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Fotostrecke

Ein Hafenidyll, kurz vor dem Untergang: Ist das die »Titanic« – oder doch die »Olympic«?

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Sammlung Günter Bäbler

Luxusliner »Titanic« Die letzten Fotos vor der Jungfernfahrt

Die meisten Bilder, die wir von der »Titanic« kennen, zeigen das baugleiche Schwesterschiff »Olympic«. Einige der wenigen Originalaufnahmen schoss ein Berliner Fotograf – vier Tage vor dem Untergang.
Von Jens Ostrowski

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Die Sonne schien am 10. April 1912 über dem Hafen von Southampton, bei 10 Grad wehte eine kühle Nordwestbrise. Gute Bedingungen für die Jungfernfahrt der nagelneuen »Titanic«, die seit sechs Tagen im White Star Dock lag und mittags um zwölf Uhr zu ihrer ersten Atlantiküberquerung nach New York aufbrechen sollte.

Am Pier näherte sich eine Gruppe Journalisten dem Schiff. Erich Benninghoven, 39, hatte schon an weit aufregenderen Schauplätzen fotografiert. Erst wenige Monaten zuvor war er aus Tripolis zurückgekehrt. Dort hatte er schwere Kämpfe zwischen türkischen und italienischen Truppen fotografiert und auch Exekutionen auf Glasplatte gebannt.

Prunkvoll: Die Haupttreppe des Luxusliners »Titanic«, 1912

Prunkvoll: Die Haupttreppe des Luxusliners »Titanic«, 1912

Foto: Roger Viollet / Getty Images

Nun also die neue »Titanic«, größtes Schiff der Welt. Bei der Vorstellung ihrer baugleichen Schwester, der »Olympic«, im Juni 1911 war das Interesse der Weltpresse bedeutend größer. Und auch wenn die »Titanic« mit 46.328 Bruttoregistertonnen etwas mehr Tonnage hatte, blieb sie doch nur eine Kopie der umjubelten »Olympic«.

Heute gibt es nur wenige Bilder der »Titanic«. Die meisten Fotos, die wir vom verunglückten Luxusliner kennen, zeigen in Wahrheit das Schwesterschiff »Olympic«. Das liegt an der kurzen Lebensdauer der »Titanic«, aber auch am mäßigen Interesse vor ihrem Untergang. »Sie war lediglich die leicht verbesserte Version des erstgebauten Schiffs«, betont »Titanic«-Historiker Günter Bäbler.

Bilder wenige Tage vor der Katastrophe

Zum Schiffstyp gehörten drei Dampfer: »Olympic«, »Titanic« und die später gebaute »Britannic«. Wie die »Olympic« entstand, ließ die Werft Harland & Wolff im nordirischen Belfast von Fotografen detailliert dokumentieren. Beim »Titanic«-Bau wurden lediglich Besonderheiten festgehalten, die sich davon unterschieden.

Umso wertvoller sind für Historiker die Fotos kurz vor der Jungfernfahrt. An Deck sind die Silhouetten von Menschen zu sehen, die sich auf eine bequeme Schiffsreise freuten, viele auf ein neues Leben in Amerika. Fünf Tage später waren die meisten tot – ertrunken, erfroren oder von Wrackteilen erschlagen.

Das neue Buch »Die Titanic war ihr Schicksal« erzählt ausführlich die Geschichten der 22 deutschen Passagiere und Besatzungsmitglieder – und fördert zutage, dass einen Teil der Aufnahmen Erich Benninghoven fotografierte. Zuordnen ließen sie sich bislang nur den Agenturen, die sie damals vertrieben, nicht aber den Fotografen. »Dass ausgerechnet ein deutscher Fotograf zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs einige der wichtigsten Fotos geschossen hat, ist eine kleine Sensation für die ›Titanic‹-Forschung«, sagt Günter Bäbler.

Er beschreibt Benninghoven als Pressefotografen mit »besten Kontakten zu den großen Zeitungsredaktionen im Deutschen Reich«. Viele seiner Bilder erschienen in der »Berliner Illustrirten Zeitung«, ebenso in der Wochenzeitung »Die Welt«. Akkreditiert war er auf der »Titanic« über die Londoner Fotoagentur Illustrations Bureau.

Der Fotograf kam weit herum

Benninghoven war Rheinländer, geboren am 24. Februar 1873 in Gruiten nahe Mettmann. Noch heute trägt ein Ort im Kreis Mettmann den Familiennamen. Statt in die Fußstapfen seiner alteingesessenen Bauernfamilie zu treten, ging Erich Benninghoven in die Reichshauptstadt. Das Berliner Adressbuch von 1911 weist ihn wohnhaft in Steglitz als Illustrator und Fotograf aus.

Ein Blick in die Reste des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Ullstein-Archivs zeigt, dass er um die Jahrhundertwende auf der ganzen Welt als freier Fotograf arbeitete. Er lichtete Adelige ab, die preußische Kronprinzessin Cecilie oder Ernst August von Hannover, den letzten Herzog von Braunschweig; er fotografierte sogar die Krönungsfeier der Königin von Siam, dem heutigen Thailand.

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Ein Hafenidyll, kurz vor dem Untergang: Ist das die »Titanic« – oder doch die »Olympic«?

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Sammlung Günter Bäbler

Benninghoven kam herum – zu einer Zeit, als Reisen mit Zügen und Schiffen oftmals langwierig waren. Seine Bilder von den Kriegsfronten werden bis heute abgedruckt. Mit anderen Fotografen brachte er die Grauen von Ost- und Westfront des Ersten Weltkriegs in die heimischen Stuben des Deutschen Reichs.

»Die Motive unterstanden strengen propagandistischen Regeln«, sagt Fotohistoriker Anton Holzer. »Tote deutsche Soldaten durften nicht abgebildet werden, die des Gegners schon. Kampfszenen wurden häufig hinter der Front nachgestellt. Erkennungszeichen an Flugzeugen, besondere Waffen und Details von Festungsanlagen waren für die Fotografen tabu.« In Berlin wurden die Bilder akribisch zensiert, bevor sie in Zeitungen oder auf Postkarten erscheinen durften.

Ein Vermögen für die Luxussuite

Zu dieser Zeit lag die »Titanic« längst auf dem Meeresgrund. Am 10. April 1912 aber stand ihre Jungfernfahrt an. Ein Manager der White Star Line führte die Journalisten-Gruppe um Benninghoven an Bord. Die Fotografen schleppten schwere Kameras auf Stativen, bis zu 20 Kilogramm Ausrüstung. 13x18 Zentimeter große Glasplatten dienten zur Belichtung.

Die Reederei wollte die Besonderheiten des Schiffs präsentieren, das sich von der »Olympic« in mehreren Bereichen unterschied. Vorgeführt wurden etwa die beiden Suiten mit eigener Privatpromenade, die teuersten Kabinen. In der Sommersaison verlangte die Reederei 870 Pfund pro Überfahrt – damals ein Vermögen. Für die Jungfernfahrt eingebucht waren in den Suiten die US-Millionärin Charlotte Cardeza mit ihrem Sohn Drake sowie Bruce Ismay, Direktor der White Star Line.

Die Journalisten sahen auch Gesellschaftsräume wie das Café Parisien: Es grenzte steuerbord direkt an das À-la-carte-Restaurant. Nach den ersten »Olympic«-Reisen hatte die Reederei die Baupläne der »Titanic« geändert und ein weiteres überdachtes Promenadendeck für überflüssig erachtet. »Stattdessen erhielt das Schiff einige zusätzliche Kabinen und eben das mit Pflanzen berankte Café, inspiriert von einem Pariser Original«, so Historiker Bäbler.

Ein Fitnessstudio auf dem Bootsdeck

Die Tour führte die Besucher auf dem Bootsdeck ebenso in den Gymnastikraum, ausgestattet mit den modernsten Sportgeräten der Firma Rossel, Schwarz & Co. aus Wiesbaden – darunter Punching Ball, Rudergerät und ein Reitapparat, auf dem Benninghoven eine unbekannte junge Frau in Szene setzte.

Der Berliner fotografierte auch »Titanic«-Kapitän Edward John Smith auf dem Bootsdeck. Dieses wohl letzte Porträt zeigt ihn in schwarzer Uniform vor den Fenstern der Offizierskabinen nahe der Kommandobrücke. Smith stand kurz vor dem Ruhestand und gehörte zu den erfahrensten Kapitänen seiner Reederei, die ihm seit Jahren die Flaggschiffe anvertraute. Den Untergang der »Titanic« konnten auch seine 40 Jahre Erfahrung auf See nicht verhindern.

Mit einem Schwung an Motiven verließ Erich Benninghoven das Schiff, um mit seiner Kamera in der Hafeneinfahrt darauf zu warten, dass sich die »Titanic« mittags in Bewegung setzte. Dazu postierten sich die Fotografen an Deck der am Kai liegenden »Beacon Grange«.

Der Fotograf auf einem Foto

Hier entstand ein Bild, das Günter Bäbler elektrisiert – und auch Daniel Klistorner. Der australische »Titanic«-Forscher hat sich intensiv mit den Fotografen am 10. April 1912 beschäftigt. Im Vordergrund ist Erich Benninghoven bei der Arbeit während des Auslaufens der »Titanic« aus Southampton zu sehen – zufällig oder auch ganz bewusst aufgenommen von einem zweiten Fotografen. »Da wir die an diesem Tag entstandenen Fotos den Agenturen zuordnen können«, ist Bäbler nahezu sicher: »Der Fotograf mit dem Bowlerhut ist Erich Benninghoven.« Trotz aufwendiger Suche konnten die Forscher bisher kein anderes Bild des Fotografen auftreiben.

Viereinhalb Tage nach diesen Aufnahmen geschah das Unfassbare: In der Nacht zum 15. April kollidierte der Ozeanriese mit einem Eisberg, der Rumpf brach unter der massiven Belastung des einströmenden Wassers auseinander und sank auf den Grund des Nordatlantiks. 1496 Menschen starben im eisigen Meer – auch weil es zu wenig Rettungsboote gab. Nur 712 Menschen überlebten.

Damit waren Benninghovens Motive aus Southampton plötzlich von neuer Wichtigkeit und gingen um die Welt: Sie zeigten fortan das wohl berühmteste Unglücksschiff aller Zeiten, nicht mehr nur eine Kopie der »Olympic«.

Ab den Zwanzigerjahren wurde es allmählich still um den Fotografen. Wann Erich Benninghoven starb, ist nicht bekannt. Seine Bilder aber leben weiter. Bis zum heutigen Tage.