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Hektische Sicherheitsdebatte Das große Ab- und Zuschieben

Frühstart in den Wahlkampf: Die Parteien überbieten sich mit immer neuen Vorschlägen zur inneren Sicherheit - und schieben sich gegenseitig die Schuld an bisherigen Versäumnissen zu.
Sigmar Gabriel, Angela Merkel, Horst Seehofer

Sigmar Gabriel, Angela Merkel, Horst Seehofer

Foto: Kay Nietfeld/ dpa

Damals, im Bundestagswahlkampf 2013, als die AfD noch unbedeutend war und das Wort "postfaktisch" nicht erfunden, ging es viel um Mieten, Mindestlohn und Steuern. Zwar sind mittlerweile weder Deutschlands Großstädte bezahlbarer geworden, noch herrscht in allen Branchen faire Bezahlung oder ist das Steuersystem reformiert.

Trotzdem sind all diese Alltags- und sozialen Fragen in der politischen Auseinandersetzung weit nach hinten gerückt, spätestens seit dem Berliner Terrorattentat vor Weihnachten. Jetzt scheint es nur noch ein Thema zu geben, für das alle Volksvertreter glühen: Politiker aller Parteien überbieten sich mit immer neuen Detailforderungen zu Fußfesseln, Videokameras und Abschiebehaft.

Die Arbeit von Polizei und Sicherheitsbehörden, der Anti-Terror-Kampf, Überwachung und Bürgerrechte stehen permanent im Fokus. Das hat Auswirkungen auf den Start des Bundestagswahljahres:

Union und SPD streiten sich - auf Kosten ihrer Glaubwürdigkeit

Heiko Maas, Angela Merkel, Thomas de Maizière

Heiko Maas, Angela Merkel, Thomas de Maizière

Foto: Michael Kappeler/ dpa

Am Dienstag treffen sich Angela Merkels "Sicherheitsminister" Thomas de Maizière (Innen, CDU) und Heiko Maas (Justiz, SPD), um über die Konsequenzen aus der Berliner Lkw-Attacke zu beraten. Das drängendste Thema sparen sie aus: die Entwirrung des Föderalismus-Chaos bei den Sicherheitsbehörden. Der Wunsch nach klaren Strukturen kam schon nach dem Behördenversagen um die rechtsradikale NSU-Terrorzelle auf, de Maizière erneuerte ihn vergangene Woche. Doch die Länder sperren sich gegen einen Umbau. Mit diesem Thema kann man also gerade keine Sympathien gewinnen. Deshalb wird es nicht ernsthaft angegangen.

Stattdessen wollen sich de Maizière und Maas schwerpunktmäßig einem Problem widmen, das bereits vor dem Berliner Terroranschlag bekannt war. Sie loten Möglichkeiten aus, wie hierzulande lebende ausländische Terrorverdächtige, sogenannte "Gefährder", vorsorglich inhaftiert werden können - selbst wenn die Heimatländer nicht mit Deutschland kooperieren. Bislang kann eine solche Haft nur angeordnet werden, wenn die realistische Möglichkeit einer Abschiebung besteht. Auch der Berliner Attentäter Anis Amri war als "Gefährder" eingestuft, konnte aber nicht abgeschoben werden.

Dabei ist die Forderung nicht neu. Die CSU drängt auf einen "neuen Haftgrund für Gefährder", die CDU ebenfalls, die SPD zog nun nach. Viele Bürger dürften sich fragen: Wenn man sich im Grunde einig ist - wieso dauert das dann eigentlich so lange? Gleichzeitig werfen sich Union und SPD gegenseitig Versagen vor, was ihre Glaubwürdigkeit nicht gerade erhöht. Ein Vorgeschmack auf den Wahlkampf, in dem die Volksparteien trotz gemeinsamer Regierung auf aggressive Abgrenzung vom Koalitionspartner setzen werden.

Merkel und Seehofer finden nicht zusammen

Horst Seehofer, Angela Merkel

Horst Seehofer, Angela Merkel

Foto: Ralf Hirschberger/ dpa

Der Flüchtlingsstreit ist noch nicht abgeräumt, da liefern sich CDU und CSU einen Konkurrenzkampf in der Disziplin: Wer ist mehr Law and Order?

In den vergangenen Wochen trat de Maizière extrem offensiv auf, forderte Abschiebelager oder eben, dass der Bund die Federführung in der Terrorabwehr übernehmen müsse. Während die CSU bei "Bundesausreisezentren" sogar mitgehen dürfte, griffe ein Behördenumbau die Grundfesten des freistaatlichen Selbstverständnisses an. Protest aus Bayern folgte prompt, aber das war einkalkuliert. Merkel machte durch de Maizières Vorstoß klar: Sie will die Sicherheitsdebatte nicht CSU-Chef Horst Seehofer überlassen.

Die CSU baut derweil Bayerns Innenminister Joachim Herrmann als neuen Hoffnungsträger auf. Einige handeln den 60-Jährigen bereits als möglichen Bundesinnenminister nach der Bundestagswahl und sogar als künftigen CSU-Chef.

In der Opposition passt man sich an.

Katrin Göring-Eckardt, Robert Habeck, Cem Özdemir, Anton Hofreiter

Katrin Göring-Eckardt, Robert Habeck, Cem Özdemir, Anton Hofreiter

Foto: Maurizio Gambarini/ dpa

Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht liebäugelte in der Flüchtlingskrise mit einer Obergrenze, in der Sicherheitsdebatte hält sich ihre Partei bislang zurück. Anders die Grünen: Parteichef Cem Özdemir legte eine Ausweitung der Videoüberwachung nahe. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann kritisierte die "kriminelle Energie von Gruppen junger Maghrebiner". Einer Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten würde er ohnehin zustimmen. Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt legte nach: Sie könne sich eine "nachträgliche Identitätsprüfung" von Asylbewerbern vorstellen, sagte sie am Sonntag. Vor ein paar Monaten wäre diese Forderung von den Grünen als Unions-Hardliner-Position geächtet worden. Jetzt bangt die Partei um ihr sicherheitspolitisches Profil. Und um ihre Umfragewerte.

Nordrhein-Westfalen bekommt einen Angstwahlkampf

Hannelore Kraft

Hannelore Kraft

Foto: Wolfram Kastl/ dpa

Im Mai wählt das bevölkerungsreichste Bundesland. Die Regierung von Hannelore Kraft steht unter Druck, in Umfragen hat Rot-Grün zuletzt die Mehrheit verloren. Die sexuellen Massenübergriffe der Kölner Silvesternacht 2015 sorgten für Unsicherheit, auch Terrorist Amri konnte sich in Nordrhein-Westfalen radikalisieren. Kraft ist geschwächt, sie wird im Wahlkampf verstärkt auf Salafisten, Polizeieinsätze und Kriminalität eingehen müssen.

Die CDU mit ihrem Kandidaten Armin Laschet, der lange als chancenlos galt, wittert erste Angriffsmöglichkeiten: Rot-Grün habe "das Prinzip Wegschauen statt null Toleranz" etabliert, sagte Laschet SPIEGEL ONLINE am Sonntag. "Wir dürfen keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit in Deutschland zulassen. Bürger in Nordrhein-Westfalen müssen sich genauso sicher fühlen wie in Bayern."

In Berlin leidet der Ruf von Rot-Rot-Grün

Berlin

Berlin

Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Dem Linksbündnis in Berlin wird überregionale Bedeutung zugeschrieben, nach dem Motto: Klappt es in der Hauptstadt, könnte es auch im Bund klappen. Rot-Rot-Grün startete mit viel Idealismus - der Koalitionsvertrag verspricht weniger Abschiebungen, auch sollen öffentliche Straßen und Plätzen nicht mit Videokameras ausgestattet werden.

Dann raste der Tunesier Amri in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, zwölf Menschen starben. Seitdem steht Berlin im Mittelpunkt der Sicherheitsdebatte. Plötzlich tritt die SPD für mehr Videoüberwachung ein, auch die Abschiebepraxis steht zur Diskussion.

Grüne und Linke sind noch unentschlossen, am Montag trifft sich der Berliner Senat zur Krisenklausur. So oder so können die Beteiligten gerade nur verlieren. Entweder die kleinen Partner schließen sich der SPD an - dann wirken sie prinzipienlos. Oder sie sperren sich, dann gilt die Landesregierung als handlungsunfähig.


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