Zum Inhalt springen
Wolfgang Höbel

Die Lage am Abend Corona beendet diese Influencer-Saison

Wolfgang Höbel
Von Wolfgang Höbel, Autor im Kulturressort

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:

  1. Börsenhype um GameStop – Müssen sich Anlageprofis jetzt vor jungen Amateuren fürchten?

  2. Urteil gegen den Lübcke-Mörder – Kann die Justiz gewaltbereite Rechtsextreme abschrecken?

  3. Grenzschließungen wegen Corona – Was wird aus dem Traum vom globalen Dorf?

1. Der neue Spaß oft junger Menschen am Spekulieren mit Aktien sorgt für Wirbel an der Börse und könnte einige Hedgefonds viel Geld kosten

Es ist mehr als drei Jahrzehnte her, dass Michael Douglas im Film »Wall Street« in der Rolle des Börsenkönigs Gordon Gecko ein paar einprägsame Geldhai-Weisheiten in die Welt setzte wie »Gier ist richtig, Gier funktioniert« oder »Wenn du einen Freund brauchst, kauf dir einen Hund«. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Vorstellung vieler Menschen davon, was die Börsenmaklerinnen und Börsenmakler dieser Welt antreibt, seither erheblich geändert hat.

Die Beschäftigten der Wall Street, der Hedgefonds und der großen Banken finden es vielleicht ungerecht, dass sie in Filmen, Romanen und Theaterstücken gern als gierige Schurken dargestellt werden, aber möglicherweise sind einige von ihnen auch ein bisschen stolz drauf. Als Rebellion gegen »Hedgefonds-Dummheit und -Überheblichkeit« beschreiben mein Kollege Michael Brächer und meine Kollegin Janne Knödler den Versuch von offenbar großteils jungen Hobbyanlegern, mit Aktien von GameStop, einer US-Handelskette für elektronische Spiele, die Manager diverser Hedgefonds zu nerven oder sogar in den Ruin zu treiben .

Das Unternehmen schreibt seit Jahren rote Zahlen. Indem sie seit Anfang Januar Anteile kaufen, haben sie den GameStop-Börsenwert auf bis zu 24 Milliarden Dollar hochgetrieben. Für meine Kollegen ist es eine kleine Revolution, dass »rebellische Anleger mit wenig Bedenken und viel Lust auf Chaos« derart im Börsenbetrieb mitmischen. Offenbar sind viele der Aktienkäufer keine professionellen Trader, sondern Autodidakten, die ganz nebenbei ihr »verfügbares Einkommen«, meist eher kleine Summen, in Smartphone-Apps wie Robinhood oder TradeRepublic investieren. Das Feindbild der Amateuranleger sind Hedgefonds wie Melvin, kurz für Melvin Capital, die oft auf fallende Kurse angeschlagener Firmen setzen.

Insgesamt haben die Hedgefonds, die auf einen Kursverfall der GameStop-Aktien gesetzt hatten, nach Schätzungen bislang mehr als fünf Milliarden Euro im Verlauf der Börsenschlacht um GameStop verloren. Experten halten ein Eingreifen der Börsenaufsicht für möglich. »Eine neue Generation von Privatanlegern legt sich mit der Wall Street an und hat die Sympathien des Publikums auf ihrer Seite«, sagt Janne. »Mal sehen, wie lange das Spiel gut geht. Und wie lange die Aufseher dabei zuschauen.«

2. Das Urteil gegen den Mörder von Walter Lübcke ändert leider nichts an der Gefahr, die von deutschen Rechtsextremisten ausgeht

Unwillkürlich habe ich wie viele Menschen heute Erleichterung empfunden, als gemeldet wurde, dass die Richter des Oberlandesgerichts in Frankfurt am Main die Höchststrafe gegen den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verhängt haben. Das Gericht verurteilte Stephan Ernst wegen Mordes zu lebenslanger Haft und stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Der ebenfalls angeklagte Markus H. erhielt wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung.

Der Mord an Lübcke, der im Juni 2019 auf der Veranda vor seinem Wohnhaus in Wolfhagen-Ishta erschossen wurde, gilt als der erste rechtsextrem motivierte Mord an einem Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, bezeichnete das Urteil als »klares Zeichen gegen Rassismus und Rechtsextremismus«. Leider ist nicht zu erwarten, dass die Verurteilung des Täters eine abschreckende Wirkung auf gewaltbereite Rechtsextreme in Deutschland haben wird. »Die Nazis werden sich von diesem Urteil nicht beeindrucken lassen«, hat der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil meinem Kollegen Christian Teevs über das Urteil gesagt. »Die Höchststrafe für diesen feigen Mord an Walter Lübcke ist richtig und setzt ein klares Zeichen«, so Klingbeil, die Demokratie habe sich als wehrhaft erwiesen.

Meine Kollegin Julia Jüttner hat den Prozess in Frankfurt als Beobachterin im Gerichtsaal verfolgt. »Die Ermordung Walter Lübckes markiert eine Zäsur. Es war ein Anschlag gegen alle, die sich in einem freiheitlichen Staat für Geflüchtete einsetzen, und es zeigte, welche Gefahr von Rechtsextremisten ausgeht«, sagt Julia. »Seit den Anschlägen in Halle und Hanau steht fest: Sie sind die derzeit größte Bedrohung in der Republik.«

3. Viele Länder schränken wegen der Corona-Pandemie das Reisen ein – und schicken wie Indonesien auch Menschen nach Hause, die sich für globale Nomaden halten

Schon seit Monaten sind das Reisen in fremde Länder und der Aufenthalt dort immer mal wieder von Beschränkungen bedroht. Ich finde das wie viele andere Menschen zwar vernünftig, aber auch betrüblich. Heute hat die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson Deutschland vor »zu drastischen« Corona-Maßnahmen im Reiseverkehr gewarnt, weil die Bundesregierung Einreiseverbote für Länder mit einem starken Vorkommen der mutierten Coronavirusvarianten plant. Ohnehin hatten die EU-Staats- und Regierungschefs sich vergangene Woche bei einer Videokonferenz auf striktere Reisebeschränkungen zur Eindämmung der Pandemie verständigt.

Meine Kollegin Maria Stöhr hat einen amüsanten, aber auch bedrückenden Text darüber geschrieben, dass auch in fernen Ländern der Welt der lange geltende Traum vom globalen Dorf, in dem jeder Mensch sich fast überall zu Hause fühlen kann, ausgeträumt ist. »Abgeschoben aus dem Paradies« heißt ihr Bericht über zwei US-Amerikanerinnen, die sich auf der indonesischen Insel Bali als Social-Media-Stars aufspielten und gegen Corona-Auflagen verstießen. Sechs Millionen Reisende aus dem Ausland kamen im Jahr 2019 nach Bali, wegen der Corona-Pandemie darf aktuell niemand einreisen, um Urlaub zu machen. Die beiden amerikanischen Influencerinnen, die schon länger auf der Insel lebten, verklärten Bali dennoch auch in jüngster Zeit auf Kanälen wie Twitter zum idealen Rastplatz für »digital nomads«, eine Idylle für junge, technikaffine und spaßbegeisterte Menschen. Nun wurden die beiden Frauen abgeschoben. »Sie haben Regeln missachtet und sich mit den gesellschaftlichen Problemen in Indonesien, wie etwa der Diskriminierung von queeren Menschen, überhaupt nicht auseinandergesetzt«, sagt Maria.

Das zeuge von einer krassen Ignoranz nach dem Motto: Ja, Corona ist schlimm, aber mein Leben ist trotzdem geil. »Die Frauen haben sich in einer Parallelwelt am Strand eingemietet, die niedrigen Lebenshaltungskosten genossen und die Probleme auf der Insel ganz einfach ausgeblendet.«

(Sie möchten die »Lage am Abend« per Mail bequem in Ihren Posteingang bekommen? Hier bestellen Sie das tägliche Briefing als Newsletter.)

Podcast Cover

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Commerzbank streicht rund 10.000 Stellen – jede zweite Filiale muss schließen: Die Commerzbank reagiert auf die schwierige Lage mit einem drastischen Sparprogramm: Allein in Deutschland soll jeder dritte Arbeitsplatz abgebaut werden.

  • Staatsanwaltschaft will Strafbefehl gegen Metzelder-Bekannte: Ex-Fußballer Christoph Metzelder soll per WhatsApp »kinderpornografische« Bilder verschickt haben. Eine Bekannte brachte den Fall ins Rollen. Nun will die Staatsanwaltschaft die Frau belangen.

  • Razzia bei YouTuber nach Angriffen auf Onlineunterricht: Deutschlandweit greifen Unbekannte Online-Unterrichtssysteme an, stören den Unterricht mit Beleidigungen und teilweise sogar Pornos. In Bayern konnten Ermittler nun einen 21-jährigen mutmaßlichen Angreifer identifizieren.

Meine Lieblingsgeschichte heute: Wer Gutes tut, wird auch mal belohnt

Stur durch alle Stürme: Yannick Bestaven

Stur durch alle Stürme: Yannick Bestaven

Foto:

Loic Venance / AP

Ich gehöre zu den Menschen, denen schon beim Gedanken an Ausflüge aufs offene Meer der Angstschweiß ausbricht, egal ob als Schwimmer oder als Passagier auf einem Boot oder gar auf einem Kreuzfahrtschiff. Trotzdem habe ich hingerissen die Berichterstattung über die Vendée Globe verfolgt. Das Finale des Segelwettrennens war diesmal besonders dramatisch, unter anderem kollidierte der Deutsche Boris Herrmann mit seinem Boot kurz vor dem Zielhafen Les Sables-d’Olonne mit einem Fischtrawler, kam aber doch an. Mein Kollege Peter Ahrens porträtiert den Vendée-Globe-Sieger Yannick Bestaven und schwärmt über die Charaktereigenschaften, die dem Franzosen zu einem verdienten Triumph verhalfen: »Sturheit, Widerstandsfähigkeit – und Hilfsbereitschaft«.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Wie Guttenberg mit Wirecard um Millionen feilschte: Der frühere Verteidigungsminister redet seine Rolle als Lobbyist klein. Doch interne Unterlagen zeigen, wie selbstbewusst er über Geld verhandelte – und wie stark er in das Geschäft mit Wirecard eingebunden war .

  • Warum Verachtung mitunter hilft: Unser Kolumnist zeigt an Beispielen aus der Literatur, wie kraftvoll die deutsche Sprache sein kann. Folge 53: Rudolf Borchardt über unerwiderte Vaterlandsliebe .

  • Wenn gesunde Kinder schwer an Covid-19 erkranken: Die meisten Kinder stecken eine Infektion mit dem Coronavirus locker weg. Aber nicht alle. Vier Familien erzählen, was sie durchmachen .

Was heute nicht so wichtig ist

Kunst kommt von Kummer: Kristen Stewart als Prinzessin Diana

Kunst kommt von Kummer: Kristen Stewart als Prinzessin Diana

Foto:

Neon / Topic Studios / dpa

  • Royaler Rehblick: Kristen Stewart, 30, zeigt sich in der Rolle der britischen Prinzessin Diana geradezu streberhaft wandlungsfähig und posiert mit leicht geneigtem Haupt und scheuem Blick. Entstanden ist das Bild am Drehort des Films »Spencer« – so lautete Dianas Mädchenname –, den der chilenische Regisseur Pablo Larraín inszeniert. Der Film schildert ein Weihnachtswochenende auf dem königlichen Landsitz Sandringham Anfang der Neunzigerjahre, als Diana den Beschluss fasste, sich von ihrem Gatten Prince Charles zu trennen. Die Schauspielerin Stewart fand ich zuletzt hinreißend in ihrer Titelrolle im Film »Jean Seberg – Against all Enemies«, in der sie die Titelrolle spielte – und eine wirklich großartige rebellische Heldin der Sechzigerjahre.

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Offenbar muss der immer noch nicht im Knio angelaufene Film ›No Time to Die‹ (deutscher Titel: ›Keine Zeit zu sterben‹) mit Neuaufnahmen aufgefrischt werden.«

Cartoon des Tages: BER

Foto: Klaus Stuttmann

Und heute Abend?

Könnten Sie anfangen, Dmitrij Kapitelmans neues Buch zu lesen. Selten habe ich von Kolleginnen und Kollegen so viel Schwärmerei zu hören bekommen wie über das autobiografische Werk »Eine Formalie in Kiew«.

Der Schriftsteller Kapitelman ist 1986 in Kiew geboren und kam als sogenannter jüdischer Kontingentflüchtling im Alter von acht Jahren nach Deutschland, wo er eingeschult und sozialisiert wurde und studierte. Sein Buch handelt unter anderem davon, wie er, um endlich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen zu können, auf Geheiß der Leipziger Ausländerbehörde nach Kiew reist. Es fehlt ein Dokument, das ein anderes Dokument beglaubigt. Schon das klingt sehr komisch.

»Kapitelman hat ein zärtliches Buch geschrieben«, sagt mein Kollege Tobias Becker, »zärtlich seinem alten Land gegenüber und seinem neuen, seinem Papa und seiner Mama. Ein Buch mit zärtlichem Humor vor allem, jeder Witz ist eine Liebkosung.« (Hier finden Sie die ganze Rezension.)

Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel

Hier können Sie die »Lage am Abend« per Mail bestellen.

Abonnieren bei

Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.