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Elterncouch Das böse Kind

Kinder sind manchmal fies. Auch die eigenen

Kinder sind manchmal fies. Auch die eigenen

Foto: Corbis

Kinder sind manchmal wahnsinnig süß - und manchmal machen sie uns wahnsinnig. Für SPIEGEL ONLINE legen sich eine Mutter und zwei Väter regelmäßig auf die Elterncouch.

Juno Vai schreibt auf der Elterncouch  im Wechsel mit Theodor Ziemßen und Jonas Ratz.

Gibt es böse Kinder? Oder sind die Eltern schuld, wenn der Nachwuchs schlägt, verleumdet oder Tiere quält? Ein Ausflug ins Reich der kleinen Psychoterroristen.

Ich kenne Kinder, die hinterfotzig sind. Kleine Jungen, die Mädchen in den Bauch treten und sich, sobald ein Erwachsener auftaucht, vor Schmerzen quiekend auf den Boden werfen und erklären, das Gegenüber habe sie halbtot gehauen.

Ich kenne Kinder, die manipulativ sind. Die an Zimmerwände pinkeln, um die Reaktion ihrer Eltern zu checken. Oder Spielkameraden dazu nötigen, in irgendjemandes Vorgarten zu koten, damit sie Ärger kriegen.

Ich kenne sadistische Kinder, wie meine Kindheitsfreundin Klara, die das Dividieren mit Marienkäfern übte, indem sie die Tiere sorgfältig der Länge nach in zwei Hälften schnitt.

Ich kenne Kinder, die lügen, andere verunglimpfen, die sämtliche Finessen des Psychoterrors so perfekt beherrschen, dass man sie problemlos bei den renommiertesten Geheimdiensten dieses Planeten beschäftigen könnte. Sie locken, schmeicheln und bohren, horchen ihr Gegenüber aus - um dann sämtliche Informationen zu pervertieren und gegen das Opfer zu verwenden.

Beispiel: Ein frühreifes, etwas düsteres und linkisches Mädchen fragt meine Tochter, ob sie schon mal verliebt war. Die beiden sind zu diesem Zeitpunkt in der zweiten Klasse, Vics Begriff von Liebe ist eher universeller Natur. "Oh, ich glaube ich bin ganz doll verliebt in meine beste Freundin", sagt Vic. "Aaaaah, tatsächlich?", freut sich das linkische Mädchen und erstattet sofort Bericht an seinen Führungsoffizier. Das Ergebnis ist erwartbar: "Lesbe, Lesbe, Lesbe!", schallt es am nächsten Morgen und noch Tage darauf durch die Klasse, sobald Vic in die Schule kommt.

Meine Tochter hat keine Ahnung, was eine Lesbe ist und kann, nachdem ich es ihr erklärt habe, auch nicht verstehen, was daran schlecht sein soll. Ich muss nun also Niedertracht und Homophobie gleichzeitig erklären, was ein mühseliges Unterfangen ist und meinem Kind Dinge nahebringt, die ich eigentlich von ihm fernhalten wollte. Das Ende der Unschuld ist also eingeläutet.

Es gibt Zeiten, da sind Kinder fies. Auch die eigenen. Sie lernen Machtspiele, die später ihren Arbeitsalltag bestimmen werden. Sie grenzen sich ab, setzen sich durch, werden auch mal unangenehm. Das ist okay, wenn es eine Phase bleibt, ein Ausrutscher. Aber es ist erschreckend, wenn es chronisch wird.

Engel und Teufel aus derselben Ursuppe

Was treibt solche Kinder an? Sozialromantiker gehen davon aus, dass kein Kind von Natur aus böse ist. Allein das Umfeld, die Sozialisierung also sei verantwortlich für Verhaltensauffälligkeit. Mir scheint das zu kurz gedacht. Ich kenne Familien, wo ein Kind unerträglich ist und das andere durchweg reizend. Charakter und Disposition müssen also irgendeine Rolle spielen, schließlich stammen beide aus demselben Stall. Kinder sind ja auch nur Menschen. Sie bringen Gutes und Böses mit in die Welt, da mag das Umfeld mitentscheidend sein, welche Seite dominiert, ich glaube aber, beides ist von Anfang an vorhanden.

Psychologen und Kinderärzte betonen, dass kleine Kinder vor allem imitieren, was sie sehen oder hören. Bestenfalls ist das ein familiäres Umfeld, in dem Kraftausdrücke ebenso vermieden werden wie Psychospielchen oder verbale Gewalt. Schlimmstenfalls sind das Menschen, die im Beisein Minderjähriger brutale Videos, Computerspiele oder pornografische Darstellungen konsumieren. Oder Eltern, die selbst gewalttätig werden, was so oft eine generationenübergreifende Wiederholung nach sich zieht.

Es gibt etliche Untersuchungen zum Thema Verhaltensauffälligkeit - und fast alle lassen Eltern ein wenig ratlos zurück, weil jedes "böse Kind" letztlich ein großes Puzzle aus Geschichte und Persönlichkeit ist. Einzelne Erkenntnisse allerdings sind mir im Gedächtnis geblieben: Schon Eineinhalbjährige sind demnach in der Lage, Empathie zu empfinden. Dreijährige haben bereits ein Verständnis für Regeln, leiten davon ab, was gewollt und ungewollt ist.

Verstöße gegen die Norm müssen Psychologen zufolge eine gewisse Befriedigung bringen, attraktiver sein als drohende Sanktionen. Eltern kennen das unter dem Schlagwort "negative Aufmerksamkeit" - das Kind versucht, durch Provokationen und Fehlverhalten aufzufallen und dadurch das zu bekommen, was am meisten fehlt: echte Zuwendung. Und die ist dann wichtiger als jede Strafe. Das ist ein Mechanismus, den ich als Mutter verstehen kann.

Wolfsrudel und Opferlamm

Unheimlich wird es aber, wenn plötzlich eine Art archaisches Rudelverhalten einsetzt: Eine Bekannte erzählte mir, dass ihre Tochter in der Krippe von einer Meute Ein- bis Dreijähriger angegriffen und mehrfach gebissen wurde. Von jetzt auf gleich, ohne erkennbaren Grund, mit beachtlicher Aggressivität. Die Erzieherin war kurz im Nebenzimmer verschwunden, die Zeit hatte gereicht, um die Gruppe Winzlinge in ein Opfer und viele Täter zu spalten.

Das kommt vor, sagen manche Experten, bis zu 15 oder gar 20 Prozent der Kindergartenkinder seien gewaltbereit. Irgendwie neandertalisch, denke ich. Aber auch verständlich in einem vorbewussten Entwicklungsstadium. Obwohl, erleben wir solche Rudelattacken in sublimierter Form nicht auch in der Altersgruppe 6 bis 99? Vielleicht haben wir nur vergessen, dass sich unser Gehirn keineswegs so rasant weiterentwickelt hat wie die Technologien um uns herum. Wenn Sprache versagt, gilt weiterhin das Faustrecht.

Eine Studie belegt , dass unter inhaftierten männlichen Jugendstraftätern mehr als die Hälfte schon mal Tiere gequält hat. Es gibt demnach einen signifikanten Zusammenhang zwischen, sagen wir, Katzenertränken und einer Disposition zum Gesetzesbruch.

Meine Kindheitsfreundin Klara scheint trotz solcher Negativ-Prognosen die Kurve gekriegt zu haben: Sie seziert heute nicht mehr Käfer, sondern Verbrecherkarrieren - und arbeitet beim Bundeskriminalamt.

Zur Autorin
Foto: Michael Meißner

Juno Vai,
Mutter von Vic (15) und Vito (12)

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Erziehungsstil: Liebe, Verlässlichkeit, Respekt

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