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Guantanamo-Opfer Murat Kurnaz "Steinmeier hat nicht die Größe, seinen Fehler einzugestehen"

Frank-Walter Steinmeier wird Bundespräsident. Murat Kurnaz sieht das "aus leidvoller Erfahrung kritisch" - der Ex-Guantanamo-Häftling wirft Steinmeier bis heute vor, sich kaltherzig verhalten zu haben.
Von Sophie Krause
Guantanamo-Opfer Murat Kurnaz Ende 2015 in Berlin

Guantanamo-Opfer Murat Kurnaz Ende 2015 in Berlin

Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/ picture alliance / dpa

Frank-Walter Steinmeier wird ein guter Bundespräsident sein - das jedenfalls glaubt eine große Mehrheit der Deutschen. Murat Kurnaz, 34, kann die Freude über das künftige Staatsoberhaupt nicht teilen. Kurnaz wurde Ende 2001 von US-Geheimdienstmitarbeitern in Pakistan in das US-Gefangenenlager Guantanamo verschleppt. Obwohl es keine Belege für Kurnaz' angebliche terroristische Aktivitäten gab, saß er knapp fünf Jahre in Haft. Erst im Jahr 2006 kehrte der in Bremen geborene Türke zurück nach Deutschland.

Frank-Walter Steinmeier war von 1999 bis 2005 Kanzleramtschef und Geheimdienstkoordinator der rot-grünen Bundesregierung. Kurnaz wirft ihm vor, ein inoffizielles Angebot der Amerikaner, ihn schon im Jahr 2002 freizulassen, nicht angenommen zu haben. Steinmeier erklärte später im Rückblick: "Ich würde mich heute nicht anders entscheiden."

Wiederholt forderte Kurnaz eine Entschuldigung Steinmeiers. Nach dessen Wahl äußert sich der frühere Guantanamo-Häftling im Interview enttäuscht darüber, dass der künftige Bundespräsident sich dazu nicht durchringen konnte.

SPIEGEL ONLINE: Frank-Walter Steinmeier ist vergangenen Sonntag zum nächsten Bundespräsidenten gewählt worden. Wie stehen Sie zum künftigen Staatsoberhaupt?

Kurnaz: Sie werden sich denken können, ich sehe das aus leidvoller Erfahrung kritisch. Herr Steinmeier hat sich in meinem Fall kaltherzig und ignorant verhalten. Als ich die Hilfe der Bundesregierung dringend gebraucht hätte und die USA meine Entlassung anboten, hat er im Wissen um Folter und Entrechtung Hilfe verweigert und mich im Stich gelassen. Das ist kein gutes Zeugnis für einen Bundespräsidenten.

SPIEGEL ONLINE: Steinmeier hat klargemacht, dass er seine damalige Entscheidung wieder so treffen würde. Eine Entschuldigung ist also nicht zu erwarten. Würden Sie sich ein anderes Signal von ihm wünschen?

Kurnaz: Er hat nicht die Größe, seinen Fehler einzugestehen. Geradezu starrsinnig verteidigt er sein Fehlverhalten. Schlimm, dass er wieder so handeln würde. Fehlende Selbstkritik ist eine unter Politikern weit verbreitete Charaktereigenschaft. Ein Bundespräsident sollte sich da positiv absetzen. Natürlich hätte ich mir eine Geste der Entschuldigung und ein persönliches Aufeinanderzugehen gewünscht. Diese Chance hat Herr Steinmeier vertan.

SPIEGEL ONLINE: Wie geht es Ihnen heute? Arbeiten Sie, haben Sie eine Familie?

Kurnaz: Mir geht es, verglichen mit anderen Ex-Gefangenen, ziemlich gut. Ich habe eine tolle Familie, bin verheiratet, habe zwei kleine Kinder und habe eine interessante Arbeit, vor allem mit Flüchtlingen, die oft ebenso traumatische Erlebnisse hinter sich haben.

SPIEGEL ONLINE: Werden Sie oft auf Ihre Inhaftierung angesprochen?

Kurnaz: Häufig werde ich auf Guantanamo angesprochen, ich rede auch über alles ganz offen. Auch meine Kinder beginnen jetzt zu fragen. Ich erzähle auch aus meinen Erlebnissen auf Veranstaltungen von Amnesty International, zuletzt an der Uni Bielefeld, das Interesse war groß, 1500 Leute kamen. Das bin ich auch den in Guantanamo verbliebenen Gefangenen schuldig, öffentlich für die strikte Einhaltung der Menschenrechte einzutreten.

SPIEGEL ONLINE: Denken Sie oft an die Zeit in Guantanamo zurück?

Kurnaz: Natürlich denke ich immer wieder an Guantanamo zurück, diese Zeit hat mich ja auch geprägt. Aber glücklicherweise schlafe ich gut, mich verfolgen keine Albträume. Ich hoffe, das bleibt so.


Das Interview wurde schriftlich geführt. Die Fragen gingen Kurnaz über dessen Rechtsanwalt Bernhard Docke zu, auch die Antworten wurden von Docke übermittelt.