Zum Inhalt springen

Bye-bye Privatsphäre "Deutsche Datenschützer übertreiben stark"

Millionen Menschen geben im Internet Persönlichstes von sich preis - freiwillig. Es ist also sinnlos, den freien Datenfluss noch kontrollieren zu wollen, meint "Post-Privacy"-Autor Christian Heller. Er fordert den Abschied von der Privatsphäre - und erklärt, warum man mehr Nacktheit wagen sollte.
Datenschutz-Kritiker Christian Heller: "Stark übertrieben"

Datenschutz-Kritiker Christian Heller: "Stark übertrieben"

Foto: SPIEGEL ONLINE

SPIEGEL ONLINE: Was haben Sie eigentlich gegen Privatsphäre?

Christian Heller: Gar nichts. Post-Privacy ist erstmal nur eine Diagnose: Wir schlittern in eine Situation hinein, in der Privatsphäre keine große Rolle mehr spielt. Bisher scheint der Konsens zu sein, dass die Folge Freiheitseinbußen für den Einzelnen sind. Ich versuche stattdessen eine utopische Perspektive auf das Unausweichliche.

SPIEGEL ONLINE: Bei Facebook kann ich zum Beispiel mein Profil abschotten. Wo schwindet da denn meine Freiheit?

Heller: Das Unternehmen weiß trotzdem alles - und was die mit den Daten machen, ändert sich erstens ständig und zweitens weiß das außerhalb der Firma niemand so genau.

SPIEGEL ONLINE: Trotzdem kann ich entscheiden, wem ich meine Daten anvertraue - und es gibt Gesetze, was damit gemacht werden darf.

Heller: Das Recht mag ja auf dem Papier da sein, aber die technische Entwicklung unterläuft dieses Recht: Aus dem Verhalten anderer Menschen können Rückschlüsse auf mich gezogen werden, dazu muss ich kein Facebook-Mitglied sein. Langfristig wird es immer schwieriger, sich Datensammlungen und sozialen Netzwerken zu entziehen. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben wird immer mehr davon abhängig.

SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht ein gutes Argument für mehr Datenschutz?

Heller: Kann schon sein, dass es sich an einigen Stellen noch lohnt, gegen die Datengier zu kämpfen, aber eben nicht um jeden Preis. Wenn die Gegenmaßnahmen - der Datenschutz - meine Freiheit zu stark einschränken. Zum Beispiel möchte ich mir nicht ständig einen Kopf machen, ob ich etwas nun ins Internet stellen darf, ein Foto von einer Party mit ein paar Leuten darauf, oder ob das mit Datenregulierungsgesetzen kollidiert.

SPIEGEL ONLINE: Wir alle müssen diese Entscheidungen aber treffen, das Grundgesetz schützt die Persönlichkeitsrechte jedes einzelnen. Das soll nicht mehr gelten?

Heller: Kann sein, dass sich Post-Privacy nicht mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verträgt. Ich habe für mein Denken keinen Schwur auf das Grundgesetz geleistet. Ich kann nur feststellen: Es gibt einen machtvollen Trend hin zur Anarchie der Daten, zumindest zu ihrem ungezügelten Fluss.

SPIEGEL ONLINE: Freiheit ist immer eine Abwägung, was kann ich mir erlauben, was mute ich anderen zu. Lehnen Sie es ab, Rechte anderer zu achten?

Heller: Wir sollten uns natürlich überlegen, wo wir mit unserem Verhalten Anderen schaden könnten. Aber zwischen diesen Überlegungen und der Weltanschauung des deutschen Datenschutzes mitsamt seinem Freiheitsbegriff muss keine Übereinstimmung bestehen.

SPIEGEL ONLINE: Je mehr Behörden und Unternehmen über einen Menschen wissen, desto schutzloser ist er diesen Institutionen ausgeliefert. Bis zu dem Punkt, wo er aus Angst nicht mehr frei handeln kann. Ist das die Folge?

Heller: Das wird von deutschen Datenschützern stark übertrieben. Überhaupt macht der Datenschutz mehr, als meine Freiheit zu schützen, wenn etwa einer von mehreren Mietern in einem Haus die Verpixelung der Fassade bei Google Streetview gegen den Willen der Anderen erzwingt.

SPIEGEL ONLINE: Polizisten gleichen Radarfallenbilder mit Facebook-Profilen ab, Personalchefs prüfen, ob Bewerber auch ja keine ausgefallenen Hobbys haben, Händler liefern nur gegen Vorkasse in Problemstadtteile - und das ist nur der Anfang der Entwicklung. Alles übertrieben?

Heller: Nein. Ich glaube aber nicht, dass Datenschutz der richtige Hebel ist, um diese Probleme anzugehen. Weil wir die Daten gar nicht schützen können, ist die Frage doch eher, welche konkreten Maßnahmen wir Staat und Firmen als Folge solcher Daten-Erkenntnisse zugestehen wollen.

SPIEGEL ONLINE: Schon jetzt wird versucht, aus Datensammlungen herauszulesen, wer in Zukunft eine Straftat begehen könnte. Finden Sie das nicht bedenklich?

Heller: Eine Gesellschaft kann sich entscheiden, ob sie so eine vorauseilende Justiz wirklich haben will.

SPIEGEL ONLINE: Wo Daten sind, werden sie auch genutzt. Wäre es nicht besser, ich würde von vornherein möglichst wenig über mich preisgeben?

Heller: Das kann man sagen, so als symbolische Geste, das bringt nur praktisch nicht viel. Das Datensammeln wird immer einfacher, und ich sehe keine großen Skrupel bei denen, die entsprechende Werkzeuge haben.

SPIEGEL ONLINE: Kommen wir zu den utopischen Möglichkeiten. Wo nützt Post-Privacy nicht nur mächtigen Institutionen?

Heller: Wenn wir mehr kommunizieren und mehr voneinander wissen, bietet das mehr Chancen. Ein Beispiel: Wenn alle mehr über ihr Einkommen reden, können Firmen dieses Geheimnis nicht mehr ausnutzen, um die Löhne niedrig zu halten oder einzelne Mitarbeiter besser zu stellen.

SPIEGEL ONLINE: Sie fordern Transparenz von Behörden und Firmen - und fangen bei sich selbst an, stellen zum Beispiel Ihren detaillierten Tagesablauf ins Internet. Was bringt Ihnen das?

Heller: Bisher wenig, was auch daran liegt, dass mein Leben nicht so spektakulär ist. Aber es gibt schon kleine Dinge: Menschen achten darauf, ob ich gerade schlafe, bevor sie an der Tür klingeln oder anrufen.

SPIEGEL ONLINE: Wann sind denn die Tage der Privatsphäre Ihrer Meinung nach gezählt?

Heller: Der deutsche Datenschutz wird sicher nicht von heute auf morgen klein beigeben. Wir sind außerdem in einem Übergangszustand, da kann es sich lohnen innezuhalten. Weil man in vielen Fällen immer noch schnell mehr Schaden erleidet, wenn man Daten freigibt, als man Nutzen daraus gewinnt.

SPIEGEL ONLINE: Also leben wir prima mit Privatsphäre?

Heller: Wir müssen uns nicht von heute auf morgen alle nackt machen, aber wir sollten lieber etwas Positives aus dem Trend in diese Richtung ziehen. Man sollte schon mal hier und da ausprobieren, etwas nackter zu sein, und schauen, was dann passiert.

Interview: Ole Reißmann

Mehr lesen über