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Als Flüchtlingskind in Norddeutschland: Beschimpft und geschlagen

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Elend der Nachkriegszeit "Verdammter Flüchtling, du!"

Ausgehungert und zerlumpt kam Rolf Klodt mit seiner Mutter und vier Geschwistern 1945 nach Schleswig-Holstein. Lange galten die Flüchtlinge aus Ostpreußen als Eindringlinge, wurden beschimpft und geschlagen.

Im ostpreußischen Insterburg, September 1944: Wenn sie fliehe, werde er sie anzeigen, drohte Vater Karl-Heinz, ein überzeugter SA-Mann, seiner Frau. "Glaub du man an den Führer", erwiderte sie trocken - und geht. Vor der herannahenden Roten Armee rettete sich Käthe Therese Klodt mit ihren fünf Kindern, darunter Rolf Klodt (Jahrgang 1941), aus Ostpreußen über Pommern nach Norddeutschland.

Die Odyssee der Familie endete in Schleswig-Holstein. So wie die von vielen tausend Menschen aus den Ostgebieten: 1946 verzeichnete das Land einen Bevölkerungszuwachs von 67 Prozent. Niemand war dort vorbereitet auf die Menschenmassen - was Rolf Klodt schmerzhaft zu spüren bekam, wie er hier erzählt.

Kein Bauer in Nindorf will diese ausgehungerten, schäbig gekleideten und verlausten "Pollacken", wie sie uns nennen, freiwillig aufnehmen. Aus Respekt vor der Amtsautorität des Dorfgendarmen werden, wenn auch missmutig, schließlich doch Kammern, Böden und Ställe geräumt.

Viele Schimpfwörter haben wir auf der Flucht gehört. Nun kommt ein weiteres dazu: "Du Flüchtling", mit so viel hasserfüllter Verachtung ausgesprochen, dass es sich in unsere kindlichen Seelen einbrennt und ein freundliches Miteinander über Jahre verhindert. Immer wenn man etwas Abfälliges, etwas Verletzendes sagen will, heißt es "du Flüchtling".

Alexandra Frank / DER SPIEGEL

Eines Tages bekommen wir eine neue Bleibe und ziehen in die Dorfschule. Aus gesammelten Steinen baut mein älterer Bruder Manfred auf dem Schulhof eine kleine Kochstelle, aufmerksam beobachtet von neugierigen Einheimischen. Unvergesslich bleibt mir ihr schadenfrohes Gelächter, als der Kochtopf im Regen von den glitschigen Steinen abrutscht und das mühsam beschaffte Essen in den Dreck fließt. Wieder ein Tag ohne warme Mahlzeit.

Eine Unterkunft für eine Mutter und fünf Kinder zu finden, ist schwierig. Wir werden in ein Behelfsheim am Rande einer Weide eingewiesen. Jeder Familie stehen zwei Zimmer und ein Boden zur Verfügung. Die Wände sind nur aus Stein gemauert. Im Sommer wird es drinnen unerträglich heiß, im Winter eiskalt.

Auf dem Feldweg eine Kanone, auf der Weide ein Panzer

Ein Wasserhahn befindet sich zehn Meter entfernt an einem Feldweg. Alle Familien nutzen auf einem kleinen Hof ein einziges Toilettenhäuschen mit einem Herz in der Tür. Immerhin gehört zu jeder Wohnung ein kleiner Garten, das ist ein großer Reichtum.

Unsere unmittelbaren Nachbarn heißen Hoffmann und kommen ebenfalls aus Ostpreußen, aus Osterode. Eine grobschlächtige Familie mit schlechten Manieren, deren Mitglieder ausgiebig auf Polnisch fluchen. Später merken wir, dass sie Steine der Trennwand zu unserem Boden sauber gelockert haben. Alles, was in Reichweite ihrer Arme war, haben sie gestohlen.

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Als Flüchtlingskind in Norddeutschland: Beschimpft und geschlagen

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Überall liegen Waffen und Munition herum. In den letzten Kriegstagen haben sich viele Soldaten von ihren Truppenteilen abgesetzt und ihre Ausrüstung weggeworfen. Auf einem Feldweg steht eine Kanone, auf der Weide nebenan ein Panzer. Wir Kinder sitzen im Kreis, brechen die Spitzen aus den Gewehrpatronen, schütten das Pulver auf einen Haufen und erfreuen uns daran, wenn es laut zischend mit einer Stichflamme verbrennt.

Handgranaten als Spielzeug

Klaus, unser Nachbar zündet eine Handgranate, die er aber nicht weit genug werfen kann. Als er aufsteht, weil er nichts von der Verzögerungszeit weiß, wird er von einigen Splittern lebensgefährlich verletzt. Er blutet stark und schreit fürchterlich. Ältere Jungen, noch bei der Hitlerjugend in Erster Hilfe ausgebildet, retten ihm das Leben. Klaus bleibt lange im Krankenhaus in Rendsburg und kann erst nach einem Jahr wieder richtig gehen.

Der Schock hält aber nur kurz an, die Versuchung ist einfach zu groß. Schon bald sitzen wir wieder in unseren alten Verstecken. Doch irgendwann sind Waffen und Munition verschwunden. Wir schwören dem Verräter ewige Rache.

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Unterdessen wird der Hunger zu einem immer größeren Problem. Die Bauern sind nicht bereit, ihre gefüllten Speisekammern zu öffnen. Da wir nichts Wertvolles besitzen, das wir gegen Lebensmittel eintauschen könnten, müssen wir betteln und stehlen. Wer moralische Bedenken hat, kriegt nichts zu essen.

Der Hunger wird zur größten Geißel des verlorenen Krieges. Er macht die Menschen gefährlich und zwingt sie dazu, sich zu prostituieren.

"Die essen sogar Hundefutter"

Nachts hören wir unterdrücktes Quieken von Schweinen. Bauern schlachten "schwarz", ohne Sondergenehmigung der britischen Besatzungsmacht. Die Gewissheit, dass die Bauern sich bald über Würste und Schinken hermachen werden, macht uns verbittert und wütend.

Wir Ostpreußen verständigen uns untereinander und wissen, wo geschlachtet wird. Entsetzt beobachten die Bauern, wie wir den hastig verscharrten Pansen der heimlich geschlachteten Kühe ausgraben. Erst nach einer Weile begreifen sie, dass wir daraus das "Königsberger Fleck" zubereiten, ein ostpreußisches Nationalgericht.

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"Die essen sogar Hundefutter", sagen die Bauern kopfschüttelnd. Doch selbst damit können sie noch Geld verdienen. Bald können wir uns nicht mehr über kostenloses Essen freuen.

Keilereien mit den Bauernjungen

Die Bauernjungen fühlen sich stark genug, Flüchtlingskinder durch das Dorf zu jagen und zu verprügeln. Ab und zu gelingt es uns jedoch, sie in die Falle zu locken und gemeinsam auf sie einzudreschen. Einem dicken Bauernjungen werfe ich einen Stein an den Kopf. Laut brüllend stürmt er auf mich zu, seinen blutenden Schädel haltend. Mein Bruder Helmut fängt ihn ab, ich entgehe nur knapp einer Abreibung. Nachdem sich die Bauernjungen manche blutige Nase geholt haben, lassen sie uns endlich in Ruhe.

Zu Hause züchten wir Kaninchen und brauchen dringend Futter. Da die Wiesen streng bewacht werden, können wir es nur im Dunkeln riskieren, saftigen Klee zu sammeln. Hastig stopfen die älteren Geschwister einen Rucksack voll, während Helmut und ich "Schmiere stehen". Wir haben immer Angst, denn die Bauern scheuen nicht davor zurück, selbst einem kleinen Kind einen kräftigen Hieb mit dem Knüppel zu versetzen. "Verdammter Flüchtling, du", fluchen sie dabei.

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Dann kommt der Winter 1946/1947 mit sibirischen Temperaturen. Wir frieren gewaltig, denn der Schlafraum lässt sich nicht beheizen. Mutter legt uns heiße, in Papier eingewickelte Ziegelsteine in die Betten, und wir rücken alle näher zusammen. Mäntel und Strümpfe behalten wir an.

Petroleum gegen die Läuse

Gott sei Dank hat Helmut in seinem Fluchtgepäck den Nachttopf mitgenommen. Nicht auszudenken, wenn wir nachts nach draußen zum Klohäuschen gehen müssten. An unseren Fensterscheiben blühen jeden Morgen dicke Eisblumen.

Um Holz zu holen, laufen Helmut und ich (er neun und ich knapp sechs Jahre alt) abends in den Wald, ausgerüstet mit dem Untergestell eines alten Kinderwagens. Angsterfüllt laden wir dicke Äste auf unser Gefährt, während wir alles Mögliche im Dunkeln zu sehen und zu hören glauben.

Mehr dazu in SPIEGEL GESCHICHTE 1/2018

Helmut zieht den Wagen, ich schiebe von hinten, dann geht es mit klopfenden Herzen aus dem Wald heraus, in wilder Fahrt die ungefähr drei Kilometer nach Hause. Wie froh wir jedes Mal sind, wenn wir dort ankommen!

Unsere Läuse sind wir schon lange los. Mutter hat allen die Haare kurz geschoren und die Kopfhaut täglich mit Petroleum eingerieben. Wir riechen erbärmlich, und es beißt fürchterlich, aber eines Tages sind die Viecher besiegt. Da wir uns regelmäßig waschen können, ist auch die Krätze bald verschwunden.

Der Vater - ein Fremder auf Krücken

Lesen lerne ich in der Schule mit einer Fibel, die noch aus dem "Dritten Reich" stammt. Stück für Stück lösen sich die mit Mehlkleister und Papier verklebten Bilder, auf denen Hakenkreuzfähnchen schwingende Kinder zu sehen sind. Wir helfen natürlich nach. Unsere Lehrerin beginnt jeden Schultag mit dem Kanon: "Infanterie, Artillerie, rote Husaren, Schützenkompanie". Danach singen wir ein altes Soldatenlied aus dem Ersten Weltkrieg: "Wildgänse rauschen durch die Nacht".

1949 wird mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Aus dem Lager Friedland, wo alle Russlandheimkehrer entlaust und registriert werden, kommt er zu uns nach Nindorf, in einem dunklen, russischen Watteanzug. Ein Fremder auf Krücken, der mir ein rotes Spielzeugauto der Firma Schuco mitgebracht hat.

Ich bekomme Prügel von meinem Vater, als ich bei einem Verwandtenbesuch ungefragt dazwischenrede. Immer das Gejammer über die verlorene Heimat, den Verlust der schönen Möbel und die vielen Toten. Ich bin fast zehn Jahre alt und mache die Klagenden dafür verantwortlich. Die Empörung ist groß. Mein Vater, ehemaliger Oberscharführer der SA, erkennt keine Schuld an. Statt Antworten bekomme ich häufig Schläge, so entsteht beiderseitige Ablehnung.

Als der Vater, inzwischen alkoholabhängig, im Januar 1959 im Alter von knapp 51 Jahren stirbt, empfinde ich - nichts.