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Zufallsfund in Nürnberg Archäologen graben riesigen Pestfriedhof aus

Bei einer Routineuntersuchung stieß ein Grabungsteam auf die Überreste von mehr als tausend Menschen. Sie waren vom Schwarzen Tod dahingerafft worden. Die Entdeckung könnte ein Glücksfall für die Forschung sein.
Grabungstechniker beim Ausgraben von Skelettteilen: »Ein Anblick, wie er sich auch Archäologen nur selten bietet«

Grabungstechniker beim Ausgraben von Skelettteilen: »Ein Anblick, wie er sich auch Archäologen nur selten bietet«

Foto: Maria Bayer / DER SPIEGEL

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Die Archäologen rechneten nicht mit besonderen Entdeckungen, als sie Mitte August zu einer Fläche an der Großweidenmühlstraße in Nürnberg ausrückten. Dort sollte ein Seniorenheim gebaut werden. In historischen Quellen gab es vereinzelte Hinweise, dass sich auf dem Areal Reste einer Grenzanlage aus dem Dreißigjährigen Krieg befinden könnten. Die sollten vor Beginn der Bauarbeiten dokumentiert werden. Auch Überbleibsel eines ehemaligen Kinderheimes, das dort im 19. Jahrhundert stand, könnten noch im Erdreich stecken, so vermuteten die Forscher.

Doch die Experten täuschten sich. Sie entdeckten nicht nur Reste der Festung und des Heims, sondern auch ein gewaltiges Massengrab mit Pestleichen aus dem 17. Jahrhundert. Fast 650 Skelette hat das Team bereits freigelegt, Hunderte weitere werden in den nächsten Wochen wohl folgen. Ein Rekord: Noch nie wurden an einem Ort in Europa so viele Überreste von Pestopfern ausgegraben.

Kniend zwischen Knochen

Archäologe Julian Decker, Chef der zuständigen Grabungsfirma »In Terra Veritas« aus Bamberg, steuert auf dem Grabungsgelände ein weißes Zelt an und schiebt eine Plane zur Seite. Sie gibt den Blick auf die Teilfläche frei, die in diesen Tagen ausgegraben wird. Fünf seiner Leute knien dort oder hocken auf allen vieren, um sie herum Schädel, Wirbelsäulen, Becken, Oberschenkelknochen und andere Skelettreste. »Ein Anblick, wie er sich auch Archäologen nur selten bietet«, sagt Decker, »da kommt ein Toter nach dem anderen raus.«

In einer Ecke pinselt ein Student, der das Team verstärkt, vorsichtig die zarten Überbleibsel eines Neugeborenen frei, die im feuchten Boden konserviert wurden. Eine Kollegin fertigt eine Zeichnung an, um später am Computer die Lage aller Toten genau rekonstruieren zu können. Ein Grabungstechniker befreit einen Schädel aus dem Boden und legt ihn in eine Plastikkiste. Alle Leichen sind mit kleinen Schildern versehen, auf denen Nummern stehen. Etliche der Knochen sind beschädigt – Folge der Bomben, die während des Zweiten Weltkriegs in der Nachbarschaft niedergingen und Druckwellen durchs Erdreich schickten. Außerdem sind viele Skelettteile auffällig grün, weil auf dem Gelände auch Abfall einer benachbarten Kupfermühle entsorgt wurde.

Schädel aus dem Massengrab: Viele Knochen sind grün gefärbt, weil auf dem Gelände auch Abfall aus einer Kupfermühle entsorgt wurde.

Schädel aus dem Massengrab: Viele Knochen sind grün gefärbt, weil auf dem Gelände auch Abfall aus einer Kupfermühle entsorgt wurde.

Foto: Maria Bayer / DER SPIEGEL

»Der Fund hat uns alle total überrascht«, sagt Melanie Langbein vom Nürnberger Denkmalschutz. Das Stadtarchiv kennt bisher keine Dokumente, die das Massengrab hinter der ehemaligen Stadtmauer erwähnen. Der einzige Hinweis bezieht sich auf ein Pestspital in der Nähe des Fundortes. Langbein glaubt allerdings, dass auf dem Areal nicht nur Tote aus dem Spital vergraben wurden, sondern auch Leichen, die man in der Stadt fand. Es ist bekannt, dass während der einzelnen Pestwellen städtische Mitarbeiter Karren durch die Stadt zogen und alle Menschen einsammelten, die zu Hause oder auf den Straßen verstorben waren.

Am Massengrab gaben sich die Lieferanten keine sonderliche Mühe: Die Toten wurden nicht, wie nach christlichem Ritus eigentlich üblich, flach auf dem Rücken liegend und mit gefalteten Händen in Ost-West-Richtung vergraben. Sondern so, wie es gerade passte: Der Platz musste möglichst gut ausgenutzt werden, außerdem sollten die Leichen, die als ansteckend galten, so schnell wie möglich verschwinden. Kinder wurden teilweise in die Lücken zwischen Erwachsenen gepresst. Auf einer Teilfläche entdeckten die Experten sieben Schichten Tote übereinander. Einige der Leichen waren nur in ein Tuch gewickelt, andere bekleidet. Deswegen fanden die Archäologen auch etliche Knöpfe, Haken, Ösen und Schnallen, die von Wamsen und Hosen stammen.

Der Schwarze Tod machte keine Ausnahmen

Die Pest schlug in Nürnberg während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit viele Male zu. Langbein ist sich nach einer Altersbestimmung eines Knochens durch die Radiokarbonmethode und dem Fund zweiter Münzen aus den Jahren 1619 und 1621 »ziemlich sicher«, dass das Massengrab aus der Welle von 1632/33 stammt. Dank zeitgenössischer Dokumente wie sogenannter »Totengeläutbücher« lässt sich gut rekonstruieren, wie viele Menschen starben. Eine Quelle nennt eine sehr genaue Zahl: Es seien damals in der Stadt genau 15.661 Menschen dem Bakterium Yersinia pestis zum Opfer gefallen – weit über ein Drittel aller Einwohner.

Knochen von Menschen aller Altersgruppen: »Eine riesige Chance für die Forschung«

Knochen von Menschen aller Altersgruppen: »Eine riesige Chance für die Forschung«

Foto: Maria Bayer / DER SPIEGEL

Der Schwarze Tod tötete Arme wie Reiche, Männer wie Frauen, Junge wie Alte. Anders als auf normalen Friedhöfen oder in Massengräbern, die etwa nach Schlachten angelegt wurden, sei man daher auf einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung gestoßen, sagt Langbein. Es lägen nicht nur vor allem Alte, Kleinkinder oder ehemalige Soldaten auf dem Areal, sondern Menschen aller Altersgruppen und aus allen Schichten.

Eine ausführliche anthropologische und archäogenetische Untersuchung der Knochen und Zähne könne also helfen, viele Fragen zum Allgemeinzustand der Menschen zu beantworten: Wie war es um die Ernährung bestellt? Welche körperlichen Leiden grassierten? Kümmerten sich die Menschen um ihre Zähne? »Das Massengrab ist eine riesige Chance für die Forschung«, sagt Archäologe Decker, »es kann uns helfen, das Leben und Leiden der Menschen des 17. Jahrhunderts noch besser zu verstehen.

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