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Ausflug in die Bronx: Die unschuldigere Zeit

Foto: Ed Piscor/ Metrolit

"Hip Hop Family Tree" Dr. Dre haut die Beats rein

Vinyl-Platten werden noch aus Kofferräumen auf der Straße verkauft, Lautsprecher aus Schrott zusammengebastelt: Ed Piskors kenntnisreiche Graphic Novel "Hip Hop Family Tree" erzählt von den frühen Tagen der Rapmusik.

Die Sugar Hill Gang kennen die meisten Hip-Hopper vielleicht auch heute noch. Wenn man aber auf einem Materia- oder Cro-Konzert nach Afrika Bambaataa, Kurtis Blow oder Fab Five Freddy fragt, würde die Ausbeute schon deutlich magerer ausfallen. Der amerikanische Comiczeichner Ed Piskor will diesen Gründervätern des Hip-Hop mit seiner Graphic Novel "Hip Hop Family Tree" jetzt ein Denkmal setzen. Und es ist ihm gelungen, dass mehr bei diesen Bemühungen herausgekommen ist als nur ein Fanheftchen für Genrenerds.

Die Ära der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre, die Piskor in seinem Erzählcomic skizziert, wirkt wie eine irgendwie unschuldigere Zeit. Trotz Bandenkrieg in der Bronx und den letzten politischen Auswüchsen der Black Panther. Platten werden noch aus Kofferräumen auf der Straße verkauft, Lautsprecher selbst aus Schrott zusammengebastelt, und Loops müssen mühsam aus Tonbändern zusammengeschnipselt werden. In dieser Anfangszeit herrscht eine später nie mehr so wild sprudelnde Experimentierfreude, es sind die Jahre, bevor die viel beklagte Kommerzialisierung dem Hip-Hop den Weg in den Mainstream bereitet.

Cornerpartys und die ersten Scratchversuche

Auch wenn das ausgiebige Name-Dropping, ohnehin ja eine Spezialität von Rappern, etwas nervig ist, gelingt es Ed Piskor doch, diese Pionierzeit sehr lebendig werden zu lassen. Das liegt natürlich auch daran, dass er eine sehr klassische Comicform gewählt hat, irgendwo zwischen Marvel, "Mad"-Heft und Robert Crumb. Liebevoll im aus Superheldencomics bekannten Rasterdruck erzählt er von Corner Partys und den ersten Scratchversuchen, Graffiti und der stilprägenden Mode der Zeit. Piskor berichtet minutiös von den anfänglichen Battles um 1000 Dollar in der Harlem World und von den ersten Plattenverträgen, bis die Rapszene am Ende des Bandes im Jahr 1981 und mit der Gründung von MTV endgültig im Mainstream angekommen ist.

Beim Übersetzen von genrespezifischem Slang kann man einiges falsch machen, weshalb es ein großes Glück ist, dass mit Falk Schacht ein sehr Hip-Hop-affiner Redakteur zugange war. Klugerweise werden die meisten Songtexte nicht übersetzt, denn dass dies nur ins Auge gehen kann, wussten selbst die frühen deutschen Rapper, die lange darauf verzichteten, ihre Reime in ihrer Muttersprache zu rappen.

Schacht war nicht nur selbst als Rapper aktiv, er hat auch diverse Magazine moderiert und zeichnet sich bis heute für die Sendung Mixery Raw Deluxe verantwortlich, einst auf Viva, inzwischen im Netz zu sehen. Ausreichend Street Credibility also, um die deutschsprachige Variante von "Hip Hop Family Tree" nicht peinlich werden zu lassen. Dennoch wirkt es manchmal ein bisschen hölzern, wenn der Straßenduktus aus Harlem ins Deutsche rüberrumpelt, aber auch das ist fast ein bisschen nostalgisch, so als würde man wie in den Achtzigern wieder "Mad"-Hefte lesen.

Raum für jeden Hip-Hop-Pionier

Witzig sind vor allem die Anekdoten aus der Frühzeit und die immer wieder auftauchenden Querverweise zur späteren, kommerziell erfolgreicheren Hip-Hop-Generation. Zum Beispiel findet man den jungen Andre Young, der von seiner Mama ermahnt wird, die Musik leiser zu hören, die ihn später einmal als Dr. Dre reich und berühmt machen wird. Oder man erfährt, dass Afrika Bambaataa seine legendäre Plattensammlung mit falschen Labels versah, um sein Erfolgsrezept nicht an andere DJs zu verraten.

Da macht es auch nicht so viel aus, dass sich die meisten Leser wahrscheinlich ein bisschen im Gewimmel der vielen Figuren und Konkurrenten und Crew-Gründungen verlieren könnten. Es ist dem 31-jährigen Piskor, der selbst großer Hip-Hop-Anhänger ist, deutlich anzumerken, dass er jedem der Pioniere Raum geben will. So bekommt die Nacherzählung der Entstehungsgeschichte durchaus enzyklopädische Ausmaße samt ausführlicher Diskografie.

"Hip Hop Family Tree" hat durchaus etwas von einem Standardwerk, es gehört in die Bibliothek jedes Hip-Hoppers und erst recht die der Nachgeborenen, die vielleicht wirklich denken, dass Die Fantastischen Vier und Sido Rap erfunden hätten. Vielleicht gibt es ja irgendwann tatsächlich die deutsche Variante mit der Geschichte von Advanced Chemistry über Freundeskreis bis zu Phänomenen der Gegenwart wie Casper. Bis dahin können sich Hip-Hop-Fans und andere Musikenthusiasten mit Piskors Graphic Novel einen guten Überblick über die Wurzeln des Genre verschaffen.