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Das neue Schanghai Staatsbetrieb in Samt und Seide

Das Jin-Mao-Zentrum ist zwar im Besitz des Chinesischen Ministeriums für Außenhandel, aber alles andere als ein schwerfälliger sozialistischer Staatsbetrieb mit miesepetrigem Service und muffigen Mitarbeitern. Der schlanke Turm aus Glas und Stahl ist ein Symbol des Kapitalismus im modernen Schanghai.

Italienischer Marmor, edle Tropenhölzer und ein Art-Deco-Look mit exotischen Antiquitäten und moderner Kunst: Schanghais "Jin-Mao-Zentrum" im aufstrebenden Stadtteil Pudong ist mit 420,5 Metern Chinas höchster Wolkenkratzer. Der postmoderne Pfeiler soll mit den oben auskragenden Pagoden-Elementen den Aufbruch der Volksrepublik ins neue Millennium symbolisieren.

Wie eine Trägerrakete auf der Abschussrampe überragt die mattsilbrige Struktur das ultramoderne Finanz- und Bankenviertel am Südufer des Huangpu-Flusses: In den unteren Etagen als Geschäfts- und Büroturm genutzt, beherbergt es - vom 53. Geschoss aufwärts bis zur 86. Etage rund um ein gigantisches Atrium -, 555 Zimmer und Suiten des Grand-Hyatt-Hotels. Die Sechs-Sterne-Herberge ist damit, laut Guinness-Buch (Millenniumsausgabe), der Welt höchstes Luxushotel.

Mögen Westtouristen der 68-Generation im altbackenen Peace-Hotel noch dem Charme der "Rentner-Jazz-Band" erliegen, dem (noch) real-existierenden Schlendrian und dem leicht penetranten Petroleumgeruch von Terrazzo-Reiniger - das Jin-Mao-Zentrum steht für das künftige, dynamische Schanghai.

Vergangenheit und Zukunft liegen dicht beieinander: Von der Sky Lounge im obersten Stock mit dem passenden Namen "Cloud 9" wird beim Blick auf die Silhouette die Geschichte der Stadt überschaubar. Gegenüber liegt die Zeile von Banken, Reedereien und Hotels entlang der berühmten Uferstraße Bund.

Die pompösen Gebäude erinnern an den rasanten Aufstieg von Chinas größter Stadt, die schon vor der Jahrhundertwende als "Paris des Ostens" gerühmt wurde - und zugleich den zweifelhaften Ruf eines verruchten Sündenbabels genoss.

Dem Kaiserreich durch Krieg und die "ungleichen Verträge" abgerungen, siedelten sich Briten, Amerikaner und Frankreich in extra-territorialen Enklaven an und machten Schanghai zum Einfallstor der Kolonialmächte. In der Boom-Metropole machten Kapitalisten und Glücksritter Karriere, häuften Opiumhändler, Triadenbosse oder Warlords Reichtümer an; daneben existierte das millionenfache Elend ausgebeuteter "Ku-Lis" - wörtlich für: "Bittere Kraft".

Es existierte blanker Rassismus. Ein Schild am Bund verbat "Hunden und Chinesen" den Zutritt. Doch ironischerweise boten die Stadtteile unter internationaler Verwaltung - den so genannten Konzessionen - Oppositionellen wie Arbeiterführern zugleich Schutz vor Spionen und Greifern der regierenden Nationalisten: 1927 wurde in Schanghai die Kommunistische Partei Chinas gegründet.

Einmal an der Macht, misstrauten die roten Mandarine jedoch der Geburtsstätte ihrer Organisation; Schanghai blieb auch nach der Gründung der Volksrepublik 1949 behaftet vom Image der Dekadenz. Zwar wurden ausländische Unternehmer und chinesische Fabrikanten prompt enteignet, doch den asketischen Revolutionsführern in Peking galten die gewieften, urbanen Schanghaier als heimliche Verfechter eines bourgeoisen Lebensstils.

Das änderte sich nach 1990, mit der Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping. Plötzlich wurde Schanghai als südlicher Handel- und Dienstleistungsknotenpunkt wiederentdeckt. Dengs Nachfolger Jiang Zemin - selbst aus Schanghai - pumpte Milliardeninvestitionen in seine lang vernachlässigte Heimatstadt.

Seither erlebt Schanghai einen spektakulären Boom, spektakulärer als einst unter seinen kapitalistischen Machthabern.

Auf dem Areal im Herzen der Stadt - einst mondäne Pferderennbahn, dann martialischer Aufmarschplatz -, entstand das neue Rathaus, ein futuristischer Opernbau und das Schanghai-Museum; dank der eindrucksvollen Präsentation seiner Exponate Chinas derzeit vielleicht schönste Kunstsammlung.

Hotels und Hochhäuser entstanden, Straßen wurden mit hoch gelegten Trassen überbaut, das U-Bahnnetz renoviert und erweitert. Die überlastete Einkaufsmeile der Nanjing-Straße machten die Planer zur schmucken Fußgängerzone mit Restaurants und Straßencafes.

Doch erst mit der Entscheidung das gegenüberliegende Ufer des alten Stadtkerns für das weitere Wachstum zu erschließen, begann die jüngste Phase dynamischer Entwicklung. In Lujiazui, vor einem dutzend Jahren nicht mehr als ein marschiges Farmgebiet, entstand binnen kürzester Bauzeit Chinas modernste Hochhauslandschaft.

Angeschlossen durch einen Straßentunnel und eine automatische Pendelbahn, die Fußgänger - begleitet von einer futuristischen Lichtschau - binnen Minuten unter dem Huangpu-Fluss auf das Nordufer bringt, ist das neue Areal zugleich Schaufenster der Gegenwart und Vision der Zukunft.

Rund um den zentralen Park und den "Jahrhundert Garten" mit seinen überladenen, symbolstrotzenden Monumenten ragen Hotels, Banken und Büros in den Himmel, sind Börse, Fernsehturm und das Internationale Messezentrum angesiedelt. Fast Normalausstattung der Wolkenkratzer: Landeplätze für Hubschrauber.

Und das ist nur der Anfang. Im Januar startete Schanghai die nächste Ausbauphase: Auf 2260 Hektar Land soll, zu beiden Seiten des Flusses, ein weiteres Areal für Geschäftswelt und Tourismus entstehen. Mit dem "Jahrhundertprojekt" (so der offizielle Name) bewirbt sich Schanghai als Ausrichter für die Weltausstellung des Jahres 2010.

Das prestigeträchtige Ereignis wäre nicht nur die Salbung Schanghais zu Chinas wichtigstem Wirtschaftszentrum: Die etwa 50 Millionen Besucher versprechen auch Einnahmen in einer Höhe von 2,5 Milliarden US-Dollar.

Noch wirken Anlagen wie die Uferpromenade ein wenig seelenlos, der Trainingsplatz für Golfer ist unter der Woche ziemlich verwaist. Und trotz der Anhäufung von Brunnen, Plastiken und Blumenbeeten fehlt das pulsierende Leben der Altstadt oder der Kneipenmeile von Xin Tiandi. Doch die nächsten Erschließungsvorhaben sehen zugleich den Bau von Wohn- wie Geschäftsvierteln vor und die ersten modernen Apartmentblocks entlang des Huangpu sind bereits gebaut.

Hier wohnen nicht nur Überseechinesen und Ausländer, sondern vor allem die neue Generation junger, smarter und wohlhabender Chinesen: Manager, Finanziers, Unternehmer und Wirtschaftsberater, die das moderne Schanghai bisweilen schon dem wiedervereinigten Hongkong vorziehen.

"Kulturell bietet die Stadt mittlerweile so viel wie die ehemalige britische Kronkolonie", erzählt ein Investmentberater aus Peking, der in den USA studierte und vor zwei Jahren samt seiner Firma von Hongkong nach Schanghai umzog. Vom der Bar im 86. Stockwerk des Jin-Mao-Zentrums blickt er auf die funkelnde Kulisse des neuen Schanghai.

"Das hat nichts mehr zu tun mit Mao Tse-tungs Vision vom Sozialismus alter Prägung", sinniert er über einem trockenen Martini, "hier floriert der Kapitalismus und brummt das Leben."