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Sascha Lobo

Coronapandemie Die Unerträglichkeit der höheren Gewalt

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Corona ist immer noch da. Die elend lange, quälende Dauerpandemie will einfach kein Ende nehmen. Daran muss doch irgendjemand schuld sein. Oder?
Intensivtransport in Ludwigsburg (im Januar 2021): Für fast alle ist unannehmbar, dass niemand Schuld hat

Intensivtransport in Ludwigsburg (im Januar 2021): Für fast alle ist unannehmbar, dass niemand Schuld hat

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Sebastian Gollnow / dpa

Die »Querdenker« und wir, die coronageplagte Normalbevölkerung, haben etwas vielleicht Überraschendes gemeinsam. Etwas, das aus der Nähe betrachtet eher noch etwas unangenehmer wird – für uns. Es handelt sich um einen toxischen Wunsch, der auf allen Seiten immer drängender wird: Jemand muss schuld sein.

Man könnte argumentieren, dass der Mensch schon immer Sündenböcke braucht und sucht. Aber nach zwei Jahren Pandemie und vielen Entbehrungen für viele Menschen scheint jeder Gedanke unmöglich, dass Schuld nicht im Vordergrund steht. Für fast alle ist unannehmbar, dass niemand Schuld hat. Es scheint geradezu unerträglich, dass es sich bei der Pandemie zuallererst um eines handelt: höhere Gewalt. Das zu realisieren und in die eigene Meinungslandschaft einzubauen, wird für die meisten Leute immer schwieriger.

Bei den »Querdenkern« war die Schuldfrage schon früh zentral. Das liegt daran, dass Verschwörungstheorien exakt diese Funktion haben: Sie konstruieren einen Personenkreis, der die Verantwortung an dem trägt, was als Verschwörung betrachtet wird. Verschwörungstheorien sind Schuldzuweisungen. Für die Essenz dieser Haltung brauchen »Querdenker« und Impfgegner nur ein einziges Wort: Plandemie. Dieses Wortspiel soll kürzestmöglich ausdrücken, dass es angeblich einen Plan hinter der Pandemie gibt. Und daraus kann dann logisch gefolgert werden, dass jemand den Plan ersonnen haben muss. Womit man nur durch die Verwendung eines einzelnen Wortes die Schuldfrage final festgelegt hat: Es gibt aktive Täter. Und sie sind so bösartig und machtvoll, dass sie ein derartiges Weltereignis überhaupt planen können.

Aus Sicht der »Querdenker« sind fast alle Facetten der Pandemie mit Schuldigen belegt: der Ursprung, die Ausbreitung, die Kommunikation, die »Absichten« dahinter, die Maßnahmen, die Impfung, das »Ziel«. Bill Gates, Globalisten, Zionisten, Juden, Eliten, Mainstream-Medien, Pharmamafia, antidemokratische Verschwörer auf dem Weg zur »Neuen Weltordnung«, dem »Great Reset« oder gar milliardenfachem Massenmord – das übliche antisemitische und oft rassistische Schuldpotpourri. Davon ist strukturell nichts wirklich neu, aber die Pandemie war und ist der beste Anlass, den sich Verschwörungsanfällige hätten wünschen können. So ist eine pandemische Querfront entstanden. Gruppen, die vor Corona jede Gemeinsamkeit abgestritten hätten, treten nun zusammen auf. Schuld ist hier der Schlüssel, denn sie verbindet wenig bis nichts – außer einem gemeinsamen Feind, der die Antwort auf die Frage darstellt: Wer hat Schuld an der Misere?

Leider aber hat sich das Verlangen nach Verantwortlichen inzwischen auch außerhalb der Verschwörungsgläubigen und ihren Sympathisanten manifestiert. Und zwar bei vielen, vielleicht fast allen – ich erkenne es bei mir selbst. Immer mal wieder entgleiten mir entlang der täglichen Nachrichtenlage meine Emotionen. Dann sehe ich an meinen eigenen Begriffen, wie sich in Sachen Corona alles in Richtung Schuld verschiebt. In meinen Gedanken wird aus »eventuelle Mitverantwortung« erst »wahrscheinliche Mitverantwortung«, dann »Mitverantwortung«, dann »Verantwortung«, schließlich »Schuld«.

Ein auf mehreren Ebenen besonders schwieriges Beispiel: die Frage nach der Verantwortung Ungeimpfter. Nicht, dass ich harte Impfkritiker in irgendeiner Form in Schutz nehmen wollen würde, im Gegenteil habe ich diese Leute schon häufiger attackiert und werde es auch weiterhin tun. Aber nicht alle Ungeimpften sind Impfkritiker oder »Querdenker«. Deshalb halte ich es für sinnvoll, an dieser Stelle zu differenzieren: Wo tragen Ungeimpfte eine Mitverantwortung und wo eher nicht?

Meine Gefühlslage sucht vor allem die Schuld dafür, dass Corona überhaupt noch da ist, dass diese elend lange, quälende, in Wellen zehrende Dauerpandemie noch kein Ende genommen hat. Die Ungeimpften passen da gut hinein. Damit bin ich nicht allein, in sozialen Medien kursieren ähnliche Gedanken. Begriffe wie »Pandemie der Ungeimpften« transportieren genau das: Wenn sich bloß alle hätten impfen lassen, wäre die Pandemie längst vorbei. Die schieren Fakten scheinen diesen Schluss eher nicht zuzulassen.

Dänemark (Bevölkerung 5,8 Mio.) und Portugal (Bevölkerung 10,3 Mio.) sind die bestgeimpften, größeren Länder Europas, mit Erst-Impfquoten über 90 Prozent . Am 11. Januar lag Portugal bei 33.340  und Dänemark bei 20.169  Neuinfizierten. Würde man das auf Deutschland umrechnen, ergäben sich kaum glaubhafte Zahlen 269.000 beziehungsweise 283.000 Neuinfektionen am Tag. Nicht, dass solche Zahlen in Deutschland nicht noch erreicht werden könnten – aber ganz offensichtlich haben selbst die besten Impfkampagnen in Europa nicht zum Ende der Pandemie geführt. Es greift offensichtlich zu kurz, die Wut über das Andauern der Pandemie auf Ungeimpfte zu projizieren. Daraus folgt, dass Ungeimpfte offenbar nicht allein die Schuld daran tragen, dass Corona auch 2022 noch existiert.

Und das wiederum ist wichtig festzustellen, weil freiwillig Ungeimpfte ja in anderen Bereichen durchaus eine sehr wahrscheinliche Mitverantwortung tragen. Zum Beispiel, was die Belastung des Gesundheitssystems und die Auslastung der Intensivbetten angeht. Impfungen helfen nach dem gegenwärtig publizierten Stand der Wissenschaft nur eingeschränkt oder gar nicht gegen eine Infektion etwa mit der Omikron-Variante. Sonst würden Fachleute wie Fauci auch nicht postulieren, dass wir alle früher oder später Corona bekommen. Aber Impfungen reduzieren sowohl die Schwere der Erkrankung und vor allem auch die Wahrscheinlichkeit für den Krankenhaus- und den Friedhofsaufenthalt. Deshalb bleiben Impfungen samt Booster trotzdem eine Frage der Solidarität.

Eine Schuldsehnsucht hat uns ergriffen, und sie tut niemandem gut

Immer wieder lassen sich im Coronaalltag Schuldzuweisungen erkennen. Das vielleicht häufigste Ziel ist dabei die Politik. Natürlich ist Verantwortung der Job der regierenden Politik, und von Fahrlässigkeit und Fehlentscheidungen bis hin zu Wahlkampfpopulismus kann und soll man alles Mögliche kritisieren. Meiner Ansicht nach darf man bei Kritik auch mal etwas grober auf den Schlamm hauen. Aber zu oft verwandelt sich bei harter Kritik eine mutmaßliche Mitverantwortung in eine eindeutige und vermeintlich alleinige Schuld. Die Zeiten der Pandemie sind gerade auch für Berufsverantwortliche kein goldenes Träumchen. Mir scheint selbst beim schlechtesten Willen nicht, als seien Gesundheitsminister oder RKI-Präsident in den letzten zwei Jahren die Jobs mit der größten Erfüllung und Work-Life-Balance gewesen. Auch in umgekehrter Richtung trifft der Bannstrahl der Schuld manchmal das Publikum, wenn jemand aus der Politik im Zorn die Bevölkerung beschuldigt. Etwa, weil sich zu wenige Leute an überkomplizierte, zäh kommunizierte Regeln halten.

Andere Schuldzuweisungen treffen Pharmaunternehmen, das Patentwesen, die Industrieländer oder den Kapitalismus insgesamt. Ein häufiges Argument: Verschiedene Virusvarianten seien dort entstanden, wo gierige Pharmaunternehmen oder menschenfeindliche Regierungen Impfungen in Entwicklungsländern aktiv verhindert haben. Meine Befürchtung ist, dass auch hier unterkomplexe Gedankengänge und der Wunsch nach Schuldigen zusammenkommen. Eine Reihe von Fachleuten sagt etwa, dass Patente nur ein Detail einer Impfkampagne seien . Das Know-how der Produktion, die Maschinen, das Personal, die Infrastruktur, die Skalierung – all das gehört ebenso dazu und hat wenig mit Patenten zu tun. Es mag sein, dass es gute Gründe für eine Freigabe der Impfstoffpatente gibt. Aber wer in den Patenten das größte oder gar einzige Problem und deshalb in dieser Richtung die Schuldigen sucht, macht es sich eben auch viel zu einfach.

Immer stärker scheint durch, dass zwar definitiv nicht alle, aber doch viele Schuldzuweisungen diejenigen treffen, denen man die Schuld am ehesten wünscht. Und dass nach zwei Jahren Pandemie jeder Strohhalm der Mitverantwortung schnell zur Hauptschuld in besonderer Schwere wird. Aus schierer, pandemischer Wuterschöpfung heraus. Eine Schuldsehnsucht hat uns ergriffen, und sie tut niemandem gut. Auch weil sie deutlich erschwert, tatsächlich vorhandene Mitverantwortungen zu erkennen und zu sanktionieren. Und weil so viele Menschen den entscheidenden Faktor außer Acht lassen: die höhere Gewalt der Pandemie, in Form der aggressiv mutierenden Natur dieses gottverdammten Virus. Apropos, fast möchte man, als halbgarer Ausweg, religiös werden – denn Gott trägt ja irgendwie immer die Verantwortung.