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Soziologie Leistung lohnt sich eben nicht

Eigentlich soll das Leistungsprinzip Statusunterschiede erklären: Wer mehr leistet, verdient auch mehr. Tatsächlich wird genau dieser Grundsatz immer weiter ausgehöhlt. Soziologen warnen vor einem kollektiven Selbstbetrug.
Luxusmesse in München (Archivbild): "Keine objektive Lösung für Verteilungsgerechtigkeit"

Luxusmesse in München (Archivbild): "Keine objektive Lösung für Verteilungsgerechtigkeit"

Foto: Andreas Gebert/ picture-alliance/ dpa

Ob Popstars, Sportler oder Topmanager – die Skala der Gehälter von Spitzenverdienern scheint nach oben offen zu sein. Im Jahr 2018 verdiente das Vorstandsmitglied eines Dax-Konzerns im Schnitt 52-mal so viel wie ein durchschnittlicher Angestellter. Absoluter Spitzenverdiener unter den Managern der Dax-Unternehmen war der damalige SAP-Chef Bill McDermott mit einem Jahresgehalt von rund 10,8 Millionen Euro.

Blickt man in die Welt des Sports, sind die Einkommen noch schwindelerregender. Der deutsche Fußballprofi Mesut Özil wurde 2019 in der "Forbes"-Liste  der bestbezahlten Sportler mit einem Gehalt von über 30 Millionen Dollar aufgeführt. Formel-1-Fahrer Sebastian Vettel erhielt sogar gut 40 Millionen.

Dass Ballsportler und Rennfahrer mehr als tausendmal so viel verdienen wie eine Krankenschwester  oder ein Polizist , legt die heutige Ungleichheit der Einkommen besonders drastisch offen. Doch Lohnunterschiede, die als ungerecht empfunden werden, beschränken sich nicht auf die Ausnahmegehälter Prominenter. Warum ein Altenpfleger so viel weniger verdient als ein Bankkaufmann, warum die Einnahmen eines Radiologen jene des Hausarztes um ein Vielfaches übersteigen oder warum Männer im Schnitt noch immer mehr verdienen als Frauen, ist nur schwer vermittelbar. Hinzu kommen leistungslose Gewinne durch Erbe oder Kapitalerträge, von denen nur Einzelne profitieren.

Nichts scheint denn auch die Menschen in Deutschland so sehr zu besorgen wie die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Wenn man sie befragt, welches Problem die Wirtschafts- und Sozialpolitik am dringendsten angehen sollte, lautet die Antwort am häufigsten: die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen. Im SPIEGEL-Wirtschaftsmonitor belegt dieses Thema von Anfang an ununterbrochen den ersten Platz - noch vor Fragen des Umweltschutzes.

Früherer SAP-Chef Bill McDermott (Archivbild): Spitzenverdiener unter den Dax-Vorständen

Früherer SAP-Chef Bill McDermott (Archivbild): Spitzenverdiener unter den Dax-Vorständen

Foto: DANIEL ROLAND/ AFP

Das Unbehagen vieler Menschen über zunehmende Statusunterschiede erklären Sozialwissenschaftler damit, dass Spitzengehälter, Börsenprofite oder Millionenerbschaften dem sogenannten Leistungsprinzip widersprechen. Dieses Prinzip existiert seit Beginn der modernen kapitalistischen Gesellschaft und lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Nur wer mehr leistet, soll mehr verdienen.

"Die Frage ist immer: Weshalb verdienst du mehr als ich und wie ist das gerechtfertigt? Diese Quelle potenzieller Konflikte muss stillgestellt werden", erklärt der Sozialwissenschaftler Claus Offe. Die moderne Gesellschaft gehe deshalb von der Fiktion aus, dass man ein Ranking zustande bringen könne zwischen wertvoller und weniger wertvoller Arbeit. "Das kann man, wenn man genau überlegt, schwer rechtfertigen. Aber es ist eine soziale Tatsache – und zwar eine ganz elementare."

Auch Sighard Neckel, Soziologe an der Universität Hamburg, nennt das Leistungsprinzip eine "Basisnorm", weil es dazu diene, soziale Ungleichheit zu legitimieren. "Natürlich ist es noch nie so gewesen, dass sich Leistungsanstrengungen real in angemessenen Einkünften abbilden, das ist nicht die Frage", so Neckel. Aber es gebe eben doch Vorstellungen von angemessenen Größenordnungen, die in bestimmten gesellschaftlichen Kulturen entstünden.

"Wenn Sie auf den Jahrmarkt gehen und Sie ziehen ein Gewinnerlos, wird Ihnen niemand auf die Schulter klopfen und sagen: 'Das ist aber eine prima Leistung gewesen.'"

Sighard Neckel, Universität Hamburg

Aber was ist eigentlich Leistung? Könnte nicht auch ein Spekulationsgewinn an der Börse als Leistung gelten? Nein, sagt Neckel, der Begriff sei zwar schwer bestimmbar, aber nicht beliebig. Mit Leistung sei stets ein beabsichtigtes Handlungsergebnis gemeint. "Wenn Sie auf den Jahrmarkt gehen und Sie ziehen ein Gewinnerlos, wird Ihnen niemand auf die Schulter klopfen und sagen: 'Das ist aber eine prima Leistung gewesen.' Es handelt sich um Zufall oder Glück." In der gesellschaftlichen Wahrnehmung stünden deshalb gerade Börsengewinne unter einem Begründungsdruck, weil sie die unbewusste Anforderung an den Leistungsbegriff – dass es sich um das Ergebnis einer beabsichtigten Tätigkeit handelt – verletzten.

Außerdem sei echte Leistung nur dann gegeben, wenn man seine erworbenen Kenntnisse oder Fähigkeiten selbst anwendet. "Menschen, die nur die Fähigkeiten anderer einsetzen, um dafür aber hohe Erträge zu bekommen, die stehen vor dem Problem, dass ihnen das eigentlich nicht richtig als Leistung angerechnet wird", sagt Neckel.

Und schließlich werde mit Leistung etwas gesellschaftlich Nützliches verbunden. "Ein Banküberfall kann in einem technischen Sinne eine brillante Leistung gewesen sein. Trotzdem würden wir den Banküberfall höchstens in einem ironischen Sinne als eine Leistung bezeichnen, weil der Banküberfall kein gesellschaftlich nützliches und erwünschtes Ergebnis hat." So hätten die Finanzmärkte vor 2008 zwar hohe Einkünfte ermöglicht, seien aber gleichzeitig eine entscheidende Ursache für die Finanzkrise gewesen.

Reinigungskraft im Bundestag (Archivbild): "Wenn die Bereitschaft, diese Arbeit auszuführen, selten wäre, dann würden die so viel verdienen wie Ärzte"

Reinigungskraft im Bundestag (Archivbild): "Wenn die Bereitschaft, diese Arbeit auszuführen, selten wäre, dann würden die so viel verdienen wie Ärzte"

Foto: Peter Kneffel/ picture-alliance/ dpa

Wer sich also über Managergehälter oder Sportlereinkünfte echauffiert, der hat mit großer Wahrscheinlichkeit Zweifel daran, dass diese Kriterien erfüllt sind oder dass die erbrachte Leistung mit der Entlohnung in einem angemessenen Verhältnis steht. Kurzum: Das Leistungsprinzip ist dann aus Sicht vieler Menschen nicht ansatzweise erfüllt.

Und das ist zunächst einmal problematisch: Denn der Glaube an eine vermeintliche Leistungsgerechtigkeit hat stets dabei geholfen, gesellschaftliche Verhältnisse zu stabilisieren. Fällt er weg, treten Vorbehalte an seine Stelle. "Dann entstehen Ranküne, Verschwörungen, geheime Machenschaften oder Betrug", sagt Neckel. "Und es breitet sich die Überzeugung aus, dass es eben nicht auf erbrachte Leistung ankommt, sondern darauf, in welche Familie ich geboren wurde, ob ich Vermögen habe und ob ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war."

Allerdings könnte diese Situation auch dazu anregen, das Leistungsprinzip an sich zu hinterfragen. Für Offe, der bereits in den Siebzigern über die Leistungsgesellschaft promovierte, ist die Sache schon lange klar: Er bezeichnet das Leistungsprinzip als Ideologie, als "eine scheinhafte und nicht weiter hinterfragte Selbstverständlichkeit". Bereits die Definition dessen, was Leistung sein soll, sei letztlich viel zu vage. Je genauer man hinschaue, "desto weniger klare Kriterien und objektivierbare Standards" gebe es.

"Dann kommt man auf den Gedanken, dass es Marktmacht ist, die die Höhe des Status bestimmt"

Claus Offe, Hertie School

"Das Leistungsprinzip birgt kettenweise Probleme, die alle in Watte gepackt werden, weil man weiß, dass es sowieso keine objektive Lösung für Verteilungsgerechtigkeit gibt", sagt Offe. "Und wenn man das weiß, dann kommt man auf den Gedanken, dass es Marktmacht ist, die die Höhe des Status bestimmt." Nicht die tatsächliche Tätigkeit der Arbeitskräfte sei also maßgeblich für die Bewertung der Leistung, sondern das Marktgeschehen.

Als Beispiel nennt Offe schlecht bezahlte Reinigungskräfte. "Büroreinigung findet morgens zwischen fünf und acht Uhr statt und ist oft mit unerfreulichen Arbeitsbedingungen verbunden. Wenn man diese Belastung einrechnen würde, dann wäre die Arbeit äußerst wertvoll." Stattdessen drücke jedoch die Vielzahl der Anbieter auf den Preis. "Wenn die Bereitschaft, diese Arbeit auszuführen, selten wäre, dann würden die so viel verdienen wie Ärzte", meint Offe.

Für die Zukunft kann Neckel keine Trendwende erkennen. "Es ist einfach ein Resultat der globalen gesellschaftlichen Entwicklung, dass heute Kapital erheblich bessere Verwertungsbedingungen findet als die menschliche Arbeitskraft", sagt er. Dadurch werde die Kluft zwischen den Vermögenden und dem Durchschnitt weiter wachsen.

Anhänger eines Grundeinkommens kippen Münzen auf dem Bundesplatz in Bern aus (Archivbild): Alternative Verteilung des Reichtums

Anhänger eines Grundeinkommens kippen Münzen auf dem Bundesplatz in Bern aus (Archivbild): Alternative Verteilung des Reichtums

Foto: Denis Balibouse/ REUTERS

Allerdings sei gleichzeitig zu erwarten, dass neue kritische Denkansätze entstehen. "Natürlich führt all das auch zu einer gesellschaftlichen Wahrnehmung, die sagt: 'Ja, wenn diese Verteilung des Reichtums im Grunde willkürlich ist, dann kann sie natürlich auch auf eine andere Weise vonstattengehen'." Ein Beispiel sei das Konzept eines garantierten Grundeinkommens, so Neckel. "Dahinter steht die Vorstellung, dass wir Einkünfte brauchen, die sich von Leistungserbringung abkoppeln, weil Leistungen so entwertet sind, dass sie für den Lebensunterhalt, für ein anständiges, gutes Leben mitunter nicht ausreichen."