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Angriffe, Drohungen, Beleidigungen So stark ist die Zahl antisemitischer Straftaten seit dem 7. Oktober gestiegen

In Deutschland sind seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel deutlich mehr antisemitische Straftaten begangen worden. Der Antisemitismusbeauftragte der Regierung beklagt: »Jüdisches Leben ist weniger sichtbar geworden.«
Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung

Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung

Foto: Kay Nietfeld / dpa

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland deutlich zugenommen. Allein in den vergangenen etwas mehr als hundert Tagen habe das Bundeskriminalamt (BKA) 2249 antisemitische Straftaten erfasst, sagte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, bei einer Pressekonferenz am Donnerstag. Ein erheblicher Teil davon sei nicht etwa kurz nach dem Angriff begangen worden, sondern Wochen und Monate später.

Jüdinnen und Juden seien »angegriffen, bedroht, beleidigt, in Angst versetzt« worden, und es sei »öffentlich antisemitische Hetze verbreitet« worden, sagte Klein. Er sei erschüttert, dass »das beschämend hohe Niveau« judenfeindlicher Taten dennoch weitgehend aus der öffentlichen Debatte und der Medienberichterstattung verschwunden sei. Jüdinnen und Juden vermieden es, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen, änderten bei Onlinebestellungen jüdisch klingende Namen und überlegten es sich zweimal, ob sie in eine Synagoge gingen.

Wie deutlich der Zuwachs judenfeindlicher Straftaten ist, zeigt der Vergleich mit dem gesamten Jahr 2022. In den zwölf Monaten waren insgesamt 2874 antisemitische Straftaten registriert worden.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster sagte, die meisten der seit dem 7. Oktober erfassten antisemitischen Straftaten hätten auf der Straße stattgefunden. Er bezog sich auf eine Erhebung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) bis zum 9. November. Die gemeldeten Fälle reichten von verletzendem Verhalten über Angriffe und Bedrohungen bis hin zu extremer Gewalt.

»Jüdisches Leben ist weniger sichtbar geworden«

Schuster hob die »mentale Belastung für Jüdinnen und Juden« in Deutschland hervor. Viele trügen aus Angst vor Übergriffen keine jüdischen Symbole, besuchten keine jüdischen Veranstaltungen oder Gottesdienstbesuche mehr. »Die Folge ist: Jüdisches Leben ist weniger sichtbar geworden.«

Derzeit begegne Jüdinnen und Juden in ihrem Alltag primär islamistischer Antisemitismus. Daneben sei aber der rechtsextreme Antisemitismus die größte Bedrohung, da er am besten organisiert sei. »Umso wichtiger waren die Demonstrationen von Hunderttausenden Menschen in ganz Deutschland gegen Rechtsextremismus und das Erstarken der AfD in den vergangenen Tagen«, so Schuster.

Klein sprach auch darüber, wie sich Antisemitismus wirksamer bekämpfen ließe. Er plädiert für einen Vorschlag der Juristin und Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig, Elisa Hoven, den sogenannten Volksverhetzungsparagrafen 130 des Strafgesetzbuchs zu reformieren. Hoven und ihre Mitarbeiterin Alexandra Witting fordern, diesen umzuformulieren, da die bestehenden Formulierungen »zu eng und teilweise missverständlich« seien, wie Hoven in einem Interview mit der Uni Leipzig sagte.

Der Straftatbestand der Volksverhetzung setzt aktuell eine »Störung des öffentlichen Friedens« voraus. Wenn sich verhetzende Äußerungen nicht gegen Menschen richten, die in Deutschland leben, führe das in einigen Fällen dazu, dass Staatsanwaltschaften Verfahren einstellten, »mit der Begründung, dass sich eine Hassbotschaft nicht gegen deutsche, sondern gegen in Israel lebende Juden und Jüdinnen richten würde«, erklärte Hoven in dem Interview. Auch antisemitische Codes und Chiffren würden übersehen. »Äußerungen werden dann als zulässige Israelkritik eingestuft, obwohl sie in Wahrheit klar antisemitisch und verhetzend sind.«

Dem Vorschlag zur Reform des Paragrafen 130 liegt eine Auswertung von mehr als 300 zwischen 2016 und 2021 wegen Volksverhetzung geführter Strafverfahren zugrunde. Die Untersuchung habe gezeigt, dass eine Vielzahl von Verfahren wegen verhetzender Inhalte von den Staatsanwaltschaften eingestellt wurde, oft zum großen Unverständnis der Öffentlichkeit, so Hoven. Klein sagte in der Pressekonferenz: »Wir müssen bestehende Unsicherheiten, die es in der Justiz im Umgang mit Antisemitismus gibt, beenden.«

Andrea Despot, Vorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, beschrieb zudem die Auswirkungen des Antisemitismus seit dem 7. Oktober auf die Arbeit ihrer Stiftung. Seitdem sagten Jüdinnen und Juden die Teilnahme an Veranstaltungen der Stiftung aus Bedenken um ihre Sicherheit ab. Projekte, die sich mit Antisemitismus auseinandersetzten, bräuchten seitdem Sicherheitskonzepte. Und sie betonte, wie Antisemitismus sich in Onlineräumen ausbreite. »Social-Media-Kampagnen unserer Projekte werden verschoben, aus Angst, die Flut antisemitischer Hetze nicht aufhalten zu können.«

jmü