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Tuberkulose: Die Seuche ist immer noch unter uns

Foto: Corbis

Tuberkulose "Niemand von denen hat jemals einen Patienten behandelt"

Tuberkulose droht, als Seuche zurückzukehren - auch nach Deutschland. In Südafrika forschen Ärzte nach neuen Antibiotika. Eine von ihnen erzählt, warum sie Medikamente stahl, von ihrer Arbeit in überfüllten Kliniken und ihrem größten Problem: Anwälte.
ZUR PERSON
Foto: Eric Miller/ DER SPIEGEL

Zoja Novelijc, Jahrgang 1963, hat Medizin in Zagreb studiert. Heute arbeitet sie als Ärztin in Kapstadt, Südafrika. Für die Organisation Task Applied Science forscht sie dort nach neuen Antibiotika gegen Tuberkulose.

SPIEGEL ONLINE: Frau Noveljic, Sie kamen 1992 als Ärztin aus Zagreb nach Kapstadt. Zu der Zeit hatten Ärzte gedacht, Tuberkulose sei so gut wie besiegt. Dann brach die Aids-Epidemie aus.

Novelijc: Ich habe damals in einem Labor gearbeitet und stellte im Grunde Todesurteile aus. Immer dann, wenn ich wieder in die Krankenakte eintragen musste: HIV positiv. Manchmal ging ich in die Krankenstation, um die armen Seelen hinter diesen Diagnosen zu sehen. Es waren meistens schwarze Männer und Frauen, um die sich niemand mehr kümmerte.

SPIEGEL ONLINE: Was geschah dann?

Novelijc: Die ersten HIV-Medikamente kamen auf den Markt und bewirkten Wunder. Wir hatten zum ersten Mal so etwas wie eine Chance gegen das Virus. Doch unsere Patienten starben an Tuberkulose (Tb). Der Erreger hatte sich in den geschwächten Körpern eingenistet, aber wir konnten ihn nicht finden. Wir nutzten Tests, die vor 150 Jahren erprobt worden waren: Leute mussten husten, jemand mikroskopierte ihren Auswurf. HIV Patienten produzieren nur wenig Auswurf oder solchen mit wenig Tb-Bakterien darin. Wir hatten also HIV-Patienten, die an Tb starben, aber unsere Tests fielen negativ aus. Und ohne Diagnose gab es keine Medikamente. Es war Wahnsinn.

SPIEGEL ONLINE: Was taten Sie?

Novelijc: Wir zweigten Pillen für sie ab. Wir gingen in die Hospize, wo man sie zum Sterben hingeschickt hatte, und hoben sie buchstäblich vom Boden auf. Fünf Jahre sah ich zu, wie Menschen husteten, schwitzten und auch starben. Dabei ist Tb so einfach heilbar: eine Kombination aus vier verschiedenen Antibiotika über sechs Monate geschluckt.

SPIEGEL ONLINE: Heute kann ein neuer DNA-Test den Erreger schneller und präziser aufspüren. Weltweit sinken die Tb-Zahlen. Dennoch warnt die WHO eindringlich vor Tb. Immer mehr Stämme werden gegen die gängigen Medikamente resistent.

Novelijc: Was fehlt, sind neue Antibiotika. Es wird endlich wieder danach geforscht, aber es geht nur langsam voran. Ich beschloss damals, mich nur noch um Tb zu kümmern. So kam ich zu Task, eine Organisation, die in Südafrika Medikamententests für Tb durchführt. Momentan prüfen wir ein Mittel namens "SQ 109" in Phase zwei. 300 Patienten an sieben verschiedenen Orten auf der Welt nehmen die Arznei zusammen mit vier anderen Antibiotika in jeweils verschiedenen Dosen und Kombinationen. Manche bekommen etwa die dreifache Dosis Rifampicin.

SPIEGEL ONLINE: Das wird jetzt vielleicht zu kompliziert...

Novelijc: Ha, stellen Sie sich vor, wie verwirrend das für meine Patienten ist! Die meisten haben gerade mal die vierte oder fünfte Klasse abgeschlossen. Das sind Leute, die kaum lesen und schreiben können. Ich muss sie diese Einwilligungserklärung unterschreiben lassen. Das sind 17 Seiten, geschrieben für jemanden, der auf der Universität war oder zumindest die Highschool besucht hat.

SPIEGEL ONLINE: Wie können Sie dann wissen, ob ein Patient verstanden hat, was er da unterschreibt?

Novelijc: Oh, ganz einfach: gar nicht. Einer aus hundert versteht es vielleicht. Die einzige Frage, die sie mir stellen, lautet: "Wie viel Blut nimmst du mir ab?" Ich sage dann: "Weißt du wie viel Blut in deinem Körper ist? Sieben Liter. Das ist ein Eimer. Wir nehmen drei Teelöffel." Dann entspannen sie sich.

SPIEGEL ONLINE: Wer schreibt diese Verträge?

Novelijc: Anwälte in Europa oder in den USA. Niemand von denen hat jemals einen Patienten behandelt. Sie sagen, dass sie den Anforderungen des Ethikkomitees in Südafrika folgen. Aber wie kann etwas jemanden beschützen, das er nicht liest?

SPIEGEL ONLINE: Was wäre besser?

Novelijc: Kurze Sätze. Einfache Sprache: "Du hast Tuberkulose. Tb wird von Bakterien verursacht, die über Husten übertragen werden." Würde ich sagen: "Wenn du es nicht lesen kannst, kannst du nicht an der Studie teilnehmen", hätte ich keine Patienten.

SPIEGEL ONLINE: Aber jeder unterschreibt.

Novelijc: Die meisten. Das Datum bereitet die größten Probleme. Ich schreibe es auf ein Blatt Papier, und sie malen es ab. Dann kommen die Anwälte: "Das ist nur Gekritzel, er hat nicht unterschrieben." Ich sage denen, der Patient hat es eh nicht gelesen, nur unterzeichnet. Diese Dokumente nützen nicht dem Patienten, sondern nur uns selbst.

SPIEGEL ONLINE: Warum nehmen die Leute überhaupt an Ihrer Studie teil?

Novelijc: Gehen Sie in eine der Kliniken, und schauen Sie sich das Chaos an. Es ist laut, überfüllt, Patienten warten dort stundenlang. Du bittest eine Krankenschwester, sie raunzt dich an. Bei einer Studie bekommen sie das Gefühl, dass sie zählen.

SPIEGEL ONLINE: Und Geld...

Novelijc: Ich wäre verrückt zu sagen, dass es nicht auch um die elf Euro Aufwandsentschädigung pro Woche geht. Aber es sind auch die kleinen Dinge wie Vertrauen. Und ich nehme mir Zeit. Manchmal anderthalb Stunden beim ersten Gespräch. Das Wichtigste für mich ist, dass sie verstehen, dass die Behandlung experimentell ist. Wir wissen, das Mittel funktioniert, wir wissen nur nicht, wie gut.

SPIEGEL ONLINE: Sie wissen aber, dass Ihre Patienten nicht genau verstehen, was vor sich geht, dennoch geben Sie ihnen Medikamente.

Novelijc: Ich mache diese Arbeit nun seit 15 Jahren und zahle einen Preis dafür. Es zehrt mich innerlich aus. Statt Vollzeit arbeite ich nur noch fünf Stunden am Tag. Ich bin nun 50 Jahre alt, und ich liebe meinen Job, aber etwas muss sich ändern.

SPIEGEL ONLINE: Sie lieben Ihren Job?

Novelijc: Ich möchte meine Karriere beenden und sehen, dass es im Kampf gegen Tb voran geht. Und ja, ich liebe diese kleinen fröhlichen Momente. Wenn es den Patienten nach vier, sechs Wochen besser geht und sie hierher in diesen kleinen Raum kommen. Dann sind wir ein Team. Ich sage ihnen: "Es sind du und ich gegen die Krankheit."

Das Interview führte Laura Höflinger