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DDR-Sicherheitsorgane: Jugendliche Aufmüpfigkeit

Foto: Marko Schubert

Jugend in der DDR Angst trifft Uniform

Freunde sind manchmal unberechenbar. Wegen ihrer Aufmüpfigkeit machte Marko Schubert als Jugendlicher Bekanntschaft mit den DDR-Sicherheitsorganen. Zweimal klickten sogar die Handschellen. Jahre später hatte er die skurrilen Vorfälle fast vergessen - bis zu einem unerwarteten Wiedersehen.

In meinen ersten Schuljahren liebte ich die ersten Stunden nach den Sommerferien. Die alten Lehrer fragten, was wir in unserem Urlaub erlebt hätten, und die neuen interessierten sich für die Berufe unserer Eltern. Voller Stolz konnte ich immer erzählen, dass mein Vater Trainer im Radsport und meine Mutter Sekretärin im Außenhandel war. Dass fast 30 Prozent meiner Mitschüler einfach nur antworteten: "Mein Papa arbeitet bei MfS", verstand ich nicht, auch nicht nachdem die Lehrerin es in ein "beim MfS" verbessert hatte. Scheinbar wussten die Kinder selber nicht, was ihre Eltern dort so trieben und vor allem, was dieses MfS eigentlich war. Die erste Stunde verging trotzdem wie im Flug.

Ich ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass wir zu den privilegierten Berliner Familien gehörten, die in den ersten zehnstöckigen Neubaublöcken mit fließend warmem Wasser, Zentralheizung und Badewanne wohnten.

Ich hatte noch keine Erklärung dafür, warum sich die Hälfte meiner Mitschüler in den Pausen über Defa-Indianerfilme und "Ein Kessel Buntes" aus dem DDR-Fernsehen unterhielten statt wie wir über "Ein Colt für alle Fälle" und "Wetten, dass ...?". Für mich gab es keine andere Welt da draußen, keine alten Häuser mit drei Hinterhöfen und Ofenheizung, keine verqualmten Eckkneipen, keine Klassenkameraden, die als "schwer erziehbar" galten oder deren Eltern kein Auto besaßen. Sie hatten uns eine eigene Welt geschaffen - eine heile. Dann traf ich Sarah.

"Schnauze, Drecksbulle!"

Als ich meine erste Freundin kennenlernte, wusste ich natürlich längst, dass dieses ominöse "MfS" das Ministerium für Staatssicherheit war. Auch ahnte ich, dass einige Jungs aus meiner Nachbarschaft wirklich nicht wussten, was ihre Eltern so trieben - über die Stasi wurde auch zu Hause nichts erzählt. Westfernsehen war dort sowieso verboten.

Sarah begegnete mir mit 16 Jahren im sogenannten Lager für Arbeit und Erholung. In den drei Wochen arbeiteten wir am Vormittag, während die Nachmittage an ein Ferienlager aus unserer Kinderzeit erinnerten. In dem Zeltlager mitten im Wald gab es keine Regeln und Gesetze. Mir gefiel das. Sarah war anders als alle, die ich bisher getroffen hatte. Sie war rebellisch, aufmüpfig, unberechenbar - sie lebte in keiner heilen Welt und mit keinen MfS-Eltern. Genau genommen hatte Sarah überhaupt keine Eltern. Ich, das Kind aus dem "Regierungsviertel", suchte mir ein Mädchen, das in einem Kinderheim wohnte.

Nach der Lagerromanze trafen wir uns häufig auf halbem Weg zwischen unseren jeweiligen "Heimen" - in meinem Fall die Wohnung im neunten Stock an der Mollstraße, in ihrem das Kinderheim "Fritz Plön" in Treptow. Die Eckkneipe an der Stralauer Allee war unser Treffpunkt. Sie kannte dort alle Typen, und widerwärtig besoffene Kerle spendierten uns Cola mit Korn. An einem dieser Abende ging ich mit Sarah über die vierspurige Straße - wie gewohnt nicht an der Ampel, sondern unmittelbar vor der Kneipentür. Sie bevorzugte direkte Wege - auf ihrem Nachhauseweg wie im Leben.

Zwei Volkspolizisten stoppten uns. Wahrscheinlich hätte eine Entschuldigung vollkommen ausgereicht, doch Sarah brüllte die beiden sofort an: "Ihr könnt mich mal am Arsch lecken, ihr Scheißbullen!" - "Was haben Sie gesagt?" Ich zog sie am Ärmel, doch sie schrie schon: "Schnauze, Drecksbulle!"

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Plötzlich ging alles ganz schnell. Wir standen breitbeinig an der Wand - dahinter lagen die Spree und die Mauer nach West-Berlin, Handschellen rasselten, und innerhalb von fünf Minuten saßen wir im Einsatzwagen. Mit auf den Rücken verdrehten Armen wurden wir in verschiedene Einzelzellen gebracht. In den Gängen hallte das Brüllen anderer Gefangener, ich konnte aber nicht sagen, wo es eigentlich genau herkam. Langsam bekam ich ein wenig Angst.

Beim Verhör gab ich mich brav. Unterwürfig und weinerlich entschuldigte ich mich für unser unentschuldbares Fehlverhalten. Ich musste die Adresse meiner Eltern angeben und nach einer Stunde stand ich wieder in meiner Friedrichshainer Freiheit. Am nächsten Tag rief ich bei Sarah im Heim an und fragte sie, wie es ihr denn ergangen wäre. Sie sagte nur: "Ach, das ist eine lange Geschichte."

Die Freunde des MfS

Jahre später - im Herbst 1989 hatte sich einiges geändert. Tausende Menschen verließen unser Land über Polen und Ungarn, und Sarah war Schnee von gestern. In diesen Tagen hatte fast jeder mit sich selbst zu tun, und so war es auch recht einfach, als ich zusammen mit Otmar, Bernd und Matze für eine Woche die Schule schwänzte. Wir fuhren nach Frankfurt an der Oder ins Jugendhotel.

Gleich am zweiten Tag entdeckten wir nicht weit vom Hotel entfernt einen Rummel. Doch leider landeten nur Otmar und Bernd bei den Mädels und schwirrten bald mit zwei Dorfschönheiten in Richtung Hotel ab - Matze und mich mit den eingeborenen Kampftrinkern zurücklassend. Der Abend zog sich in die Länge und nachdem Matze und ich um 3 Uhr eine Privatparty verlassen hatten, schwankten wir durch die tiefschwarze Nacht. Obwohl unser turmhohes Haus in Frankfurt eigentlich kaum zu verfehlen war, hatten wir uns bald verlaufen.

Mit einem letzten Bier in der Hand standen wir plötzlich an der friedlich dahinfließenden Oder. Wir setzten uns auf den Boden und genossen die Stille. In solchen Momenten fingen wir in dieser Zeit an zu reden - über die Flüchtlingsströme, über die sich verändernde DDR und über uns. Was aus unserem Leben hier eigentlich einmal werden würde. Mich machten diese Gespräche ruhiger, ich genoss es, mit anderen über diese Dinge zu sprechen. Matze reagierte anders - er steigerte sich in eine grenzenlose Wut über seine verschenkte und vergeudete Jugend und ein Leben ohne Perspektive hinein. Plötzlich sprang er auf und warf seine Bierpulle mit voller Kraft an die gegenüberliegende Hauswand.

Es dauerte keine Minute, bis zwei Fahrzeuge in Höchstgeschwindigkeit angerast kamen. Die Scheinwerfer blendeten mich so, dass ich nicht sah, wie die zwei Gestalten auf mich zu rannten, die mich kurz darauf auf den Boden drückten. Ich sah Matzes Gesicht auf dem Kopfsteinpflaster neben mir liegen - auch auf ihm knieten zwei Leute. Ohne auch nur ein Wort zu sprechen, fesselten sie uns mit Handschellen, zerrten uns zu einem der Autos, schmissen uns auf die Rückbank und fuhren mit Höllentempo durch die plötzlich eisige Frankfurter Nacht.

Die Kälte spürte ich besonders an meinem Rücken und am Hintern - die Rückbank des Ladas war vollkommen nass. Aber es roch nicht nach Urin, es war so, als hätte hier vor uns jemand mit klitschnassen Sachen gesessen. Wir schauten uns schweigend an und schienen beide gleichzeitig zu verstehen. Die Freunde des MfS - die Stasi - hatten uns verhaftet: Sie dachten, wir wollten über die Oder nach Polen schwimmen. In ihren Augen waren wir zweifelsfrei Republikflüchtige.

Noch immer hatte niemand ein Wort mit uns geredet. Das sollte sich ändern. Doch diesmal reichte es nicht einfach aus, dass ich mich entschuldigte und meine Personalien angab. Einzeln wurden wir zu mehreren Verhören gebracht und befragt - einmal ganz ruhig und verständnisvoll, das nächste Mal wild aufbrausend und bedrohlich. Und immer strahlte mir eine grelle Lampe in die Augen, so dass ich eigentlich nur die Umrisse der Personen erkennen konnte, die mich verhörten.

Langsam bekam ich etwas mehr als ein wenig Angst! Sie stießen mich durch einen Gang, in dem Hektik herrschte und brachten mich in einen modrig riechenden Keller. In einer kleinen, schäbigen und vor allem hundekalten Zelle ohne Fenster wartete ich ganz allein und verängstigt auf meine Verurteilung wegen angeblicher Flucht aus der DDR.

Aus irgendeinem Grund ließen sie uns beide aber um 7 Uhr morgens wieder laufen. Matze fragte am Ausgang einen Volkspolizisten aus Jux, wo man hier ein "Neues Deutschland" kaufen könnte, doch ich zog ihn genervt am Ärmel weiter zu unserem Hotel. Bernd und Otmar wurden kurz wach, als wir ins Zimmer schlichen und fragten: "Wo kommt denn ihr jetzt her?" Wir grinsten uns an und sagten: "Ach, das ist eine lange Geschichte." Aber sie war noch nicht zu Ende.

"Die übernehme ich!"

Im Sommer 2002 wollten wir zum Force Attack Festival, einem mehrtägigen Punk Rock Open Air in die Nähe von Rostock fahren. Kurz vor dem Konzertgelände wurden wir von einer Polizeieinheit gestoppt. Ich versuchte locker zu bleiben, aber als ich sah, wie sie unser Nachbarauto auseinandernahmen und sogar Schäferhunde darin schnüffelten, befiel mich ein ungutes Gefühl. Sie suchten nach Drogen und waren dabei nicht gerade zimperlich.

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Scheppert, Mark, Toussaint, Liona

Mauergewinner. 30 DDR-Sättigungsbeilagen

Verlag: Books On Demand
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Ein Typ vom Bundesgrenzschutz kam zu unserem Auto, doch eine Kollegin mit Hund rief ihm hinterher: "Die übernehme ich!" Um Unauffälligkeit bemüht, stiegen wir aus meinem Wagen und stellten uns daneben. Die junge Frau machte ihren Köter an einem Außenspiegel fest, kroch ins Auto und untersuchte den Innenraum. Als sie wieder herauskam und sich aufrichtete, schaute die Dame direkt in mein Gesicht. Ich brauchte fünf Sekunden, um sie zu erkennen und konnte es dennoch nicht glauben: Die militärisch gekleidete Frau kannte ich aus meiner Jugend - es war tatsächlich die gleiche Sarah, für die noch vor 16 Jahren alle Menschen in Uniform einfach nur "Scheiß-" oder "Drecksbullen" gewesen waren.

Wir sagten kein Wort, doch ich spürte, dass auch sie mich erkannte. Ihr Hund begann ganz aufgeregt an der Leine zu ziehen und bellte in Richtung meines Kofferraums. Auch wenn es nur zu erahnen war, sah ich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen. Sie drehte sich um und brüllte zu ihren BGS-Kollegen: "Die hier sind sauber!"

Ich startete das Auto. Jenna, der die seltsame Szene hautnah miterlebt hatte, drehte sich zu mir herüber und fragte erstaunt: "Was war das denn, kanntest du die etwa?" Ich schaute in den Spiegel, Sarah verfolgte unsere Abfahrt, und ich sagte: "Ach, dass ist eine lange Geschichte."

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