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Henrik Müller

Umbruch von Leben und Arbeit Stadt, Land, Covid

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Groß- und Megastädte gelten seit der Coronakrise nicht mehr als sehr attraktiv, sondern als ansteckend. Die Metropolen dürften deshalb zu den Verlierern der Pandemie gehören - und das flache Land.
Szene aus Niederwerth

Szene aus Niederwerth

Foto: Harmen Dijkstra / EyeEm / Getty Images

Ideen können ansteckend sein. Ein neuer Gedanke stößt den nächsten an. Dafür braucht es städtisches Leben: die Ballung vieler Menschen, die sich aneinander reiben. Nähe erzeugt Hitze - Inspiration, Provokation, Innovation, Imitation.

In der Ära der Globalisierung boomten die Städte. Groß- und Megastädte zogen immer mehr Menschen an, steigerten die Produktivität und befeuerten die Wirtschaft. So entstand ein weltumspannendes Netz aus Metropolen. Lebensstile und Konsummuster näherten sich an. Die Globalisierung spielte sich vor allem in und zwischen Metropolen ab. Die große Frage ist, was von alldem in der Covid-19-Ära übrigbleibt.

Plötzlich gilt die Ballung vieler Menschen nicht nur als anregend, sondern auch als ansteckend. Solange es keine verlässlichen Impfstoffe gibt, solange die Pandemie immer wieder aufflammt, sind Städte wieder potenziell lebensgefährliche Orte. Erinnerungen werden wach ans späte 19. Jahrhundert, als die rasch wachsenden Industriestädte berüchtigte Erregerzuchtanstalten mit hohen Sterblichkeitsraten waren.

Nun setzt abermals ein Erreger den Großstädten zu, sogar im wohlgeordneten Europa. Ihre Vorzüge - das pulsierende öffentliche und kulturelle Leben - haben die Ballungsräume während der Shutdowns und Lockdowns dieses Frühjahrs zeitweise verloren. Städtisches Leben war plötzlich reduziert auf häusliche Enge und hohe Lebenshaltungskosten. Keine sonderlich attraktive Kombination.

Zwar kehrt allmählich das öffentliche Leben zurück. Doch Einschränkungen bleiben, und sie können jederzeit wieder verschärft werden. Theater, Bars, Klubs, Partys - vieles ist geschlossen oder verboten. Der distanzierte Alltag mit Maske und die ständige Sorge um die Infektionsgefahr verdrängen die gewohnte Leichtigkeit des Daseins. Zugleich bleiben die Mieten hoch und Immobilien teuer. Die Straßen sind voll. Bürger, die U-Bahnen und Busse meiden und lieber mit dem Auto fahren, stehen genervt im Stau. Also lieber wegziehen?

Eine kleine Wohnung, vielleicht ein WG-Zimmer, aber nicht mehr der Lebensmittelpunkt

Fürs Arbeiten jedenfalls ist städtische Daueranwesenheit nicht mehr unbedingt notwendig. Wer nicht mehr täglich, sondern, dank Videokonferenzen, nur noch gelegentlich ins Büro in die Stadt pendeln muss, nimmt tendenziell größere Distanzen in Kauf. Social Distancing und Homeoffice machen die teuren Großstädte unattraktiver.

Neue Lebens- und Arbeitsmodelle werden realisierbar. Wohnen im weiteren Umland, mit gelegentlicher Anbindung an die Metropole, wo man vielleicht noch eine kleine Wohnung oder ein WG-Zimmer unterhält, aber nicht mehr den Lebensmittelpunkt. Neue Kombinationen von Arbeits- und Wohnort sind denkbar.

Dadurch verändert sich die ökonomische Geografie. Bereits in der Vergangenheit fielen ländliche Regionen immer weiter hinter die Metropolen zurück. Das Umland der Städte hingegen holte bereits im vergangenen Jahrzehnt gegenüber den Großstädten auf, wie die Industrieländerorganisation OECD voriges Jahr  in einem Report vorrechnete.

Die Coronakrise und ihre Folgen dürften diese Entwicklung weiter beschleunigen. Die Metropolen, die großen Gewinner der Globalisierung, werden in diesem Szenario relativ verlieren, während das Umland gewinnt - wobei der Umlandradius zunimmt.

Reisender im Berliner Hauptbahnhof

Reisender im Berliner Hauptbahnhof

Foto: Florian Gaertner / Photothek via Getty Images

Profitieren dürften gerade mittelgroße Städte in Metropolregionen, die bereits im vorigen Jahrzehnt zu den Gewinnern zählten, so das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in einer Untersuchung . Weiter abgelegene Gegenden jedoch werden weiter zurückfallen. Entwicklungen, die erhebliche Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik haben werden.

Es gab historisch immer ein Auf und Ab der Städte

Historisch betrachtet wechselten sich immer wieder Phasen des städtischen Wachstums und der Schrumpfung ab. In der Antike hatte Rom zeitweise rund eine Million Einwohner - bis wiederkehrende Seuchen und Klimaveränderungen ab dem zweiten Jahrhundert allmählich den Niedergang des imperialen Zentrums ankündigten, wie der Historiker Kyle Harper in seinem Buch "Fatum" darlegt. Danach begann mit dem heraufziehenden Mittelalter in Europa eine lange Ära der Metropolenschrumpfung - und der jahrhundertelangen wirtschaftlichen Stagnation. 

Später ließ die Industrialisierung im späten 18. und im 19. Jahrhundert die Städte sprunghaft wachsen. Millionen Menschen ließen das Landleben hinter sich und versuchten sich als Industrie- und einige auch als Geistesarbeiter.

Die moderne Metropole war nun nicht mehr nur Verwaltungs- und Repräsentations-, sondern zuvörderst Produktions- und Innovationsstandort. Die Großstadt mit ihrer "Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen", wie der deutsche Philosoph Georg Simmel 1903 bewundernd schrieb, fördere den "intellektualistischen Charakter des großstädtischen Seelenlebens": die Stadt als Keimzelle des Geistes, des Neuen - als Innovationsgenerator für den Rest der Gesellschaft.

Zugleich erkannte Simmel einen "tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben", wo der langsame Rhythmus des "sinnlich-geistigen Lebensbildes" eine Haltung fördere, die eher auf "Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen gestellt ist". Bis heute ist die mentale Ungleichzeitigkeit von Stadt und Land einer der prägenden gesellschaftlichen Konflikte.

Das Wachstum der Städte ist kein unumkehrbarer Prozess. In den Siebzigerjahren und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts stagnierten die Zentren, gerade die schrumpfenden Industriestandorte. Einwohner gingen weg, kaum jemand zog hin. Wer es sich leisten konnte, siedelte ins Umland oder an den Stadtrand um. "Suburbanisierung" wurde über Jahrzehnte zum prägenden Trend westlicher Gesellschaften.

Erst die Globalisierung und der Übergang zur Wissensgesellschaft ließen die Städte abermals aufblühen. Ballungsräume mit einer kritischen Masse an Technologie, Kultur und Zerstreuung sollten entstehen, entsprechend gefördert von Politik und Staat. Orte, an denen sich alles konzentrierte: Kapital, Kultur sowie Zuwanderer aus dem In- und Ausland. "Talente, Technologie und Toleranz" seien die neuen Erfolgsfaktoren, predigte der Ökonom Richard Florida. Viele Standortpolitiker, auch in Deutschland, machten sich dieses Mantra zu eigen.

Nun könnte die Pandemie den Metropolen abermals schwer zusetzen. Noch steigen die Immobilienpreise in Deutschland - aber in den sieben größten Metropolen haben sie nach Angaben des Statistischen Bundesamts  zuletzt langsamer zugelegt als im Bundesschnitt. Noch schwächer sind die Wertzuwächse in dünn besiedelten ländlichen Regionen. Währenddessen profitieren mittlere Städte und das Umland der Metropolen.

Wohin führt diese Entwicklung? Hier sind vier vorläufige Schlussfolgerungen.

Digitale Reibungswärme?

  1. In den Großstädten wird es ruhiger. Abwanderung und sinkende Touristenzahlen sorgen für eine gewisse Entspannung. Für gestresste Ansässige, die in den vergangenen Jahren von Überfüllung und rapide steigenden Kosten genervt waren, eine angenehme Entwicklung. Ob sich diese Entwicklung auch in den Preisen für Wohnimmobilien niederschlägt, ist offen. So rechnen die Ökonomen der Schweizer Bank Safra Sarasin mit weiter steigenden Immobilienbewertungen in Deutschland, einfach, weil es für Sparer in Zeiten großer Unsicherheit und ultra-niedrigen Zinsen kaum alternative Geldanlagen gibt.

  2. Der Innovationskraft der Metropolen droht eine Schwächephase. Bislang waren sie Begegnungsorte mit dem und den Fremden, was die Kreativität befeuerte. Ob sich soviel Reibungswärme auch mit den durchdigitalisierten Arbeitsweisen verstreut arbeitender Wissenswerktätiger erzielen lässt, muss sich noch erweisen.

  3. Der Gegensatz zwischen Stadt und städtischem Umland einerseits und ländlichen Regionen andererseits dürfte sich weiter verschärfen. Die mentale Ungleichzeitigkeit von Stadt und Land, die schon Georg Simmel erkannte, dürfte einer der prägenden gesellschaftlichen Konflikte bleiben. Periphere Regionen mit rapidem Bevölkerungsverlust werden in den kommenden Jahrzehnten noch mehr verlieren. Das gilt für Ostdeutschland, Teile Norddeutschlands, aber auch etwa für weite Teile Frankreichs. Der Frust des flachen Landes hat sich bereits in den vergangenen Jahren in allerlei antielitären - und das heißt auch: antimetropolitanen - Protestbewegungen niedergeschlagen -, von den Brexiteers in Großbritannien über die Gelbwesten in Frankreich bis zur deutschen AfD. Solche kulturellen Stadt-Land-Konflikte dürften eher zu- als abnehmen.

  4. Ländlichen Regionen im weiteren Umland von Metropolen eröffnen sich neue Chancen. Standorte in kleineren Städten in Pendeldistanz werden für Spezialisten wieder attraktiver, was Deutschlands Mittelstand, der oft abseits der Metropolen beheimatet ist, der unter chronischer Personalknappheit leidet, helfen dürfte.

Kurzum: Deutschland könnte kleinstädtischer werden, vielleicht auch etwas provinzieller. Ob es wohlhabender und zufriedener wird, ist eine andere Frage.

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Brüssel - Nach dem Brexit - Start einer weiteren Verhandlungsrunde zwischen der EU und Großbritannien. Es geht um ein umfassendes Wirtschaftsabkommen, das das Verhältnis beider Seiten nach dem Ende der Übergangsphase ab 2021 regeln soll. 

Tokio - Corona-Rezession - Japans Statistiker legen Zahlen zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal vor. Erwartet wird eine heftige Schrumpfung.