Psychologie Wie Komplexe unsere Gefühlswelt durcheinanderbringen
Bei manchen ist es die Kritik vom Chef, die sie den Rest des Tages aus der Fassung bringt. Andere erstarren vor dem Spiegel, weil sie sich zu dick oder zu dünn fühlen. Und wie viele Freundschaften sind wohl schon wegen Kleinigkeiten zerbrochen? All diese Probleme können mit unseren Komplexen zu tun haben, denn ja: Wir alle haben Komplexe.
"Das sind letztendlich Schubladen in unserer Psyche", erklärt Therapeut und Heilpraktiker Daniel Reinemer im Podcast. "Und auf diesen Schubladen stehen Überschriften, wie zum Beispiel Mutter, Vater, Geld oder Wert. Und in diesen Schubladen werden Ereignisse abgelegt, die man zu diesem Thema erlebt hat."
Komplexe sind also erst mal etwas ganz Normales. Und in diesen "Schubladen" landen nicht nur negative, sondern auch positive Erfahrungen zum jeweiligen Thema. Problematisch wird es, wenn sich die Komplexe zu stark herausbilden. Anzeichen dafür können dann übersteigerte, emotionale Reaktionen sein. "Wenn Komplexe ins Leben kommen, dann haben die etwas sehr energisch Akutes. Wenn man fünf Minuten später darüber nachdenkt, denkt man: Ach, das war jetzt halt so, aber war ja nicht schlimm."
Daniel Reinemer: "Jeder Mensch hat Komplexe"
Foto:Daniel Reinemer
Gut, wenn der Ärger schnell verfliegt. Aber viele Menschen sind sich auch deshalb ihres komplexhaften Verhaltens nicht wirklich bewusst. Um das zu verdeutlichen, nutzt Reinemer einen Vergleich: "Wenn jemand von Komplexen geleitet ist, das ist, als ob er eine farbige Brille aufhat - zum Beispiel eine blaue. Und durch die sieht er die Welt, also durch so einen Blaustich. Dieser Mensch weiß aber nicht, dass er diese Brille aufhat, und das ist das Entscheidende. Er denkt, die Welt ist so, wie er sie sieht. Und das ist eben das Gefährliche am Komplex."
Reinemer plädiert deshalb dafür, Probleme im Alltag nicht einfach nur zu lösen, sondern den Blick auch häufiger auf sich selbst zu richten und zu fragen: Was steckt eigentlich dahinter? "Wenn man das nicht versteht, kann zum Beispiel die Zahnpastatube zu einem Riesenkonflikt werden und in Beziehungen zu Trennungen führen."
Was hilft mir, mit meinen Komplexen besser klarzukommen? Welche Komplexe sind besonders verbreitet? Und können auch ganze Gesellschaften einen kollektiven Minderwertigkeitskomplex entwickeln? Auf diese und weitere Fragen antwortet Daniel Reinemer im Ideen-Podcast "Smarter leben".
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Der ganze Podcast zum Lesen
[00:00:02] Daniel Reinemer Jeder hat Komplexe - und damit meine ich natürlich nicht jeder hat Komplexe im Ausmaß, die einem belasten. Aber wir alle haben diese Ordnerstrukturen in uns.
[00:00:15] Lenne Kaffka Ideen für ein besseres Leben haben wir alle, aber wie setzen wir sie im Alltag um? In diesem Podcast treffen wir jede Woche Menschen, die uns verraten, wie es klappen kann. Willkommen zu Smarter leben. Ich bin Lenne Kaffka und heute skype ich mit Daniel.
[00:00:33] Daniel Reinemer Hallo, mein Name ist Daniel Reinemer. Ich bin Therapeut aus München und habe ein Buch über Komplexe geschrieben.
[00:00:38] Lenne Kaffka Es gibt Situationen, die können einen unfassbar wütend machen oder ganz plötzlich verunsichern. Bei manchen ist es die Kritik vom Chef, die sie den Rest des Tages aus der Fassung bringt, andere erstarren vor dem Spiegel, weil sie sich zu dick oder zu dünn fühlen. Und wie viele Paare haben sich wohl schon wegen alltäglichen Kleinigkeiten getrennt? All diese Situationen können mit unseren Komplexen zu tun haben. Auch Daniel hat welche – aber vor allem beschäftigt er sich beruflich mit Komplexen. Er spricht und schreibt darüber und natürlich hat er auch als Therapeut regelmäßig mit dem Thema zu tun. Deshalb glaubt er, wir sollten nicht immer nur versuchen, unsere Probleme zu lösen, sondern uns häufiger mal fragen: Was steckt eigentlich dahinter?
[00:01:18] Daniel, wir kennen ja alle irgendwie diesen Ausspruch: "Der hat doch Komplexe" oder auch "Ey, du hast Komplexe..." Ehrlich gesagt, habe ich ganz selten in meinem Leben gehört, dass jemand gesagt hat: "Ich habe Komplexe". Was glaubst du, woran das liegen kann?
[00:01:31] Daniel Reinemer Ja, das stimmt. Das ist tatsächlich so. Es liegt natürlich sehr stark daran, dass wir gelernt haben, eher andere eigentlich verantwortlich zu machen für unser Leben, für unser Sein, vielleicht auch – könnte man sagen, in Anführungszeichen – schuldig zu machen und weniger zu fragen: "Was hab ich eigentlich mit der Situation zu tun?" Und so ist es meistens viel, viel leichter zu sagen: "Du hast doch Komplexe" oder "du bist doch schuld", als zu sagen: "Moment mal, eigentlich trifft mich das ja gerade, dein Verhalten."
[00:02:00] Lenne Kaffka Du hast in dem Buch geschrieben, dass du dafür sorgen willst, dass du dem Begriff so ein bisschen die negative Strahlkraft nehmen willst. Warum ist dir das so wichtig, das zu ändern?
[00:02:09] Daniel Reinemer Es ist mir tatsächlich wichtig. Mir war das gar nicht so klar, dass das so negativ konnotiert ist, weil im therapeutischen Blick auf Komplexe ist das was sehr Neutrales erst mal. Aber ich habe dann gemerkt, in Vorträgen über das Thema Komplexe, weil es ein Grundlagenthema eigentlich ist, dass die Menschen sehr stark damit reagieren zu sagen: "Aber das ist doch negativ, das ist doch schlimm und schwierig". Da habe ich gemerkt: Moment mal, das stimmt erst mal gar nicht, weil erst mal ist es ein sehr wertfreie Begriff.
[00:02:37] Lenne Kaffka Also, wenn man vom Adjektiv herdenkt, ja, auch teilweise ein positiver Begriff. Wenn jemand komplexe Gedanken hat oder so. Dann würde man ja sagen, der ist intelligent, vielschichtig.
[00:02:46] Daniel Reinemer Total, komplex ist ja erst mal was ganz Spannendes. Es ist ja auch interessant. Als ich dann angefangen habe, mich noch intensiver damit zu beschäftigen, auch für das Buch, habe ich gemerkt, wenn man komplex als solches eingibt, kommt erst mal kaum was Psychologisches, sondern meistens irgendwas aus der Mathematik oder aus der Physik, wo es um komplexe Zusammenhänge geht. Und eigentlich ist es ja eher ein positiver Wert, wenn man es so nennt.
[00:03:10] Lenne Kaffka Bist du denn durch deinen Beruf zum Thema Komplexe gekommen? Oder war das auch schon für dich ein Thema in deinem Leben?
[00:03:16] Daniel Reinemer Also, ich bin bestimmt durch meinen Beruf auf das Thema Komplexe gekommen, im Sinne von dem Wort Komplexe. Aber natürlich habe ich danach in meiner Ausbildung und in meiner Lehr-Analyse, die wir tun mussten, um diesen Beruf machen zu dürfen, darauf gekommen zu sagen: "Ach stopp mal, das könnte ja ein Komplex gewesen sein, der mich da früher bewegt hat, der mich vielleicht emotional getriggert hat."
[00:03:42] Lenne Kaffka Vielleicht müssen wir an dem Punkt auch einfach mal sagen: Was genau sind denn jetzt Komplexe aus psychologischer Sicht? Du hast schon gesagt, wenn man das googelt, dann findet man erst mal gar nicht so viel Psychologisches dazu. Worüber reden wir jetzt heute?
[00:03:52] Daniel Reinemer Komplexe, letztendlich, kann man sich gut vorstellen als Schubladen in uns, in unserer Psyche und auf diesen Schubladen stehen Überschriften, wie zum Beispiel "Mutter" oder "Vater" oder "Geld" oder "Wert" oder "Sexualität". Und in diesen Schubladen werden Ereignisse, die man zu diesem Thema erlebt hat, abgelegt. Das heißt vorher, was ich meinte, es ist relativ wertneutral – es wird einfach Positives wie Negatives zu diesem Thema abgelegt. Und jetzt wird vielleicht auch klarer, warum komplex? Weil es eine Masse von Ereignissen und Erfahrungen ist, die alle da hineinkommen. Das heißt, Erlebnisse und Erfahrungen, die man mit der Mutter gemacht hat, kommen in die "Mutter-Schublade" und die mit dem Vater in die "Vater-Schublade". Und so kann man sich vielleicht leicht vorstellen – je länger wir leben, umso mehr Erfahrungen kommen in die jeweiligen Strukturen oder Komplexe, so wie man es möchte.
[00:04:53] Lenne Kaffka Das heißt, diese Komplexe sind in jedem Menschen von uns angelegt, richtig?
[00:04:56] Daniel Reinemer Genau, das ist ja die These, die ich sozusagen in diesem Buch auch habe zu sagen: Jeder hat Komplexe. Und damit meine ich natürlich nicht, jeder hat Komplexe im Ausmaß, die einen belasten. Aber wir alle haben diese Ordnerstruktur in uns und haben diese Ablage.
[00:05:12] Lenne Kaffka Du hast gerade von Überschriften auf den Schubladen gesprochen. "Mutter", "Vater" – das sind ja auch durchaus Begriffe, die jeder kennt: Mutterkomplex, Vaterkomplex. Das heißt, die müssen per se gar nichts Negatives sein, sondern sie können auch positiv aufgeladen sein.
[00:05:25] Daniel Reinemer Total. Die Frage ist natürlich nur, wie stark sie aufgeladen sind, also auch, wie stark positiv sie aufgeladen sind. Das ist erst mal manchmal ein bisschen schwierig zu verstehen. Aber auch ein zu positiver Komplex kann mich behindern in meinem Leben.
[00:05:41] Lenne Kaffka Hast du da ein Beispiel dafür?
[00:05:41] Daniel Reinemer Ich kann gern auch von mir eins nennen. Das ist nämlich natürlich der zweite Teil, wie ich auch zu Komplexen kam, so zu merken: "Stopp mal, das war ja vielleicht ein Komplex". Ich hatte das Glück, sehr wohlwollend und behütet aufzuwachsen. Meine Eltern haben mich nicht gesehen als, der ist der Größte der Welt, aber es ging vielleicht ein bisschen in diese Richtung. Alles, was ich machte, war gut, und ich habe das gut gemacht. Und es hat mir natürlich wahnsinnig viel Kraft in meinem Leben gegeben. Das merke ich immer noch. Dennoch hatte es natürlich seine Schattenseiten. Und ich habe das als Kind gemerkt in der Schule, im Fußballverein, in anderen sportlichen Aktivitäten, dass ich sehr, sehr häufig mit Autoritäten zusammen gerauscht bin, so weit, dass es mich erstens natürlich enorm getroffen hat und ich dann auch den Fußballtrainer irgendwie gesagt habe: "Hier, du hast doch eh keine Ahnung", und bin gegangen. Und dass ich das auch in der Schule immer wieder erlebt habe und auch später im Studium noch, bis ich irgendwann verstanden habe: "Moment mal, worum gehts denn hier eigentlich?" Und natürlich geht es darum, wenn man als Kind nie erfährt, dass es auch Kritik gibt, dass es auch Schwieriges gibt oder Scheitern, was auch gefördert wird, lebt man ein bisschen in einer Blase. Und das ist natürlich schöner als andersherum, weil natürlich: Es gibt auch sehr viele Menschen, die mit Kritik auch nicht umgehen können, weil sie immer nur beschimpft wurden zu Hause, weil es immer nur eine negative Erfahrung gab. Aber ich will damit schon zeigen, auch eine zu positive Ausrichtung kann es mir schwer.
[00:07:07] Lenne Kaffka Okay, wenn wir umgangssprachlich von Komplexen reden, dann ist es ja immer in dem Sinne eigentlich gemeint, dass es irgendwas ist, was uns aber belastet. Heißt es dann, dass es einfach gar nicht unbedingt eine negative Form des Komplexes sein muss, sondern dass es einfach irgendwie eine übersteigerte Form ist? Dass sich da einfach, egal in welche Richtung etwas zu sehr herausgebildet hat?
[00:07:26] Daniel Reinemer Genau, letztendlich sagst du es gut mit übersteigert, weil das ist auch meine Erfahrungen, die ich hier mit den Menschen mache und die ich selber auch kenne in solchen Momenten. Ich glaube, jeder kennt das – und das ist das Spannende beim Komplex: Von jetzt auf gleich verändert sich alles, und es kommt eine Reaktion, die man so nicht verstehen kann. Das heißt, die Psyche in dem Moment übertreibt auf einen Reiz, der von außen kommt, was auch immer das jetzt erst mal ist. Und diese Übersteigerung lässt es uns schwerfallen, normal wieder in dieser Situation umzugehen.
[00:07:55] Lenne Kaffka Jetzt hast du ja schon ganz schön von dir erzählt. Wie ist das denn typischerweise, dass sich diese Übersteigerung herausbildet? Ist das immer ein längerer Prozess, weil du hast jetzt so von deiner ganzen Kindheit, ja im Grunde als Ganzes gesprochen? Oder kann das auch durch einzelne traumatische Erlebnisse passieren?
[00:08:09] Daniel Reinemer Es kann sicher auch durch einzelne Erlebnisse passieren, die dann, wie du sagst, traumatisch, also größer sind, größer als die Norm. Die Regel ist aber schon, dass ein Komplex sich formt mit der Zeit, dass Erfahrungen und Erlebnisse da hineinwandern und den sehr stark prägen. Da sprechen wir auch vielleicht von den ersten Lebensjahren, wo meistens ja schon spürbar wird in Familien, dass eine bestimmte Richtung eingeschlagen wird. Und dann reichen auch die ersten fünf, sechs, sieben Jahre dazu aus, um einen Komplex vielleicht auszuprägen oder größer zu machen.
[00:08:41] Lenne Kaffka Ist es denn immer so, dass sie sich schon in der Kindheit ausprägen, oder wäre es auch denkbar, dass das noch im Erwachsenenalter passiert? Also zum Beispiel, wenn ich im Job immer wieder einschneidende Erlebnisse habe? Beziehungsweise, es kann natürlich auch sein, dass ich das dann als einschneidende werte, weil es mit meiner Kindheit zusammenhängt...
[00:08:54] Daniel Reinemer Ja, das ist das Interessante. Erst mal würde ich sagen, ja, natürlich kann es sich auch später auswirken. Es ist nur interessant, dass, wenn zum Beispiel ein Mensch irgendwann merkt, wie du sagst, in seinem Job wird es immer schwieriger, weil er immer ähnliche Erlebnisse hat, dann ist ja die Frage: Welche Anlage hat er als Kind, und warum kann er damit nicht anders umgehen? Also warum hat er einen gewissen Blick auf die Dinge? Ich nenne es auch ganz gern so, oder ich kann es mir gut vorstellen, dass, wenn jemand ein bisschen von einem Komplex gesteuert ist, dass er wie eine Brille auf hat, mit einer Farbe, zum Beispiel eine blaue Brille. Und durch die sieht er die Welt, das heißt durch so ein Blaustich. Und dieser Mensch weiß aber nicht, dass er diese Brille auf hat – das ist das Entscheidende. Das heißt, er denkt, die Welt ist so, wie er sie sieht, und das ist eben, würde ich sagen, das Gefährliche am Komplex, dass wenn der übersteigt, dann gibt er mir vor, wie scheinbar die Welt ist. Und in sehr starken Ausprägungen sind es Menschen, die wirklich kaum mehr lebensfähig sind, weil sie merken, in jeder Geste des anderen wird etwas gesehen, was gegen einen ist zum Beispiel. Das heißt die Aufgabe, die ich erlebe, mit den Menschen, wenn es um Komplexe geht, ist, wie kann man Ihnen helfen, diese Brille abzusetzen? Und wie können sie sehen: "Moment mal, es ist ja gar nicht alles blau. Es gibt zwar blaue Momente, aber es gibt auch gelbe und grüne, und die Welt sieht eigentlich ein Stück anders aus."
[00:10:18] Lenne Kaffka Du hast jetzt gesagt, man kriegt das oft gar nicht mit. Aber es gibt ja schon auch so total offensichtliche Dinge, gerade bei Äußerlichkeiten. Ich hasse das zum Beispiel, mich in Videos sprechen zu sehen, ich kriege da immer eine Krise. Oder wenn ich vor dem Spiegel stehe, dann gucke ich direkt Richtung Stirn, ob die Haare wieder weniger geworden sind. Und so etwas lässt sich ja total leicht bei einem selbst bemerken. Und wenn ich dann ehrlich zu mir bin, weiß ich schon, okay, so schlimm kann das jetzt wahrscheinlich nicht sein. Wie ist denn das bei unseren Komplexen, sind die meisten so offensichtlich oder sind doch viel mehr verborgen und uns vielleicht unbewusst?
[00:10:47] Daniel Reinemer Ich würde sagen, es ist schon beides. Ich finde, dass ist gar nicht so oberflächlich, zu sagen, ich schaue mich nochmal vorher kurz im Spiegel an, ob die Haare passen oder ob sie nicht ein bisschen weniger werden. Das kenne ich auch. Die Frage ist ja immer nur, wie, auch wieder da, übersteigernd ist es? Also, musst du jetzt neben dir gerade einen Spiegel haben, um dauernd abzugleichen, passt es noch und stimmt es noch, weil dann würdest du gar nicht mehr in der Situation sein können, sondern bist eigentlich nur noch gefangen letztendlich und gar nicht so bewusst, wie du denkst. Du hast zwar das Gefühl, du bist bewusst, weil du weißt, da habe ich einen Makel. Aber was er mit dir macht, ist vielleicht nicht so bewusst.
[00:11:25] Lenne Kaffka Okay, das heißt, das ist immer der Punkt, wo man dann vielleicht auch sich intensiver damit beschäftigen sollte, wenn das eigene Handeln schon unglaublich fremdbestimmt ist, vielleicht auch einfach gestört ist, dass man nicht mehr klar denken kann?
[00:11:35] Daniel Reinemer Ja, gut, das sowieso. Aber vielleicht ja auch schon ein Stück vorher. Es schadet ja niemanden, wenn ich das darf, einfach mal aufzunehmen?
[00:11:41] Lenne Kaffka ja, klar, gern.
[00:11:43] Daniel Reinemer Um dir nicht nur bewusst zu machen, zu sagen: "Moment mal, ein Haar weniger da", sondern was würde es machen, wenn es weniger wär? Wie würde es dir gehen, wenn es anderen auffällt? Und manchmal ist man dann sehr schnell bei so Fragen wie: "Bin ich dann noch geliebt, bin ich geschätzt, bin ich gesehen? Und dann ist man natürlich ganz woanders. Und es scheint auch im übrigen gar nicht so sinnvoll zu sein, sich immer nur an den anderen zu orientieren, was einen selbst angeht. Da gibt es auch eine ganz spannende Studie, wo Studenten untersucht wurden. Bei Studenten weiß man, das ist eine relativ empfindliche Gruppe im Bezug auf, wie sehen mich andere. Was wurde in dieser Studie untersucht? Ich glaube, 20 Studenten haben ein extrem peinliches T-Shirt angezogen bekommen und mussten sich in eine Vorlesung setzen, ich glaube, mit 300 oder 400 Menschen, also Studenten, und wurden kurz am Ende vor der Vorlesung wieder rausgenommen und befragt, wie es ihnen ging. Den meisten ging es enorm schlecht, die sagten: "Ich will da gar nie wieder hin" und "was die anderen jetzt alle von mir denken" und "die haben mich jetzt einmal so gesehen und jetzt hab ich den größten Stempel, den es überhaupt gibt". Und am Ende der Vorlesung wurden alle befragt, die aber natürlich nicht wussten, dass sie gerade an einer Studie teilnehmen. Und zirka nur zehn Prozent von allen haben überhaupt mitbekommen, dass die so ein peinliches T-Shirt anhatten. Das heißt, 90 Prozent fallen schon mal komplett raus. Und ich glaube, ich habe es nicht mehr ganz im Kopf, aber von diesen zehn Prozent waren vielleicht zwei oder drei dabei, die sich dachten: "Die sind ja echt komisch! Was tragen denn die für T-Shirts?" Das heißt, wenn wir uns überlegen, dass wir so ein großes Thema um alle anderen machen und eigentlich am Ende kriegen es nur zwei bis drei Prozent mit, wäre es eigentlich schlauer zu sagen: "Okay, vielleicht muss ich mich nicht immer ganz so ernst nehmen", im Sinne von sitzen, jetzt bei uns beiden, zum Beispiel die Haare immer perfekt, weil vermutlich 95 Prozent des überhaupt nicht realisieren, sondern in ihrer eigenen Welt sind.
[00:13:35] Lenne Kaffka Also es lohnt nicht immer nur auf die Geheimratsecken zu gucken, weil die andern gucken vielleicht auch die Augen, auf den Mund.
[00:13:39] Daniel Reinemer Ja, genau. Und vielleicht ist es sogar bisschen anders: Wenn wir dauernd nur auf unsere Geheimratsecken zeigen, im Sinne von: "Schau doch, das ist doch peinlich gerade, oder?", dann wird es ein bisschen komisch. Und das ist aber das, was wieder im Komplex passiert. Je größer der wird, umso mehr laufen wir damit rum, und dadurch wird es eigentlich erst auffällig. Aber wenn wir einfach mit uns sind und sagen: "Okay, ich hab das zwar, aber es ist okay, und wahrscheinlich fällt es den anderen auch nicht so auf", können wir ein bisschen entspannter mit uns umgehen.
[00:14:05] Lenne Kaffka In deinem Buch empfiehlst du ja so eine Art Dreisatz, um sich den Komplexen anzunähern und mit ihnen besser klarzukommen: erkennen, verstehen, integrieren. Das klingt simpel, aber auch ein Stück weit unkonkret. Was bedeutet das jetzt ganz genau im Alltag? Gibt es da Fragen, die ich mir stellen könnte? Oder wie gehe ich vor?
[00:14:22] Daniel Reinemer Das gibt's auf jeden Fall, und es klingt vielleicht sogar auch einfacher, als es ist. Wir haben auch lange überlegt, weil dieser letzte Punkt des Integrierens, der ist ja ein bisschen seltsam für die meisten. Eigentlich würde man ja eher den Dreisatz haben: Ich will es erkennen, dann will ich es verstehen
[00:14:38] Lenne Kaffka Und dann lösen?
[00:14:39] Daniel Reinemer Genau, und dann will ich es lösen. Es geht weniger um lösen, als zu sagen: Okay, ich muss ein Stück weit vielleicht auch zu mir stehen und zu dem, was es macht. Aber jetzt fangen wir mal vorne an: Erkennen ist der Anfang und erkennen würde ein Stück weit bedeuten, kann ich diese Brille abnehmen? Also, kann ich aufhören zu sagen: "Das ist doch Quatsch, dass ich mir Sorgen mache, dass meine Haare ausfallen, weil anderen geht es auch so", sondern zu sagen: "Moment mal! Was bedeutet das denn? Was löst es in mir aus?" Und das heißt, das ist tatsächlich schon eine Art von Erkennen. Um dann aber zu sagen, im nächsten Schritt, im Verstehen: "Was passiert da in mir? Was löst das für Sorgen aus? Was löst das für Ängste aus? Was passiert in mir emotional?" Um dann im nächsten Schritt dann, in dem Integrieren-Schritt oder in dem sich damit Auseinandersetzen – vielleicht könnte man es auch so nennen – zu sagen: "Okay, was brauche ich, um mit der Angst umzugehen?"
[00:15:35] Lenne Kaffka Die Haare sind ja auch eigentlich ein ganz gutes Beispiel, weil es gibt da nicht so eine gute Lösung für. Man muss es integrieren in den Alltag, wenn sie weniger werden. Was ich mich frage, ist bei dem Erkennen und vielleicht auch Verstehen: Wie ehrlich kann man denn wirklich zu sich selbst sein – gerade, wenn es um Themen wie ein Minderwertigkeitskomplex geht? Ist es überhaupt möglich, sich das ehrlich selbst zu beantworten?
[00:15:55] Daniel Reinemer Ich denke, es kommt auf die Ausprägung an, also auf die Ausprägung, wie stark dieser Komplex das Leben steuert. Und ab einem gewissen Punkt, würde ich sagen, wird es schwierig, das alleine zu tun. Und in einer gemeinsamen Auseinandersetzung ist es sehr gut möglich und denkbar, weil es dann wirklich in die Tiefe gehen soll. Da ist das Erkennen nicht mehr die Schwierigkeit, weil diese Menschen wissen, ich kann nicht mehr sprechen vor anderen, ich traue mich nicht mehr raus, ich fühl bei jedem Blick in der U-Bahn, dass ich merke, der findet mich jetzt komisch, einfach nur, weil ich da sitze – das merken diese Menschen, die brauchen es nicht mehr zu erkennen. Und dennoch ist es für so viele wichtig dann zu verstehen, woher kommt es denn? Was ist da passiert? Und wenn sie verstehen, was ist vielleicht auch in der Kindheit passiert? Welche Voraussetzungen hatte ich? Dann hat man ganz konkrete Möglichkeiten einzugreifen. Das heißt, dann kann man mit den Menschen wirklich an Strategien arbeiten, was hat dir gefehlt? Und wie kannst du es dir jetzt holen und geben? Die Schwierigkeit, den diese Menschen haben, gerade beim Minderwertigkeitskomplex zum Beispiel oder auch in der Eifersucht, dass man so gut wie immer die anderen dafür verantwortlich macht. Das heißt: "Der andere schaut so komisch, und deswegen geht es mir schlecht" oder "mein Freund, der achtet ja nicht auf mich. Der hat bestimmt eine andere". Darum geht es in erster Linie auch im Verstehen und vielleicht auch im Erkennen, dass man dann zu sich sagt: "Moment mal, was hat das jetzt mit mir zu tun? Und wahrscheinlich überhaupt nichts mit den anderen".
[00:17:24] Lenne Kaffka Man braucht dann aber auch schon einen echt guten Blick auf sich selbst, um in bestimmten Situationen zu realisieren, dass man vielleicht besonders reagiert. Typischerweise erkennt man Komplexe ja daran, dass man irgendwie impulsiv oder vielleicht auch für andere unverständlich reagiert. Was wären denn noch so Verhaltensweisen, bei denen man mal genauer hinschauen sollte?
[00:17:43] Daniel Reinemer Ja, da hast du schon eigentlich die mit wahrscheinlich zwei wichtigsten gesagt. Also tatsächlich übersteigert emotional. Man merkt es aber auch an einer Art getroffen sein. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen komisch. Also getroffen sein, wie wirklich so ein Stich, den man bekommt und wo man so spürt, jetzt ist es anders als vor einer Sekunde. Komplexe, wenn die so ins Leben kommen, dann haben die so etwas sehr Energisch-Akutes. Es ist weniger was Schleichendes, sondern es ist schon sehr, sehr stark. Und da sprechen wir jetzt aber nicht von Menschen, die einfach in ihrem Komplex leben. Das ist vielleicht noch mal was anderes, weil die haben so eine Ebene, wo es einfach nur noch diese Brille gibt, aber bei den anderen ist wie von jetzt auf gleich die Welt anders. Das Komische, und das ist das, warum viele Menschen da eben nicht eigentlich hingucken, ist, das so schnell dieser Komplex kommt, so schnell geht er auch wieder weg. Dieser Blick, den du vielleicht in der Früh im Spiegel hast und so ganz kurzen Stich bekommst – das sage ich jetzt einfach über dich, du hast ja nicht gesagt...
[00:18:41] Lenne Kaffka Aber du hast das Problem ja auch... [lacht]
[00:18:42] Daniel Reinemer Und ich habe das auch [lacht], so wenn ich so merke: "Moment mal, wie muss ich die Haare heute legen, damit man es nicht so stark sieht?" So schnell geht es aber auch wieder weg. Und das ist das, was für die meisten so schwierig ist ihren Komplex zu fassen, weil es so nichtig wird, weil, wenn man fünf Minuten später darüber nachdenkt, denkt man sich: "Ach, das war ja irgendwie... Ja, das war halt jetzt gerade so. Aber war ja nicht schlimm." Ähnlich wie ein Traum, den man hat, der total stark ist und wo man sich denkt: "Den muss ich jetzt nicht aufschreiben, den vergesse ich nicht." Und man geht in die Dusche, und man kriegt überhaupt nichts mehr davon zusammen. Genauso ist es mit den Komplexen auch. Die kommen aus dem unbewussten Raum und entziehen sich auch wieder sehr schnell. Und das ist die Chance, die wir eigentlich haben, das merke ich auch mit meinen Klienten hier, dass ich dann eben, wenn ein Klient zum Beispiel mir davon erzählt, er hat sich mit seinem Chef gestritten und konnte danach aber fünf Stunden nicht mehr arbeiten. Dann könnte ich ihm jetzt auch sagen Oh ja, stimmt der Chef. Der ist ja auch echt schwierig, und das war auch nicht fair, dass er das so gemacht hat. Es würde dem aber nichts bringen. Aber wenn wir sagen: "Okay, was war denn schwierig? Was war dann die Emotionen danach? Wie ging es dir? Was ging in dir los danach?", dann können wir diesen Ausbruch – so nenne ich es dann gerne – nutzen. Und dadurch erkennen wir viel mehr. Und dann können wir wieder verstehen, und dann können wir es wieder integrieren. Es geht wirklich um eine sehr aktive Auseinandersetzung. Und natürlich ist es ein bisschen unangenehm.
[00:20:06] Lenne Kaffka Du hast jetzt eben einen Streit mit dem Chef angesprochen. Ist es denn so, dass hinter Streitereien fast immer Komplexe stecken?
[00:20:12] Daniel Reinemer Ich vermute schon sehr häufig, ja. Weil was passiert im Streit? Im Streit passiert ja meistens ein aus irgendeiner Überzeugung heraus verletzt sein oder nicht gesehen werden oder enttäuscht sein vom anderen oder von sich. Und meistens würde ich das schon auch auf komplexhaftes Verhalten zurückführen.
[00:20:32] Lenne Kaffka Gerade in Beziehungen gibt es ja so ein paar Klassiker, wenn es ums Aufräumen geht, wenn es um die Zahnpastatube geht, ums gegenseitige Zuhören beim Abendbrot. Was sind denn so typische Komplexe, die Beziehungen belasten?
[00:20:44] Daniel Reinemer Letztendlich geht es ja häufig um ein nicht gesehen werden, also um eigentlich den Wertkomplex. Das heißt, ich erwarte von meinem Partner, von meiner Partnerin, dass sie mich sieht, dass sie mich liebt, und zwar in jeder Situation. Und wenn ich aber damit ein Thema habe in mir, also zum Beispiel von meiner Familie nicht gelernt habe oder nicht gesehen habe, dass ich wertgeschätzt werde, dann werde ich in jeder Aktion meiner Partnerin versuchen zu sehen: Liebt die mich gerade, oder liebt die mich nicht? Sieht die mich gerade? Und dann kann eben diese Zahnpastatube zu einem Riesenkonflikt werden und zu Trennungen führen, wenn man nicht versteht, was eigentlich dahinter liegt.
[00:21:26] Lenne Kaffka Wie geht man dann als Paar am besten mit so einer akuten Stresssituation um?
[00:21:29] Daniel Reinemer Am besten wäre es natürlich, darüber zu sprechen. Und die Frage ist, wer macht es? Ich kenne das ganz gut auch irgendwie mit meiner Frau. Ich schreibe es zwar ganz schlau, dass man dann Codewörter haben kann, und dann sagt man die und dann hört es auf, und dann wird es ganz romantisch und es hilft. Aber nein, meistens muss man sich, denke ich, sehr klar sein, dass ein Streit oder eine übersteigerte Reaktion der schwerste Moment überhaupt ist, den man hat, um an seinen Komplexen zu arbeiten. Das heißt, die Hauptchance, die wir haben, liegt eigentlich davor und danach. Wenn sich ein Paar – ich erlebe das auch hier mit Paaren, die hier sind – auch wieder ein Stück abgekühlt hat, wenn jeder dem anderen erst einen Kopf geworfen hat, was er an den Kopf werfen wollte, dann aber zu sagen: "Jetzt setzen wir uns zusammen. Und jetzt sprechen wir darüber. Was ist eigentlich passiert?" Es gibt natürlich diese Technik von man macht zusammen ein Wort aus, und das sagt man im Streit dem anderen. Und dann beendet sich der Streit, und das klappt tatsächlich auch. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, tatsächlich persönlich, aber auch hier mit den Menschen, dass es viel, viel effektiver und sinnvoller ist, man setzt sich danach in Ruhe zusammen und hat aber vorher auch ausgemacht, dass man sich zusammensetzt. Das ist schon ganz wichtig, weil sonst geht es wieder los. Das kennen die meisten auch. Die sagen, wenn sie dann hier sitzen: "Ja, hier ist immer so einfach, weil wir zu dritt sind. Zu Hause wollen wir dann drüber sprechen, und dann fangen wir wieder an zu streiten." Das heißt, solange ein Paar nicht gelernt hat zu verstehen, der andere will mir ja nichts und, wenn ich ehrlich bin, der andere ist auch nicht verantwortlich für mich, dann wird es natürlich sehr viel einfacher. Weil eigentlich erwarten wir vom anderen: "Du musst dafür sorgen, dass es mir gut geht." Und das ist natürlich der erste, tatsächlich sehr schwierige Punkt in Partnerschaften, weil dazu ist der andere nicht da.
[00:23:13] Lenne Kaffka Es kann ja auch passieren, dass ich im Streit jetzt einfach an den Kopf geknallt bekomme: "Ey, du hast doch Komplexe!" Wie geht man damit um?
[00:23:22] Daniel Reinemer Also, cool wäre es natürlich, wenn du das für dich reflektieren könntest, um nicht zurück zu schmeißen, um zu sagen: "Nee, aber du hast doch Komplexe!"
[00:23:29] Lenne Kaffka So wie ich es eben gemacht habe hier im Gespräch [lacht].
[00:23:33] Daniel Reinemer Ja, ja, klar. Du hast das natürlich ein bisschen als Verteidigung genommen, um zu sagen: "Moment mal, jetzt möchte ich nicht so viel über mich reden, weil du hast es doch auch." Aber ja, klar. Und dann muss man vielleicht im besten Fall sagen: "Ja, stimmt." Wenn man sich ein bisschen natürlich damit auseinandergesetzt hat, kann man sagen: "Ja, stopp mal, wir alle haben Komplexe. Und jetzt will ich irgendwie mal gucken, was hat mich denn jetzt gerade an dieser Situation in mir getroffen?" Das ist ja das Spannende zur Theorie. Wenn wir es dann schaffen zu sagen, was war dieser Reiz? Und in welche Schublade hat der gerade hinein gezeigt und die geöffnet und eigentlich alles auseinander geblasen, was da drin ist? Wenn man sich jetzt vorstellt, das sind lauter Papiere, und da steht das alles drauf, dann wird die eigentlich durch diesen Reiz einfach nur aufgerissen und raus gepustet. Und dann fliegt dieses ganze Papier herum und diese Emotionen ist so stark. Wenn wir aber dann merken: "Stopp mal, das ist doch logisch, der Reiz hat mich da getroffen, weil das und das früher passiert ist", habe ich eine ganz andere Einordnung, als dauernd die Mitmenschen dafür verantwortlich zu machen.
[00:24:32] Lenne Kaffka Wir haben jetzt eben über Liebesbeziehungen gesprochen. Du hast ja auch eine zwischenmenschliche Beziehung, eine ganz andere Art, eine professionelle Beziehung als Therapeut zu deinen Klienten, zu deinen Klientinnen. Ist es dir schon mal passiert, dass die irgendwelche Komplexe von dir angetriggert haben innerhalb eines Gespräches?
[00:24:47] Daniel Reinemer Das ist eine total gute Frage. Ich überlege, ob ich auch eine konkrete Situation habe. Ich denke ja. Also erstmal vielleicht, um das vorneweg zu sagen: Dafür ist natürlich unsere Lern-Analyse so wichtig. 300 bis 500 Stunden mussten wir nachweisen, die wir selbst zum Therapeuten gehen, ohne was zu haben, um irgendwie einigermaßen, irgendwie uns zu kennen. Wobei, das hört ja irgendwie nicht auf. Ich weiß es vielleicht ein bisschen mehr, aber das hört ja auch nicht auf. Das hilft aber natürlich, um mit jemandem, der gerade in seinem Komplex so stark gefangen ist, so umzugehen, um auch bei ihm zu bleiben, um nicht zu mir zu kommen. Meistens klappt das ganz gut, weil ich – und das ist das, was ich vorher meinte – vielleicht auch ein Stück Glück hatte, um jetzt keine schweren traumatischen Erlebnisse gehabt zu haben. Was es viel mehr macht, ist, dass ich vielleicht, wenn jemand ein ähnliches Thema hat, vielleicht wohlwollend aufgewachsen, dass ich da ein Stück weit näher dran bin und dann aber merke: "Okay, hier muss ich mich noch ein bisschen weiter zurückziehen, um nicht irgendwas von mir hineinzubringen." Das ist das, was wir nicht sollen und was wir natürlich auch nicht dürfen und was überhaupt keinen Sinn macht, weil sonst würden wir den Klienten irgendwas geben, was sie nicht brauchen.
[00:25:58] Daniel Reinemer Wir reden bis jetzt immer über Einzelpersonen. Ich bin Fußballfan und verfolge leider den HSV, ein Verein, der sich seit Jahren immer wieder auf ähnliche Weise zum Gespött macht. Ist denn eigentlich auch denkbar, dass man irgendwie so als Verein oder vielleicht auch als Fans, als Kollektiv so eine Art gemeinschaftlichen Komplex entwickelt?
[00:26:15] Daniel Reinemer Auf jeden Fall. Auf jeden Fall würde ich sagen, dass das so ist. Ich kann ein bisschen mitleiden, weil ich 60er Fan [TSV 1860 Rosenheim] bin und das ist ja hier noch schlimmer, noch schwieriger. Ich glaube, ich habe wahrscheinlich unbewusst die Strategie gewählt, mich gar nicht mehr so viel damit auseinanderzusetzen, wo die jetzt gerade stehen und was die machen. Nein, aber doch. Es kann das natürlich geben, dass es eine Art kollektive Komplexe gibt. Und das kann von einer sehr kleinen Struktur – über eine Gruppe, über eine Familie gehen, tatsächlich, in der Familie kann es schon beginnen – über vielleicht Fans von einem Fußballverein bis hin vielleicht auch zu einem ganzen Land, wo man sagt, okay, dieses Land hat vielleicht jetzt gerade einen Minderwertigkeitskomplex und braucht als Kompensation – das hört sich jetzt vielleicht ein bisschen komisch an – einen etwas starken Führer, zum Beispiel. Wenn wir jetzt zum Beispiel in die USA schauen und merken, was wird denn von einer politischen Führung erwartet? Dann wird da eigentlich im Moment wenig Fachliches erwartet, sondern eigentlich nur eine Demonstration von Stärke und weniger von Wissen oder politischer Raffinesse, sondern eigentlich ein sehr plumpes, starkes Auftreten. Es gab auch eine Studie, die tatsächlich untersucht hat, dass es in Ländern, in denen Menschen eher schwächer werden, also schwächer im Sinne von, eher das Gefühl haben, ich kann ja eh nichts tun, erwarten, dass ein Präsident oder wer auch immer das sein sollte, das für einen wieder lösen soll. Da sind wir wieder im selben Thema, wie wir vorher im Kleinen bei uns waren, zu sagen: "Mach du es für mich." So sind wir natürlich auch kollektiv in diesem Moment im Sinne von: "Der macht es für mich. Ich muss es gar nicht lösen. Und ich brauche einfach nur einen ganz Starken, der haut dann schon drauf, wenn es sein muss."
[00:28:00] Lenne Kaffka Ich habe mir online zwei Vorträge von dir angeschaut, und du hast beide Male ein Zitat von Carl Gustav Jung eingebaut: "Die größten Lebensprobleme sind nie auf immer gelöst. Ihr Sinn und Zweck scheint nicht in ihrer Lösung zu liegen, sondern darin, dass wir unablässig daran arbeiten." Müssen wir dann jetzt quasi resümieren: Wir können unsere Komplexe zwar erkennen, verstehen und in den Alltag integrieren, aber sie begleiten uns ein Leben lang.
[00:28:24] Daniel Reinemer Ich sage erst einmal, ja, aber ich weiß, ich ende manchmal gern mit diesem Zitat und weiß auch darum, dass es einen vielleicht ein bisschen frustrierenden Beigeschmack hat.
[00:28:37] Lenne Kaffka Total!
[00:28:39] Daniel Reinemer Ich versuch aber auch, dieses Zitat eher mit einem Lächeln zu zitieren und weniger mit einer getragenen Stimme, weil er sagt sogar noch, das hast du jetzt nicht zitiert, also das wahre Zitat am Ende ist noch, dass er sagt: "Wahrlich eine Aufgabe, die ans Mark geht."
[00:28:55] Lenne Kaffka Das stand, glaub ich, nicht auf der Folie.
[00:28:56] Daniel Reinemer Genau, das habe ich extra weggelassen, so [lacht]. Aber nein, ich finde, man kann da schon auch ein bisschen entspannter sein.
[00:29:03] Lenne Kaffka Okay, entspannter sein – was hilft mir denn, mit dieser Erkenntnis einfach besser klarzukommen und die vielleicht nicht als Last zu begreifen?
[00:29:10] Daniel Reinemer Dass es tatsächlich auch wieder eine Chance sein kann. Und zwar keine Last! Es muss ja keine Last sein, wenn ich merke, ich schaue mich paar Mal öfter im Spiegel an und weiß: "Okay, ich tue das, weil ich glaube, ich will geliebt werden." Und wenn man sich dann aber noch dazu sagen kann: "Moment mal, aber ich glaube, ich werde ja geliebt, und ich glaube, das passiert mir auch gerade in meinem Leben" – das ist damit gemeint. Eigentlich ist damit gemeint zu sagen: "Okay, ich nehme mich einfach ernst." Das Zitat würde ich ganz gerne anders verstehen, um jetzt nicht zu sagen, unablässig an euren Themen zu arbeiten und es hört nie auf. Und eigentlich könnte es eh schon lassen. Sondern eigentlich nur zu sagen: Nehmt euch einfach ernst. Schaut hin, schaut euch an. Und das ist tatsächlich etwas, was ich verstehe als, das sollte nie aufhören im Leben.
[00:29:57] Lenne Kaffka Weitere Erklärungen und Tipps gibt Daniel Reinemer in seinem Buch "Komplexe – und jetzt? Wie wir sie erkennen und mit ihnen leben". Und das war's mit Smarter leben für heute. Vor wenigen Tagen, am 5. Oktober, hat dieser Podcast übrigens seinen ersten Geburtstag gefeiert. Ein guter Anlass, um einfach mal Danke zu sagen, dass so viele von Ihnen hier Woche für Woche zuhören. Wir freuen uns wirklich darüber und auch über all das Feedback, das uns regelmäßig erreicht. Bei Anregungen oder Themenvorschläge können Sie immer gerne eine Mail schreiben an smarterleben@spiegel.de. Und die nächste Folge gibt es dann ab kommendem Samstag auch dann wieder überall, wo es Podcasts gibt – zum Beispiel bei Spotify oder Apple Podcasts. Diesmal wurde ich unterstützt von Philipp Fackler und Yasemin Yüksel. Unsere Musik kommt von audioBOUTIQUE. Tschüss, bis zum nächsten Mal.
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