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Taktikstreit im Tennis Der Schlag, über den das Establishment die Nase rümpft

Wie besteht man bei den French Open gegen Topfavorit Rafael Nadal? Ein Mittel könnten Aufschläge von unten sein. Doch der Schlag ist für Tennistraditionalisten ein Tabubruch.
Philipp Kohlschreiber bei den French Open

Philipp Kohlschreiber bei den French Open

Foto: Kenzo Tribouillard/ AFP

Es war ein Kampf David gegen Goliath, den die Tennisfans vor 30 Jahren im Stade Roland Garros bestaunten. Auf der einen Seite der dreifache French-Open-Champion Ivan Lendl, Beiname "der Schreckliche", die unangefochtene Nummer eins der Welt. Auf der anderen Michael Chang, 17 Jahre jung, von Krämpfen geschüttelt. Es ging in den fünften und entscheidenden Satz, Chang konnte kaum noch gehen - da griff er zu einer ungewöhnlichen Methode.

"Es dämmerte mir, dass ich etwas anders machen musste", erinnerte sich der US-Amerikaner in einer "New York Times"-Doku . "Also schlug ich von unten auf." Chang schnibbelte den Ball aus dem Unterarm ins Aufschlagfeld, ein Schlag, wie man ihn bis dahin nur vom Kindertennis kannte, Lendl stolperte ans Netz und wurde ausgekontert. Eine Majestätsbeleidigung. Und der Wendepunkt: Lendl verlor die Fassung, Chang gewann die Partie und das Turnier - bis heute ist er der jüngste Grand-Slam-Sieger der Geschichte.

Michael Chang nachdem sein Sieg über Ivan Lendl feststand

Michael Chang nachdem sein Sieg über Ivan Lendl feststand

Foto: Lionel Cironneau/ AP

Chang wurde damals für seinen Streich gefeiert, Martina Hingis zehn Jahre später für ihren verrutschten Versuch im Damenfinale gegen Steffi Graf ausgebuht. Weitere prominente Nachahmer fand der "Unterarm-Aufschlag" erstaunlicherweise nicht. Bis heute, da eine Kontroverse um den Kunstschlag entbrannt ist.

Am Montag trifft der deutsche Yannick Hanfmann in der ersten Runde der French Open auf Rafael Nadal (ab 12.30 Uhr; Eurosport überträgt die French Open live). Während der spanische Sandplatzkönig seinen zwölften Titel in Paris anstrebt, ist es für den 27-jährigen Hanfmann, Nummer 184 der Welt, der zweite Auftritt bei einem Grand-Slam-Turnier. Die Rollen sind verteilt. Aber zumindest gibt es eine Waffe, mit der man den großen Nadal zumindest piesacken kann: der übers Netz geschubste Aufschlag von unten.

Der Australier Nick Kyrgios, so etwas wie der Kontroversenbeauftragte der ATP Tour, hat dem Überraschungsschlag zum Comeback auf großer Bühne verholfen. Erstmals wandte der 24-Jährige den Kniff gegen Nadal an, im Februar in Acapulco. Den Punkt machte Kyrgios zwar nicht, aber er brachte Nadal aus dem Konzept - und gewann überraschend das Match.

Nick Kyrgios: Schlag aus dem Nichts

Nick Kyrgios: Schlag aus dem Nichts

Foto: Adam Pretty / Getty Images

In Zeiten, da sich Topspinspezialisten wie Nadal und Dominic Thiem, ein weiterer Titelanwärter in Paris, mehrere Meter hinter der Grundlinie für ihre wuchtigen Rückschläge in Stellung bringen, ist der ansatzlos und kurz servierte Schnibbler aus der Hüfte ein probates Mittel. Ein Schlag aus dem Nichts gegen Spieler, die den Aufschlag fast auf dem Zuschauerrang erwarten - bisweilen so weit hinter der Linie, dass sie bei TV-Übertragungen aus der Totalen entschwunden sind.

Aber natürlich rümpft das Tennis-Establishment die Nase.

Respektlos sei dieses Verhalten, mokierte sich Nadal später, Tennis-Traditionalisten pflichteten ihm in den Sozialen Medien bei. Kyrgios konterte nüchtern: "Ist es nicht das Ziel, den Ball dorthin zu bringen, wo der andere ihn nicht erreichen kann?" Außerdem verstoße die Aufschlagvariante nicht gegen die Regeln - im Gegensatz zu Nadals langen Pausen zwischen den Ballwechseln.

Kyrgios wiederholte die Taktik in weiteren Matches, mit zunehmender Raffinesse. Zuspruch bekam er von höchster Stelle: Für Altmeister Roger Federer ist der "Unterarm" eine legitime Taktik, "besonders wenn Jungs den Zaun umarmen. Man sollte sich nicht schämen, das auszuprobieren." Das Problem sei nur, so Federer, wenn man den Schlag verpatzt: Dann "sieht man dumm aus - aber warum sollte man es nicht versuchen?"

"Überrascht, dass es nicht mehr Spieler machen"

Ja, warum eigentlich nicht? Und warum eigentlich nicht öfter? Für die Erfolgstrainerin und Mutter des früheren Weltranglistenersten Andy Murray, Judy Murray, ist Kyrgios gar ein Genie: "Das Ziel im Tennis ist es, das Spiel deines Gegners zu stören, indem man Tempo, Spin, Richtung, Tiefe oder Höhe des Balls verändert", sagt Murray. "Ich bin überrascht, dass es nicht mehr Spieler machen."

Seinen Start bei den French Open sagte Kyrgios kurzfristig ab, offiziell krankheitsbedingt, nachdem er zuvor auf Instagram verkündet hatte: "The French sucks." Bedauerlich - gerne hätte man gesehen, wie Kyrgios, dem nichts heilig ist, den Sandplatzgöttern mit unorthodoxen Mitteln beigekommen wäre.

Ob er einen Trend gesetzt hat oder ob der "Unterarm" ein Tabubruch bleibt, wird sich schon heute zeigen. Auch Hanfmann überlege, gegen Nadal mal von unten aufzuschlagen, sagte er der "Süddeutschen Zeitung". Er sei sich allerdings unsicher, wie es ankommt bei Publikum und Gegner, wenn er den großen Nadal provoziere. Es braucht eben auch ein gewisses Maß an Kyrgios'scher Wurschtigkeit um so etwas durchzuziehen. Oder einen wie Maestro Federer, der den Trick zum Zauberschlag erhebt.