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Schießplatz Kummersdorf: Das Großlabor des Krieges

Foto: Michael Stürzer

Schießplatz Kummersdorf Deutschlands gefährlichstes Denkmal

Hier wurde die Kriegsführung zur Perfektion gebracht: Südlich von Berlin erprobten Militärs Kanonen, Raketen und Panzer, im Kaiserreich wie in der Nazidiktatur. Besuch in einer Sperrzone.

Das Gelände ist hochgefährlich. Der Grundstückseigentümer besteht auf die Begleitung durch eine Munitionsbergungsfirma. Wohin man treten darf, ist auf einem verwirrend detaillierten Lageplan markiert: rote Wege, grün schraffierte Flächen, die sind begehbar. Weiß ist die Risikozone.

Rot und grün leuchtet wenig auf dieser Karte. Fast alles ist weiß. Gewarnt wird vor Munitions- und Explosionsstoffen jeglicher Art, vor Chemikalien und einsturzgefährdeten unterirdischen Bauwerken.

Niemand sollte den märkischen Boden in diesem Wald rund 30 Kilometer südlich von Berlin betreten. Niemand, der nicht ausdrücklich dazu befugt ist. Das ist heute so. Das ist seit fast 150 Jahren so. Freilich aus unterschiedlichen Gründen.

Das Gebiet rund um Kummersdorf im Land Brandenburg ist ein nahezu geheimer Ort, ein riesiges, außergewöhnliches Terrain. Aus der Luft sieht man endlosen Kiefernbestand, über 2000 Hektar gelten offiziell als Denkmal. Es ist das wahrscheinlich gefährlichste und größte unbekannte Denkmal Europas.


Drohnenbilder aus der Sperrzone

Michael Stürzer


Dabei gäbe es über dieses Terrain so viel zu erzählen: Kummersdorf war über Jahrzehnte eines der wichtigsten Experimentierfelder für Waffentechnik, die wohl vielfältigste Militärforschungsstätte der Welt. Auf diesem Boden wurden zwei verheerende Weltkriege vorbereitet. Auf diesem Boden begann die Raketenforschung, die zur Raumfahrt führte und zum Wettrüsten. Hier startete das deutsche Atomprogramm und entstand die weltweit erste Anlage für genormte Geländefahrzeugtests. Von hier aus koordinierten sowjetische Streitkräfte ihre Versorgungsflüge an die Frontlinie des Kalten Krieges. Die DDR präsentierte auf diesem Gelände ihre Rüstungsgüter für den internationalen Waffenhandel. Und Ex-Staatschef Honecker verbrachte hier 1991 seine letzte Nacht, bevor er nach Moskau floh.

All dies geschah im Verborgenen. In der öffentlichen Wahrnehmung und in der aktuellen Forschung kommt das bis heute schwer zugängliche, fast vergessene Gelände kaum vor.

Gewaltige Klumpen aus Stahl und Beton

Der Flächenplan der Brandenburgischen Boden Gesellschaft zeigt zwei auffällige diagonale Streifen, acht und zwölf Kilometer lang - die ehemaligen Schießbahnen. Bei der Fahrt durchs Gelände sieht man vor lauter Bäumen: nichts davon. Ohnehin wären Besucher ohne kundige Begleitung schnell verloren im Wirrwarr der Wege und Hügel. Und würden nicht einmal bemerken, was sich da vor ihnen auftürmt, grau, grün, braun bemoost.

Denn unzählige Bauwerke tarnen sich in diesem Wald - gewaltige Klumpen aus Stahl und Beton, eingerahmt und überwuchert von der Natur. Relikte, die wirken wie Ruinen einer untergegangenen Kultur. Es sind Beschussziele, Bunker, Lüftungsschächte, auch Bauten, deren Funktion bis heute nicht ganz klar ist (siehe Fotostrecke).

Ins Visier preußischer Militärstrategen war das Terrain schon kurz nach Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 geraten. Die Artillerie-Prüfungskommission suchte ein neues Versuchsgelände als Ersatz für Berlin-Tegel - wegen der wachsenden Zerstörungskraft und Reichweite der Geschütze, aber auch zum Zwecke der Geheimhaltung.

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Heeresversuchsstelle Kummersdorf: Waffentechnik in Kummersdorf - "Gruß vom Schießplatz"

Foto: FMVK e.V.

Fortan erprobte man im Staatsforst bei Kummersdorf Waffen und Munition, Brücken- und Festungsbauten, Feldeisenbahnen und bombende Luftschiffe. Bis auch der neue Schießplatz seine Kapazitätsgrenzen erreichte: Ein Geschütz des Rüstungskonzerns Krupp ließ eine 1000 Kilogramm schwere Granate 15 Kilometer weit fliegen. Noch bevor diese Kanone, die "Dicke Bertha", ausgetestet war, begann der Erste Weltkrieg. Die Erprobung erfolgte gegen Belgien.

Das Kriegsende 1918 hätte auch das Ende des "Schießplatzes Kummersdorf" sein sollen: Der Friedensvertrag von Versailles verbot den Deutschen die Entwicklung neuer Waffen. Doch stattdessen wurde auf dem Gelände die Geheimhaltung verschärft. Auf dem Reißbrett entstanden Waffen, Fahrzeuge und Ausrüstungen - und ab Mitte der Zwanzigerjahren wurde in Kummersdorf wieder geschossen. Das Heereswaffenamt wachte jetzt über Artillerie, Nachrichtentechnik und Panzer, die zur Tarnung "Großtraktoren" hießen.

Von Braun: "Neid und Bewunderung zugleich"

Bis heute sind rund 4000 Bauwerke auf diesem Gelände entdeckt und kartografiert - aus der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der sowjetischen Besatzung. Außer mit Waffen war auch mit Baumaterialien und -konstruktionen experimentiert worden. Zu den bemerkenswertesten Hinterlassenschaften zählen die Triebwerksprüfstände aus der Anfangszeit der Raketenforschung - Fragmente, wie es sie nirgendwo sonst gibt.

1932 war der junge deutsche Raketenforscher Wernher von Braun erstmals nach Kummersdorf gekommen. Noch 30 Jahre später, als er längst ein anerkannter Ingenieur in den USA war, schwärmte er:

"Was wir auf dem einsamen Platz fanden, erregte unseren Neid und unsere Bewunderung zugleich. Wir fanden einen vollendeten Prüfstand für die Brennkammern von Flüssigkeitsraketen vor, mit Betonmauern umgeben und mit einem Schiebedach versehen. Wir staunten über den Beobachtungsraum und zeigten uns beeindruckt von dem Messraum, in dem sich ein Wirrwarr von allen möglichen Prüfleitungen, Registrierapparaten, Messgeräten u.s.w. befanden. Auf der Schießbahn, wo unsere Rakete erprobt werden sollte, standen neuartige Kino-Theodoliten zur Verfügung, die den gesamten Flug der Rakete auf den Film bannen und zugleich ihren Flugweg vermessen konnten. Wenn wir da an unseren Laden in Reinickendorf dachten, hätten wir eigentlich Minderwertigkeitskomplexe haben müssen."

Von Braun forschte hier für seine Geheimdissertation "Konstruktive, theoretische und experimentelle Beiträge zu dem Problem der Flüssigkeitsrakete" im Dienste des Heereswaffenamtes; 1937 wurde er Technischer Leiter der neu errichteten Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Seine Ergebnisse ermöglichten den Bau der "Vergeltungswaffe V2" der Nationalsozialisten.

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Kummersdorf: Heereshundeschule - "Der Meldehund befördert Brieftauben"

Foto: Das Bundesarchiv/ Georg Pahl

Das Museum in Peenemünde ist heute ein Touristenmagnet. Zu den Kummersdorfer Raketenprüfständen hingegen kommen nur gelegentlich Militaria-Sammler, wie frische Spuren im aufgewühlten Boden verraten. Wildschweine hätten die Fundmunition wohl nicht so sorgsam beiseitegelegt. Auf dem Schießplatz zu graben ist ebenso verboten wie lebensgefährlich.

Die frühere Kraftfahrtversuchsstelle der Wehrmacht in den Dünen nahe Horstwalde ist bis heute in Betrieb - allerdings nur für zivile Zwecke und nicht mehr für Kettenfahrzeuge. Das Testgelände entstand 1938 als Komplex von Steigungsbahnen, Geröll- und Verwindungsstrecken, Wasser- und Schlammbecken. Auch die Nationale Volksarmee und die Fahrzeugindustrie der DDR nutzten es. Heute pflegt ein Förderverein den Parcours und vermietet ihn an Fahrzeughersteller.

Ein Panzerkoloss, Tarnname "Maus"

Getestet worden war dort einst auch der mit 188 Tonnen schwerste je gebaute Panzer - Tarnname: "Maus". Die Montagehalle ragt bis heute als steinernes Skelett aus dem Wald. Doch in Serie ging der Koloss nie. Ihren einzigen Fronteinsatz absolvierten die beiden Prototypen gegen Ende des Krieges zur Schießplatz-Verteidigung - und versagten: Eine der nur langsam rollenden Festungen blieb mit Antriebsschaden liegen und wurde von der Roten Armee unzerstört erbeutet, die zweite gesprengt.

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Kraftfahrversuchsstelle: Elchtest, Waffenhandel und geheime Prototypen

Foto: Wolfgang Weber / www.fkvv.de

Was die russischen Truppen gebrauchen konnten, demontierten sie nach Kriegsende als Reparationen für ihre Heimat. Mehr noch interessierte sich die Besatzungsmacht für Personal und Unterlagen: Ab 1942 war der Sowjetführung bekannt, dass Physiker und Chemiker der Heeresversuchsstelle auch an einem Uranprojekt gearbeitet hatten.

Mit dem Krieg indes endete die Geheimniskrämerei in Kummersdorf nicht: Abermals wurde das Areal zur Sperrzone; in die Garnisonen zogen nun sowjetische Truppen. Nahe Wünsdorf, einst Sitz des Oberkommandos der Wehrmacht und dann der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, ließen sich die Besatzer von der DDR quer über die Schießbahnen einen Flugplatz bauen. 1994 erst zogen die letzten russischen Truppen ab.

Ein Jahr danach erschien erstmals ein Buch über die "Heeresversuchsstelle Kummersdorf". Der Autor hatte schon in den Achtzigerjahren recherchiert. "Wegen der Ausdehnung, Komplexität und Vielfalt des Versuchsgeländes waren befriedigende Antworten zu Aufbau, Aufgaben und Entwicklung der Heeresversuchsstelle Kummersdorf nicht zu erhalten", schrieb der ehemalige DDR-Militärhistoriker im Vorwort. Die Erforschung sei bei der DDR-Führung unerwünscht gewesen; vor allem die heimliche Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee zur Zeit der Weimarer Republik habe nicht ins offizielle Geschichtsbild gepasst.


NVA-internes Video einer Waffenausstellung

SPIEGEL ONLINE


Nach dem Mauerfall 1989 wollten auch die Bewohner von Kummersdorf endlich erfahren, was sich über all die Jahrzehnte in der benachbarten Sperrzone abgespielt hatte. Ein Förderverein eröffnete eine "Ständige Ausstellung" und führte nach dem Abzug der Russen busladungsweise Interessierte aus dem In- und Ausland übers Gelände.

Monstrum im märkischen Sand

Damit war Schluss, als das Land Brandenburg das Areal vom Bund übernahm und öffentliche Führungen wegen der Munitionsbelastung weitgehend untersagte. So könnte es noch für längere Zeit bleiben. Denn jahrelang war das Gelände als Alternativstandort für den Großflughafen Berlin-Brandenburg reserviert - und ist nun erneut als Ersatzstandort im Gespräch, weil sich die Eröffnung verzögert und der Pannenflughafen bereits als dauerhaft zu klein eingeschätzt wird.

Irgendwann aber zerfallen die Ruinen ganz oder werden von der Natur verschluckt. Daher entwickelte eine Gruppe von Historikern, Denkmal- und Naturschützern schon vor gut fünf Jahren die Idee eines "Museum in der Natur". Sie wollen den historischen Boden begeh- und begreifbar machen. Doch sie bekommen wenig Unterstützung. Liegt es an der Monstrosität des Ortes? Einer Stätte, an der über Jahrzehnte und Regime hinweg Forscher, Industrielle, Politiker und Militärs zusammenfanden, um das Töten zu perfektionieren?

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Philipp Aumann

Rüstung auf dem Prüfstand: Kummersdorf, Peenemünde und die totale Mobilmachung

Verlag: Ch. Links Verlag
Seitenzahl: 128
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09.05.2024 08.18 Uhr

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Es scheint, als fürchte man sich in Brandenburg davor. Hinter vorgehaltener Hand hätten Politiker Bedenken gegen ein Museum geäußert, sagen Vereinsmitglieder. Eine solche Stätte könnte, gerade in Ostdeutschland, zum Anziehungspunkt rechter Gesinnung werden.

Doch die Menschen, die seit 1990 die Kummersdorfer Geschichte erforschen, teilen diese Einschätzung nicht. Nichts sei gegen Verklärung wirksamer als Information, Transparenz und Aufklärung, sagen sie aus eigener Erfahrung. Ein Ort, an dem sich ganze Epochen von Militärgeschichte zusammenballen, hätte viel zu erzählen über die deutsche Geschichte.

Mehr Informationen:

Förderverein Historisch-Technisches Museum - Versuchsstelle Kummersdorf e.V. (FMVK), www.museum-kummersdorf.de 

Förderverein der Verkehrs-Versuchsanlage Horstwalde e.V. (FKVV), www.fkvv.de 

Zum Weiterlesen:

Günter Nagel: Wissenschaft für den Krieg. Die geheimen Arbeiten der Abteilung Forschung des Heereswaffenamtes, Stuttgart 2012.

Wolfgang Fleischer: Heeresversuchsstelle Kummersdorf, Bd. 1: Maus, Tiger, Panther, Luchs, Raketen und andere Waffen der Wehrmacht bei der Erprobung, Wölfersheim-Berstadt 1995; Bd. 2: Augenzeugenberichte, Fotografien, Akten, Wölfersheim-Berstadt 1999.

Markus Pöhlmann, Christian Bauermeister, Evelyn Sommerer: Die Heeresversuchsstelle Kummersdorf. Schießplatz - Geheimer Ort - Denkmal. FMVK e.V./ Museumsverband des Landes Brandenburg e.V. 2014.