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Staffelfinale von »Stranger Things« Durch den Kleister der Nostalgie

Leim klebt, aber er verbindet auch. Ganz ähnlich funktioniert die Blockbusterserie »Stranger Things«, deren Staffelfinale nach mehrwöchigem Warten jetzt bei Netflix zu sehen ist. Und ja, es muss jemand sterben.
»Papa«: Eleven rebelliert in »Stranger Things« gegen ihren Ziehvater

»Papa«: Eleven rebelliert in »Stranger Things« gegen ihren Ziehvater

Foto: Courtesy of Netflix

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Es ist vollbracht. Nach einer mehrwöchigen Pause hat Netflix die vierte Staffel von »Stranger Things« zu Ende gehen lassen, aber es ist noch mal ein langer, laaaanger Weg bis zum Finale. Also: am besten gleich einen Eimer Chips vor dem Fernseher bunkern, ein Kasten Wasser ist auch ratsam. Bier treibt bekanntlich stark, und unnötige Zwangspausen kann man sich hier nicht leisten.

Zwar fehlten nur noch zwei Episoden, aber was heißt das schon bei diesem Serienungeheuer? Episode acht mit dem Titel »Papa« hat Spielfilmlänge, Episode neun heißt »Huckepack« und nimmt sich so viel Zeit wie »The Dark Knight« oder »Pulp Fiction«: zweieinhalb Stunden.

Wer eine Superheldin an seiner Seite hat, kann auch als Außenseiter zum Helden avancieren

Wer eine Superheldin an seiner Seite hat, kann auch als Außenseiter zum Helden avancieren

Foto: Courtesy of Netflix

Und das Ende, das versteht sich von selbst, ist natürlich nur ein neuer Anfang. It's the Serienlogik, Dummy! Trotzdem fühlt man sich, als habe man den Gipfel des Mount Everest endlich erklommen, nur um festzustellen, dass gleich dahinter ein neues, noch unbekanntes Massiv aufragt.

Ganz offensichtlich wollen wir, die Zuschauer, es nicht anders, oder? Nach der Serialisierung des Blockbusters mit seinen Erzähluniversen, die sich immer weiter ausdehnen, folgte die Blockbusterisierung der Serie, die immer größere Budgets verschlingt und inzwischen aufmerksamkeitsökonomisch so funktioniert wie ihre großen Brüder aus dem Kino.

Das lohnt sich für die Filmstudios und Streamingdienste, weil das Risiko bei Stoffen, die sich schon als massenkompatibel erwiesen haben, kalkulierbarer erscheint und sich marketingtechnisch die Spannung immer weiter steigern lässt. Insofern hat Netflix mit seiner künstlichen Verknappung kurz vor dem Finale ein kleines Meisterstück in Sachen Marketingstrategie hingelegt.

Wirtschaftlich funktioniert das aber nur, wenn die Zuschauer sich auch wirklich begeistern lassen, und das ist bei diversen Comicverfilmungen und Serien wie »Stranger Things« ganz offensichtlich der Fall. So, als würde hier ein ganz grundlegendes menschliches Bedürfnis gestillt: das nach Geschichten, die wägbarer sind als das echte Leben mit seinen Unsicherheiten.

Die Herausforderungen für die Figuren sind zwar ungleich größer – gerettet werden muss immer gleich die Welt als Ganzes –, aber die Möglichkeiten eben auch: Superhelden haben andere Kräfte, mit denen sie in den Lauf des Schicksals eingreifen können, als Otto Normalverbraucher. Und selbst Underdogs und Außenseiter können sich als wahre Helden erweisen, wenn sie eine Eleven zur Seite haben.

Einer muss sterben, aber wir verraten nicht, wer

Einer muss sterben, aber wir verraten nicht, wer

Foto: Courtesy of Netflix

Vielleicht ist es wahr, dass die Mediennutzung durch die vielen Streamingdienste und das unüberschaubare Angebot zerfasert, dass das Publikum sich immer tiefer in die ihm genehme Echokammer zurückzieht. Wahr ist aber auch, dass es eine große Sehnsucht nach verbindenden Stoffen gibt, nach dem medialen Lagerfeuer, an dem sich Hände und Herz wärmen lassen mit Geschichten, die vom guten Kern der Menschenwesen erzählen, allen Monstern und allem Horror des Geworfenseins in eine harte Welt zum Trotz.

Der Mensch ist in seinem Innersten gut

»Stranger Things« erfüllt dieses Bedürfnis perfekt. Gekämpft wird hier zwar auch mit abgesägten Flinten und zu Schildern umfunktionierten Mülleimerdeckeln. Noch wirksamer im Kampf gegen das Böse aber sind Tränen der Erkenntnis, emotionale Offenbarungen und Freundschafts- und Liebesschwüre. Max, die eigentliche Heldin dieser Staffel, bekämpft den warzenbedeckten Widerling Vecna, indem sie sich vor seinen telepathischen Nachstellungen in schönen Erinnerungen versteckt.

Der Mensch ist in seinem Innersten gut, diese Botschaft posaunt die vierte Staffel so pathetisch wie nie heraus, und die Achtzigerjahre werden ganz unverkennbar zur Folie für die riesige Sehnsucht nach dem guten Amerika, in dem die Menschen bei Katastrophen zusammenstehen und Erdnussbutter-Sandwiches schmieren. Es hat eine bittere Ironie, dass ausgerechnet das Jahrzehnt, in dem unter Ronald Reagan der Samen der heutigen Zwietracht in den USA gesät wurde, in »Stranger Things« zum nostalgischen Teilchenbeschleuniger wird. Aber bei Nostalgie geht es ja nie um die Genauigkeit der Erinnerung, sondern um deren emotionale Wirkmächtigkeit. Und angesichts des gegenwärtigen Krisenknäuels wirken die Achtziger mit ihrem hübsch ordentlichen Kalten Krieg und ihren Frisurverbrechen wunderbar niedlich.

Ein schlecht gelaunter, etwas hüftsteifer älterer Herr

Ach so, Sie wollten jetzt die ganze Zeit wissen, wie sie denn nun sind, die letzten beiden Episoden? Das kann ich Ihnen nun wirklich nicht verraten, ohne in die Tiefen der Geschichte hinabzusteigen, und das wiederum würde die Spoiler-Radikalen auf den Plan rufen. Nur so viel: der heimliche Höhepunkt der Staffel war für mich die letzte Folge vor der Pause, in der meisterhaft die (viel zu) vielen Erzählstränge zusammengeführt und mit einer echten Enthüllung verquickt wurden.

Danach geht es weiter wie gehabt, Vecna muss sterben und will einfach nicht, obwohl er auf mich immer wirkt wie ein schlecht gelaunter, etwas hüftsteifer älterer Herr mit verstopften Nasennebenhöhlen, jedenfalls klingt seine Stimme so. Es muss auch jemand sterben, aber wer, ist nicht die größte Überraschung.

Man fühlt sich beim Schauen ein wenig, als wate man durch Kleister, es geht alles sehr langsam voran und man kommt kaum von der Stelle. Und wenn man am Ende angekommen ist, Sie wissen es ja schon, dann geht alles wieder von vorne los. Vielleicht sollte man im Hinblick auf Staffel fünf jetzt schon mal ein ganzes Regalbrett für Chips freiräumen.