise Wirkmächte, die unabhängig von dem einzelnen Leben des Menschen existieren, denen der Mensch begegnet, mit denen wir als Menschen konfrontiert sind.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Der Text entfaltet eine sehr detailreiche Generationenfolge, eine Genealogie mit eigenem Stammbaum, der aber so komplex ist, dass er sich kaum grafisch darstellen lässt. Wir wollen dennoch versuchen, die Abfolge der verschiedenen Göttergenerationen zusammenzufassen:

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer)
Gaia bringt aus sich Uranos, den Himmel, hervor und somit beginnt dessen Herrschaft. Uranos fürchtet, von einem Nachkommen bezwungen und abgelöst zu werden. Also bedeckt er die Erde, Gaia, so dicht, dass sie ihre Nachkommen, die Titanen, die Kyklopen und die Hundertarmigen nicht gebären kann. Das erzürnt Gaia und verursacht ihr Schmerzen, so dass sie den Titanen Kronos mit einer Sichel ausrüstet. Dieser entmannt seinen Vater Uranos. Somit beginnt die Herrschaft der zweiten Göttergeneration, die Herrschaft des Kronos und seiner Göttergattin Rhea. Kronos fürchtet, von einem Nachkommen bezwungen und abgelöst zu werden. Also geht er dazu über, jedes neugeborene Kind zu verschlucken. Rhea gelingt es, ihren Sohn Zeus zu verstecken und Kronos anstelle des Zeus einen Stein verschlucken zu lassen. Mit einer weiteren List wird Kronos dazu gebracht, die Geschwister des Zeus auszuspeien. Es beginnt der Kampf der dritten Göttergeneration, die sich um Zeus versammelt, gegen die Titanen Kronos und seine Geschwister. Die Titanomachie, dieser Kampf also, wird letztendlich durch das Eingreifen der drei Hundertarmigen, die von Zeus befreit werden, entschieden. Danach muss Zeus noch gegen das jüngste Kind der Gaia, Typhon, kämpfen und besiegt diesen knapp. Und somit beginnt die Herrschaft des Zeus. Er fürchtet, von einem Nachkommen bezwungen und abgelöst zu werden. Also verschluckt er seine erste Frau Metis, die diesen Nachkommen hervorbringen soll und gerade mit Athene schwanger ist. Anschließend hat er viele Nachfahren mit verschiedenen Göttinnen, Halbgöttinnen und Normalsterblichen, seine Gestalt wandelnd zum Schwan, Goldregen, Schlange, Stier, Wolke, Ameise, Kuckuck, Satyr, Adler, Feuer, Hirte … aber da sind wir nicht mehr bei der „Theogonie“.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Ja also nicht erst die Fruchtbarkeit und Fortpflanzungsfreude des Zeus bringen neue Abstammungslinien hervor. Die „Theogonie“ ist durchzogen von Katalogen, in denen die zahlreichen Geschöpfe und ihre Verwandtschaftsbeziehungen aufgelistet werden.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
Von Nereus stammen zahlreiche Götterkinder im unwirtlichen Meer, von ihm und der schönhaarigen Doris, der Tochter des Okeanos, des endlosen Stromes: Proto (die Erste) und Eukrante (gute Vollendung), Sao (Rettung), Amphitrite, Eudore (Spenderin), Thetis und Galene (Meeresstille) und Glauke (die Glänzende), auch Kymothoe (die Wogenschnelle), Speio (Grotte), Thoe (die Rasche) und die reizende Halie (Meermädchen), weiter Pasithee (ganz göttlich), Erato (die Liebliche) und die rosenarmige Eunike (gute Siegerin) …

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Zählt man alle Wesen aus der „Theogonie“ zusammen, kommt man auf die beachtliche Zahl von sage und schreibe 296. Es erscheint also im Durchschnitt, auf die dritte Nachkommastelle gerundet, alle 3,452 Verse ein neues Geschöpf.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
… Pronoe (die Vorausdenkerin) und endlich Nemerthes (die niemals Fehlende), die im Wesen ihrem unsterblichen Vater gleicht. Dies sind die Töchter des herrlichen Nereus, fünfzig Mädchen, geschickt in herrlichen Werken.

Christian Vogel
Wenn man sich die Frage stellt nach der Originalität des Hesiod, was ist eigentlich von ihm, was hat er von woanders übernommen, dann stechen immer ins Auge diese Listen und die Kataloge, die er erstellt. Der Höhepunkt seiner Kunst, den Höhepunkt seiner Kunst zeigt er eigentlich dann, wenn er tatsächlich zig verschiedene Gottheiten hintereinander in die Form des daktylischen Hexameters bringt. Und das ist etwas, wo der Dichter tatsächlich auch zeigen kann, wozu er formal und ästhetisch in der Lage ist, wo er zeigt, dass bestimmte Eigenschaften, die mit bestimmten Gottheiten verbunden sind, dass er die aneinanderreihen kann und in eine schönklingende, ästhetische Form bringen kann, die nicht nur Wissen vermittelt – Wissen von Eigenschaften der Erde, Wissen von Flüssen, die es gibt, Wissen von Ordnung, Wissen von begrifflichen Zusammenhängen –, sondern eben auch eine eigene ästhetische Qualität besitzen.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Denn der Katalog, den wir gerade gehört haben, klingt im Original in etwa so:

Daniela Summa
Πρωθώ τ' Εὐκράντη τε Σαώ τ' Ἀμφιτρίτη τε
Εὐδώρη τε Θέτις τε Γαλήνη τε Γλαύκη τε,
Κυμοθόη Σπειώ τε θοὴ Θαλίη τ' ἐρόεσσα
Πασιθέη τ' Ἐρατώ τε καὶ Εὐνίκη ῥοδόπηχυς
καὶ Μελίτη χαρίεσσα καὶ Εὐλιμένη καὶ Ἀγαυὴ
Δωτώ τε Πρωτώ τε Φέρουσά τε Δυναμένη τε
Νησαίη τε καὶ Ἀκταίη καὶ Πρωτομέδεια,
Δωρὶς καὶ Πανόπη καὶ εὐειδὴς Γαλάτεια
Ἱπποθόη τ' ἐρόεσσα καὶ Ἱππονόη ῥοδόπηχυς
Κυμοδόκη θ', ἣ κύματ' ἐν ἠεροειδέι πόντῳ …

Christian Vogel
Interessant ist, dass wir hier verschiedene Ordnungsprinzipien haben, wie dieser Text angelegt ist. Und das ist immer wieder spannend da tatsächlich in diesen Text reinzuschauen und darauf zu achten, dass wir hier nicht nur das erste und Urprinzip, oder die drei Urprinzipien haben, und davon abgeleitet dann die Erde erschien, sondern parallel dazu und gleichzeitig immer eine Gerichtetheit, eine teleologische Anordnung auf Zeus hin.

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer)
DER ANFANG DER ZEUSHERRSCHAFT

Christian Vogel
Eine Lesart der „Theogonie“ wäre es, darauf zu achten, dass von Anfang an in dem Text darauf Wert gelegt wird, dass es hier darum geht, dass eine Ordnung besteht. Das griechische Wort für Ordnung ist κόσμος (kósmos). Dieser ganze Text zielt darauf, den Kosmos, die Ordnung des Zeus darzustellen, und zwar angefangen von der Entstehung hin bis zur Etablierung und zur Sicherung dieser Ordnung.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Die neue Ordnung muss sich, um Stabilität zu gewinnen, gegen urtümliche Kräfte durchsetzen.

Christian Vogel
Wir haben immer wieder den Prozess des Zeugens, des Versuchs, dass diese Zeugung unterbrochen wird, dass wieder eine neue Herrschaft kommt, alles durch Erde, Gaia, inszeniert – Gaia, die Erde, die das Prinzip der Fortpflanzung und die quasi die Regisseurin dieser Nachkommenschaft, die immer wieder sich mit dem Jüngsten verbindet, um den Versuch des Ältesten oder des aktuellen Königs, diese Fortpflanzung zu unterbinden, um das eben wieder aufzubrechen. Wir haben also eine Dynamik in der Welt. Und wir haben verschiedene Stellen, an denen es ziemlich deutlich wird, wie es dazu kommt, dass Zeus nun diesen ganzen Prozess des permanenten Umstürzens, wie er das schafft, hier eine Stabilität reinzubringen.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Seine raffinierte Art, die neue Ordnung zu stabilisieren, stellt Zeus im Umgang mit einer alten Gottheit unter Beweis: der Göttin Styx.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
So nämlich beschloß es Styx, des Okeanos ewige Tochter, an jenem Tag, als der Blitze schleudernde Olympier alle unsterblichen Götter zum hohen Olympos berief und verkündete, keinem der Götter, die mit ihm gegen die Titanen kämpften, werde er seine Vorrechte nehmen, sondern jeder werde sein Amt wie bisher im Kreis der unsterblichen Götter behalten. Wer aber, fuhr er fort, von Kronos weder Ehre noch Vorrecht erhielt, werde, wie’s sich gebühre, Ehre und Vorrecht erlangen. Da folgte die unvergängliche Styx dem Rat ihres Vaters und kam als erste mit ihren Kindern zum Olympos. Zeus aber verlieh ihr Ehre und Rang und schenkte ihr herrliche Gaben. Bei ihr nämlich mußte der große Göttereid geschworen werden, und ihre Kinder sollten alle Tage bei ihm wohnen. Ebenso erfüllte er allen voll und ganz sein Versprechen; er selbst aber gebietet und herrscht machtvoll.

Christian Vogel
Also Zeus ist hier ganz eindeutig als derjenige markiert, der bereit ist, diese alten Götter und diese alten Elemente in seine Welt mit aufzunehmen. Styx, eine alte Gottheit, wird als ἄτιμος (atimos) beschrieben, also sie ist ohne Ehre, ohne Amt, ohne Aufgabe. Und sie erhält nun von Zeus das Versprechen, dass, wenn sie ihn unterstützt, dass sie einen Platz in dem Kosmos des Zeus kriegen wird, und damit Ehre, Anerkennung und Aufgabe. Und Styx ist nun die erste, die sich Zeus anschließt. Und dann erfahren wir, dass daraufhin die Kinder der Styx – der Sieg, der Eifer, die Gewalt und die Macht –, dass sich diese Kinder der Styx auch Zeus anschließen und zum Olymp kommen. Und jetzt haben wir einen ersten Hinweis darauf, dass diese Elemente Gewalt und Macht, dass das Elemente sind, die für die Herrschaft notwendig sind, aber die nicht wesentlich sind für die Zeusherrschaft. Sie ordnen sich Zeus unter und werden dadurch ein Teil einer ordnenden Herrschaft, aber sie sind nicht das Prinzip der Herrschaft. Gewalt ist nicht Prinzip der Herrschaft. Gewalt ist Zeus nicht inhärent.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Zeus sichert seine Herrschaft durch Deals. Er ist bereit, etwas zu geben, weil er weiß, dass er dadurch auch etwas erhält.

Christian Vogel
Es ist nicht wie bei Uranos und bei Kronos, die mit purer Macht und mit stumpfer Gewalt etwas versuchen zu unterdrücken, sondern wir sehen hier ganz fein beschrieben an verschiedenen Stellen, dass Zeus derjenige ist, der verschiedene Mächte versucht für sich einzunehmen und dadurch seine politische Macht überhaupt erst ermöglichen wird.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Auch sein Machtinstrument, das Blitzbündel, an dem wir ihn auch auf der Amphore im Alten Museum erkennen, hat Zeus nicht von Anfang an. Er erhält es von den Kyklopen, die zur Göttergeneration vor ihm gehören, als Dank dafür, dass er sie befreite.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
Zeus erlöste auch seine Vaterbrüder, des Uranos Kinder, von grausamen Fesseln, in die sie der Vater in seiner Verblendung gelegt hatte. Sie wußten ihm Dank für die Wohltat und gaben ihm Donner, rauchenden Blitz und blendenden Strahl, die zuvor die riesige Gaia verborgen hatte. Darauf vertraut er und herrscht über Menschen und ewige Götter.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
So sammelt und festigt Zeus durch Machthandel und Allianzen, was er zur Herrschaft benötigt. Er bringt nicht alles selbst hervor, er ist eben kein Schöpfergott. Was ihm ganz ursprünglich zu eigen ist – da ist der Text eindeutig – das ist seine Klugheit.

Christian Vogel
So und diese Klugheit des Zeus ist das Element, das immer wieder mit ihm in Verbindung gebracht wird, während die anderen Elemente – die Machtinsignien von Donner und Blitz, die Gewalt und die Macht – das sind Dinge, die hat er sich über seinen Scharfsinn, über seine Art des Umgangs mit den anderen Mächten, die hat er erst dazugewonnen und sich untergeordnet. Aber diese Klugheit ist etwas, die ihm innewohnt und die ihn immer wieder charakterisiert.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Als Zeus den Kampf gegen die Titanen, die alte Göttergeneration des Kronos, mithilfe seiner Verbündeten gewonnen hat, ist der Prozess der ewigen Dynamik des Sturzes der alten durch die Folgegeneration noch nicht gestoppt. Gaia, von der wir wissen, dass sie diesen Prozess am Laufen hält, versucht ein letztes Mal, die Neuordnung zu stören, indem sie ihren Sohn Typhon, auch Typhoeus genannt – eine Art Anti-Zeus – ins Spiel bringt.

Christian Vogel
Typhon, der beschrieben wird als schreckliches, verbrecherisches, gesetzloses Wesen. Im Vers 307 haben wir genau diese Begriffe: schrecklich, er ist voller Hybris, er ist ἄνομος (anomos), er ist frei von jeglicher Gesetzlichkeit. Und diese fleischgewordene Unordnung kämpft nun als letztes, ist das letzte Kinder der Gaia, kämpft nun gegen Zeus.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
Von seinen Schultern ragten hundert Schlangenköpfe, schreckliche Drachenhäupter, die mit schwarzen Zungen leckten; an seinen riesigen Köpfen schoß ihm unter den Brauen Feuer aus den Augen, und bei jedem Blick lohten Flammen aus seinen Häuptern. Stimmen saßen in all seinen gräßlichen Köpfen, die allerlei greuliche Laute entsandten. (…) Zeus aber nahm alle Kraft zusammen und ergriff seine Waffen, Donner und Blitz und rauchenden Strahl, sprang vom Olympos, schmetterte herab und verbrannte alle die grausigen Häupter des schrecklichen Scheusals. Und als er Typhoeus mit scharfen Schlägen gebändigt, brach dieser in die Knie, und es stöhnte die riesige Erde. Flammen schossen aus dem vom Blitz niedergeschmetterten Herrscher, der in dunkle, schroffe Bergschluchten stürzte. Weithin brannte die riesige Erde in unbeschreiblicher Glut und schmolz wie Zinn (…).

Christian Vogel
Und Zeus hat nun die Stärke erreicht durch seine ganzen Allianzen, um auch diesen Typhon zu besiegen. Und das ist ein Kampf, der so beschrieben wird, dass hier tatsächlich auch Gaia, die Erde, die eigentlich feste, stabile Erde auch in Mitleidenschaft gerät. Und aus diesem Kampf geht nun auch Zeus als Sieger hervor. Und dass sich Gaia nun danach nicht mehr wehrt, das ist ganz entscheidend. Sie hat es also probiert mit den ersten Kindern, mit den Titanen. Und mit dem letzten Kind, mit dem Typhon, wurde gezeigt, dass Gaia auch an ihrer Grenze ist, und Zeus einfach nicht zu besiegen ist. Und dann kommt eigentlich die Passage, die den entscheidenden Unterschied verdeutlicht, inwiefern sich die Herrschaft des Zeus von den anderen Herrschaften unterscheidet.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
Als nun die seligen Götter den mühsamen Kampf beendet und mit den Titanen um die Vorrechte gerungen hatten, da forderten sie nach Gaias Rat den weitblickenden olympischen Zeus auf, König und Herrscher der Unsterblichen zu werden. Er aber teilte ihnen alle Ehrenrechte nach Gebühr zu.

Christian Vogel
Zeus reißt nicht die Macht einfach an sich, sondern er wird darum gebeten. Zeus hat also Gaia, die Erde, das Urprinzip von allem, was den Kosmos ausmacht, auf seiner Seite. Gaia rät dazu, Zeus zum König werden zu lassen, also er wird gewählt. Er ist kein Gewaltherrscher, er ist kein Tyrann, sondern ein König im besten Sinne des Wortes, jemand der von denen, über die er regiert, eben auch unterstützt wird. Und gleich danach wird beschrieben, er teilt den anderen Gottheiten ihre Ehrenrechte, ihre Aufgaben zu. Ja, er verteilt gleich wieder die Macht. Das ist das Entscheidende und das charakterisiert die Zeusherrschaft.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Nachdem Zeus nun die Herrschaft erlangt hat, etabliert er Schritt für Schritt eine neue Ordnung und versucht sie zu verstetigen. Hierfür verteilt er die Macht gezielt auch auf andere Gottheiten. Und er geht mehrere Ehen ein. In diesen Ehen lauert zugleich eine letzte Gefahr für seine Herrschaft, denn Zeus war geweissagt worden, dass ihn das gleiche Schicksal wie Uranos und Kronos ereilen und er von seinem erstgeborenen Sohn gestürzt würde.  

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik)
Als Götterkönig machte Zeus Metis (Klugheit) zur ersten Gattin, die weiseste unter Göttern und sterblichen Menschen. Doch als diese die helläugige Göttin Athene gebären sollte, da täuschte er sie listig mit schmeichelnden Worten und barg Metis nach dem Rat Gaias und des sternreichen Himmels in seinem Leib. Dies nämlich rieten sie ihm, damit nicht ein anderer der ewigen Götter an seiner Stelle die Herrschergewalt übernehme. Denn Metis sollte, so war es bestimmt, sehr kluge Kinder gebären; zuerst eine Tochter, die helläugige Tritogeneia, dem Vater gleich an Mut und planendem Willen; dann aber sollte sie einen Sohn gebären, einen König der Götter und Menschen mit trotzigem Sinn. Doch zuvor barg Zeus Metis in seinem Leib, damit ihm die Göttin künde, was gut sei und böse.

Christian Vogel
Metis, die Klugheit, wird zu seiner ersten Frau. Und hier sind vielleicht zwei Punkte wichtig, warum Hesiod Metis an die erste Stelle stellt. Zum einen wird das damit begründet, dass auch Zeus fürchten muss, dass einer seiner Nachkommen ihm die Herrschaft streitig machen wird. Und der andere Punkt ist, dass Zeus’ Verschlucken der Metis damit begründet wird, dass sie ihm das Künden wird, was gut und böse sei. Und damit kommen jetzt moralische Qualitäten in die Welt. Wir haben gesehen, dass Zeus scharfsinnig ist, dass Zeus klug ist, dass Zeus nach Plan gut agieren kann, viele Dinge durchschaut, aber den Maßstab seines Überlegens, seines Planens, seines Nachdenkens, den bekommt er jetzt durch das Verschlucken der Metis. Er inkorporiert quasi Metis, die Klugheit. Er erkennt, was gut und böse ist und kann danach eben entscheiden und planen. Und er unterbindet nicht die Fortpflanzung, das ist eben auch ganz entscheidend, er macht das Prinzip der Fortpflanzung sich eigentlich zu eigen, wie wir dann sehen werden anhand der Geburt der Athene.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Wenn Zeus Metis verschlingt, dann hat das einen vollkommen anderen Charakter als bei Kronos. Der verschluckt seine Kinder aus blinder Panik. Zeus hingegen geht planvoll vor und handelt, weil Gaia ihm dazu rät.
Jetzt wird klarer, warum sich die Beschreibung bei Hesiod von der Darstellung des Mythos auf der Amphore unterscheidet.

Christian Vogel
Also, wenn wir uns das Motiv der Vase anschauen, dann sehen wir, dass diese Geburt der Athene Teil einer größeren Geschichte ist mit mehreren Akteuren. In dieser Geschichte wird ja auch mit vermittelt, dass Zeus diese Kopfschmerzen hat, dass Zeus von dem Druck von Innen befreit werden muss, dass Zeus darunter leidet. Und all das finden wir bei Hesiod nicht. Da ist das Verschlucken ist Teil eines Planes, und wie die Athene da rauskommt, ob ihn das stört oder nicht stört, das spielt hier gar keine Rolle, sondern es wird einfach integriert. Athene wird als Tochter des Zeus und der Metis, die ja hier auf der Vase gar keine Rolle spielt und nicht Teil dieser Abbildung ist, und die für Hesiod aber scheinbar der wichtigere Bestandteil sein wird dieser Geschichte. Denn Metis, als erste Frau, ist ganz nach vorne gestellt. Und das ist für Hesiod das Entscheidende. Und nicht dieser Schwank, nicht die Geschichte, nicht der Streit, nicht die Schmerzen, nicht die Überraschung. Sondern Zeus ist der Planende, der alles berät, der danach handelt, der weiß, warum er das tut. Die Geburt der Athene selbst wird dann nicht weiter umschrieben. Sie ist die Tochter des Vaters, sie teilt mit Zeus die Eigenschaften.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch)
Auftritt Athene!

Daniela Summa:
αὐτὸς δ' ἐκ κεφαλῆς γλαυκώπιδα γείνατ' Ἀθήνην, …

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Sie entsteigt dem Kopf des Zeus – eine mächtige Göttin, keine nebulöse Kopfgeburt! Gemeinsam mit Gyburg Uhlmann, der Sprecherin des Sonderforschungsbereichs „Episteme in Bewegung“, wollen wir nun herausfinden, wer Athene eigentlich ist und was sie auszeichnet.

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer):
DIE GEBURT DER ATHENE AUS DEM GEISTE IHRER HANDLUNGEN

Gyburg Uhlmann:
Das, was wir als Gerüst bei Hesiod haben, wird bei Homer, also bei dem anderen großen epischen Dichter der frühgriechischen Zeit, wird bei Homer in Handlungen der einzelnen Götter und natürlich auch der Helden, die mit diesen Göttern interagieren, entwickelt, entfaltet, in vielen einzelnen Handlungen. Und für Athene kann man das wunderbar zeigen: Athene ist eine der prominentesten Göttinnen sowohl in der „Ilias“ als auch in der „Odyssee“. Also, wenn man wissen möchte, was das denn eigentlich bedeutet, Athene als Göttin des klugen Ratens, der Klugheit, der praktischen Klugheit – der φρόνησις (phronēsis) ist das im Griechischen –, dann muss man sich eigentlich einzelne Handlungen angucken.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Nehmen wir die „Ilias“, die von den Kämpfen der Griechen gegen die Trojaner erzählt:

Gyburg Uhlmann:
Die „Ilias“ handelt ja keineswegs vom ganzen Trojanischen Krieg, der ja zehn Jahre gedauert hat und sehr sehr viele Phasen und Episoden hatte, sondern die „Ilias“ handelt von einer ganz konkreten, sehr individuellen Handlung. Diese Handlung besteht darin – und das ist gleich das erste Wort der „Ilias“ – Μῆνιν ἄειδε θεὰ Πηληιάδεω Ἀχιλῆος (mēnin aeide thea Pēlēiadeō Achilēos). Das ist der erste Vers der „Ilias“. Und das Wort μῆνις (mēnis) heißt Zorn. Tatsächlich handelt die „Ilias“ von dem Zorn, den Achill auf den Heeresführer Agamemnon entwickelt, weil dieser ihm Unrecht getan hat.

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer):
Im neunten Jahr des Trojanischen Krieges erzürnen die Griechen den Gott Apoll, da sie aus einem ihm geweihten Tempel Chryseis, die Tochter des Priesters, entführen, die fortan zu König Agamemnons Kriegsbeute gehört. Apoll schickt zur Strafe die Pest ins Lager der Griechen und fordert die Rückgabe von Chryseis an ihren Vater. Nur so  könne das Heer als Ganzes überleben. Agamemnon willigt schließlich ein, nimmt dafür aber, um den Verlust seiner Sklavin zu kompensieren, Achill eine andere geraubte Frau, Briseis, weg.

Gyburg Uhlmann:
Da gibt es eine Szene, in der Achill voller Wut, also im Ersten Buch der „Ilias“, voller Wut ist gegenüber Agamemnon, und Achill will das Schwert ziehen und Agamemnon töten.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik):
Da kam Athene vom Himmel herab: „Gekommen bin ich, Einhalt zu tun deinem Ungestüm, wenn du mir folgtest, herab vom Himmel, und mich schickt die Göttin, die weißarmige Here, die euch beide zugleich im Mute liebt und sich um euch sorgt. Doch auf! Laß ab vom Streit und ziehe nicht das Schwert mit der Hand! Aber freilich, mit Worten halte ihm vor, wie es auch sein wird. Denn so sage ich es heraus, und das wird auch vollendet werden: Sogar dreimal so viele glänzende Gaben werden dir einst werden um dieses Übermutes willen. Du aber halte an dich und folge uns!“

Gyburg Uhlmann:
Das ist erstmal eine ganz merkwürdige Szene aus unserer Sicht, weil wir denken würden, naja, das kann man eigentlich aus dem Charakter selbst motivieren. Viele frühere Interpreten waren der Meinung, der Grund dafür, dass Homer hier keine inneren Vorgänge beschreibt, sei, dass der frühgriechische Mensch, der Mensch in der frühen griechischen Antike, noch nicht dazu in der Lage gewesen sei, innere Vorgänge als solche zu verstehen, also als etwas, was zu dem einzelnen Menschen dazugehört. Und deshalb habe er die sozusagen nach außen verlegt und sich überlegt, dass äußere Kräfte einwirken auf die handelnden Personen oder auf die Menschen, denen so etwas widerfährt. So dass dann die Konsequenz wäre, dass die Athene nichts anderes ist, als das, was Achill sich auch selbst denken könnte, einfach als äußere Macht vorgestellt. Wenn man sich jetzt aber genau anguckt, wie das in der „Ilias“ tatsächlich erzählt wird, dann stellt man fest, dass diese Interpretation nicht richtig sein kann.
Denn Athene ist die Gottheit, die auf der Seite der Griechen steht. Es ist ihr Interesse, dass die Griechen diesen Krieg gewinnen. Also das ganze griechische Heer. Nun gibt sie Achill den Rat, er soll sich doch von den Kämpfen zurückziehen und dadurch Rache nehmen an Agamemnon. Das ist nun ganz gewiss nicht in ihrem Sinne, also im Sinne des Gesamtplans und ihrer Vorstellung davon die Griechen zu unterstützen, denn sie weiß natürlich, dass ohne Achill die Griechen scheitern werden im Kampf. Man kann Athene nicht mit dem identifizieren, was Achill im Inneren bewegt, weil wir verschiedene Aussagen haben, Erzählungen, Bemerkungen, in denen Homer ganz klar macht, Athene will was ganz Anderes. Das heißt, das sind zwei verschiedene Figuren. Athene ist eine eigene handelnde Figur, die ganz bestimmte Interessen hat, und die auch einen Weitblick hat, der Achill in dieser Situation fehlt.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik):
Da antwortete und sprach zu ihr der fußschnelle Achilleus: „Not ist es, Göttin, euer beider Wort zu bewahren, ob man auch noch so sehr im Mute zürnt, denn so ist es besser. Wer den Göttern gehorcht, sehr hören sie auch auf diesen.“
Sprachs und hielt an auf dem silbernen Griff die Hand, die schwere, und zurück in die Scheide stieß er das große Schwert und war nicht ungehorsam dem Wort Athenaias. Sie aber ging zum Olympos in die Häuser des Zeus, des Aigishalters, zu den anderen Göttern.

Gyburg Uhlmann:
Athene rät genau das, was Achill in dieser Situation an vernünftigen Gedanken zu denken in der Lage ist. Das ist das, was sie eingibt, was sie ihm vorschlägt. Und er folgt dem auch. Das heißt, es gelingt auch, die Worte kommen an, und zwar deswegen, weil sie rezipientenorientiert sind. Weil das genau das ist, was dieser Achill in dieser Situation denken kann. So könnte man also insgesamt daraus schließen, dass Athene für das vernünftige Denken und Handeln steht, und auch für das vernünftige Sprechen – also auf beiden Ebenen, sowohl auf der Sprache als auch auf der Ebene des Denkens – sie steht für das vernünftige Denken und wendet sich den Menschen jeweils individuell so zu, dass sie das, was diese Menschen zu denken und zu erkennen in der Lage sind, an praktischer Vernunft, an praktischer Klugheit, vorschlägt, als Möglichkeit eingibt, oder ähnliches.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Athene passt ihre Ratschläge also jedem Menschen ganz spezifisch an. Sie redet mit dem klugen Achill anders als etwa mit einem einfachen Krieger von deutlich schlichterem Gemüt. Beiden schlägt sie nur solche Handlungsoptionen vor, die diese auch nachvollziehen können.
Diese besondere Fähigkeit der Athene korrespondiert sehr schön mit einer der seltenen Selbstbeschreibungen der Göttin als kluge Ratgeberin, wie wir sie in dem anderen großen Epos von Homer finden: der „Odyssee“. Hier agiert Athene als Schutzgöttin von Odysseus und berät ihn, den Helden, der nicht umsonst der „listenreiche“ Odysseus genannt wird, auf seiner spektakulären Heimreise. Und so kommt es im 13. Gesang der „Odyssee“ zu einer besonderen Begegnung zwischen Athene und ihrem Schützling.

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer):
Odysseus ist nach seinem Aufenthalt bei den sagenumwobenen Phäaken von diesen endlich heimgeführt worden. Sie legen ihn schlafend am Strand von Ithaka ab, zusammen mit den Reichtümern und Geschenken, die er von ihnen bekommen hat. Als er erwacht, weiß er nicht, dass er sich in seinem eigenen Königreich befindet. Da kommt ein junger Hirte daher, der ihm verrät, dass er in Ithaka ist. Odysseus ist aber vorsichtig, gibt sich nicht zu erkennen und erzählt dem Hirten eine erdachte Lebensgeschichte, die klarmachen soll, dass er sich gegen Raubversuche an seinem auf dem Strand herumliegenden Hab und Gut zur Wehr setzen würde. Der Hirte, dem er diese Lügengeschichte auftischt, ist in Wirklichkeit Athene, die in dieser Gestalt zu Odysseus gekommen ist.

Gyburg Uhlmann:
Und nun ist es wirklich wunderbar, dass, als Odysseus diese erste Geschichte erzählt, die ja, wie Athene weiß, nicht der Wahrheit entspricht, die etwas anderes vorgibt, als was tatsächlich passiert ist, da reagiert Athene keineswegs ungehalten, beleidigt, zornig oder ähnliches, sondern sie lächelt und sie freut sich an ihm und sie gibt sich ihm zu erkennen schließlich, dass sie als Göttin Athene vor ihn tritt – eine außergewöhnliche Situation. Das gibt es nur in dieser Szene, dass eine Gottheit wirklich als sie selbst vor jemanden tritt. Zumeist nehmen Götter die Gestalt von anderen an. Und hier erscheint sie als große schöne Frau und sagt, ich bin Athene. Und sie freut sich darüber, dass dieser Odysseus, ihr Schützling Odysseus, sich so klug verhält. Dass er nicht einfach losprescht: Ich bin Odysseus, ich bin hier der König, lasst mich in meinen Palast, sondern er behält immer noch die Zurückhaltung. Und da gibt es diese wunderbaren Verse, die man eigentlich wörtlich zitieren müsste.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik):
„Da du unter den Sterblichen allgesamt der weitaus beste bist an Rat und Worten, ich aber unter allen Göttern berühmt durch Klugheit bin und Listen.“

Gyburg Uhlmann:
Und da ist es ein wirklich schöner Aspekt, der meiner Meinung nach auch in der Forschung zu wenig berücksichtigt ist, dass sie sagt: ἄριστος ἁπάντων βουλῇ καὶ μύθοισιν (aristos hapantōn boulēj kai mythoisin) – also, du bist der beste von den Menschen im Rat, also in der βουλή (bulē), also im guten Ratschlagen, also in den richtigen Handlungsentscheidungen, und in den Worten. Also er kann auch das, was er verstanden hat als richtige Handlungsoption bestmöglich in einer Rede so präsentieren, dass es ankommt bei den Rezipienten, also bei seinem Gegenüber. Dass er das in der Rede auch vermitteln kann, was er als Handlungsoption, als die beste, verstanden hat. Denn das gehört natürlich dazu. Es reicht nicht, dass man versteht, was man eigentlich tun müsste, sondern man muss auch andere davon überzeugen können, genau das zu tun. Das kann Athene, das zeigt sie in vielen Szenen von „Ilias“ und „Odyssee“, das kann aber auch Odysseus.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Diese auf das Gegenüber abgestimmte Redefähigkeit, diese gezielte Kommunikation ist besonders wichtig, wenn es um die Bildung, Anerkennung und Stabilisierung der Zeus’schen oder auch jeder anderen Ordnung geht. Damit eine politische oder soziale Struktur wirksam werden kann, braucht es kommunikationsbegabte Wesen, die die Vorzüge dieser Struktur vermitteln und ihre Funktionsweisen für alle verständlich erklären können.
Das sind bei Hesiod die Musen. Nachdem Zeus die Ordnung seiner Herrschaft etabliert, treten seine Kinder aus der fünften Ehe mit Mnemosyne (Gedächtnis und Erinnerung) in den Vordergrund – die neun Musen. Ihnen wird die Aufgabe übertragen, der Ordnung Dauer zu verleihen, indem sie sie besingen und in die Welt tragen.

Sprecherin (gel. von Katharina Kwaschik):
Diese nun lehrten einst Hesiodos schönen Gesang, als er Schafe am Fuß des heiligen Helikon weidete.

Sprecher (gel. von Matthias Dittmer):
DAS VORLÄUFIGE ENDE DER ANFÄNGE

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Damit schließt sich der Kreis in der „Theogonie“, die ja mit der Begegnung Hesiods mit den Musen ihren Anfang nahm. So betrachtet trägt Hesiod in seinem Lehrgedicht über die Entstehung der Götter das Wissen in die Welt, das ihm die Musen mitgeteilt haben.

Christian Vogel:
Und das ist ein ganz entscheidendes Prinzip, was Hesiod hier zugrunde zu legen scheint, dass gute Ordnung nie funktioniert und nicht funktionieren kann, wenn diese Ordnung nicht erkennbar und vermittelbar ist. Das ist immer wieder das Entscheidende. Und wir werden in der politischen Ideengeschichte, auch in der Antike wird dieser Punkt immer wieder kommen: Wenn Aristoteles beschreibt, dass der wichtigste Bestandteil einer stabilen Herrschaft ist eine Bildung zur Verfassung hin, dass die Leute verstehen, wie diese Verfassung funktioniert, wie diese Ordnung funktioniert, ist das eigentlich nichts anderes als das, was Hesiod hier in der „Theogonie“ beschreibt, dass die Prinzipien der Ordnung, die Bedingungen der Ordnung und die Art und Weise, wie sich die Ordnung von Unordnung abgrenzt, dass das vermittelt werden kann und vermittelt werden muss

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Entscheidend ist, dass die Kommunikation gelingt. Eine Struktur, eine Ordnung kann erst dann allgemeine Anerkennung gewinnen, wenn ihre Funktionsweisen und Vorzüge gut und plausibel kommuniziert werden.

Christian Vogel:
Das ist der Punkt, der immer wieder betont wird. Die Musen müssen so vermitteln, dass das gerne gehört wird. Und das können die auch. Und das andere ist aber: Das, was vermittelt wird, das muss etwas Wahres sein und etwas Richtiges sein. Und das sind immer diese beiden Momente, und das ist natürlich der entscheidende Punkt auch für den Ausblick auf Überlegungen zu anderen politischen Systemen und zu heutigen politischen Systemen, dass verständlich gemacht werden muss, was denn eigentlich das Wesen unserer politischen Ordnung ist und vor allen Dingen, was das Gute daran ist. Wenn die Musen am Anfang sagen, es geht auch darum Zeus zu preisen, also nicht nur verständlich zu machen, sondern auch zu erklären, dass das das Gute und das Richtige, eine gute Ordnung ist. Dann tun die das. Und sie erklären die ganze Zeit, was das Gute an der Zeusherrschaft ist und worin die besteht, und zeigen auf der anderen Seite ja, wie eine andere Ordnung aussehen könnte. Wenn man sich das als Maßstab nehmen würde für politische Kommunikation, dann wär das sicherlich auch nicht verkehrt heutzutage.

Sophie Ruch (gel. von Friederike Kroitzsch):
Damit endet unsere Folge zur „Kopfgeburt der Athene“. Im Alten Museum auf der Berliner Museumsinsel können Sie die Amphore, auf der sie dargestellt ist, jederzeit besichtigen. Wir bedanken uns bei Christian Vogel, Gyburg Uhlmann und Nina Zimmermann-Elseify.
Ihnen vielen Dank fürs Zuhören. Bis zum nächsten Mal und bleiben Sie in Bewegung!

Das war „Die Kopfgeburt der Athene, oder: Wie die griechische Götterwelt entstand“ aus der Reihe „Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören“. Eine Produktion des Sonderforschungsbereichs „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität Berlin, federführend Kristiane Hasselmann, Jan Fusek, Armin Hempel und Katrin Wächter. Ein Podcast mit Christian Vogel. Außerdem mit Gyburg Uhlmann und Nina Zimmermann-Elseify. Altgriechische Textpassagen: Daniela Summa. Stimmen: Friederike Kroitzsch, Katharina Kwaschik und Matthias Dittmer. Diese Folge ist in Kooperation mit den Staatlichen Museen zu Berlin entstanden. Deutschlandfunk Kultur ist Medienpartner.
  



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Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung“
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